Anne Dufourmantelle, Tochter eines englisch-schweizerischen Vaters und einer französischen Mutter, verbrachte als Kind einige Jahre in Spanien und später auch in Mittelamerika. Hier wurde Spanisch zu ihrer Lieblingssprache. Diese Stationen ihrer Jugend weckten ihr Interesse an Exilliteratur und Denkern, die andere Grenzen überschreiten. Nachdem sie ihr Abitur mit Bestnoten absolviert hatte, entschied sie sich für ein Studium der Medizin und Philosophie in Paris. 1993 promovierte sie an der Sorbonne. Ihre Dissertation mit dem Titel La vocation prophétique de la philosophie (Die prophetische Berufung der Philosophie) beschäftigte sich mit Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Emmanuel Levinas und Jan Patočka. Einige Jahre später wurde ihre Arbeit von den Éditions du Cerf veröffentlicht, und sie erhielt den Preis der Académie Française für Philosophie.
Während ihres Studiums an der Sorbonne verbrachte sie ein Jahr an der Brown University in den USA. Dort übersetzte sie Nelson Goodmans Languages of Art und schrieb einen Aufsatz mit dem Titel The Structure of Appearance, auf dessen Grundlage sie nach der Rückkehr nach Frankreich an der École Nationale Supérieure d’Architecture de Paris La Villette für fünf Jahre ein Seminar zum Thema Ästhetik und „Thinking Architecture“ hielt. Danach war sie als Verlegerin für Calmann-Levy tätig, wo sie für Literatur auf dem Gebiet der Philosophie zuständig war und mehr als 50 Bücher betreute. Dann übernahm sie dieselbe Funktion bei Stock (ebenfalls bei Hachette).
Nach ihrer Promotion entschied sie sich, sich der Psychoanalyse zuzuwenden, statt Philosophie zu unterrichten. Sie veröffentlichte Bücher wie La sauvagerie maternelle („Die mütterliche Gewalt“) und La femme et le Sacrifice („Die Frau und das Opfer“).
Aufbau Verlag 978-3-351-03732-1 , 20,00 €
„Das Risiko ist der alles entscheidende Augenblick.“ Anne Dufourmantelle.
Im Risiko, im Unvorhersehbaren liegt eine ungeahnte Kraft. Wenn wir etwas wagen, ohne zu wissen, wo es uns hinführt, können wir nur gewinnen: Handlungsräume, Kreativität und Selbstbestimmung. Das größte Risiko unseres Lebens ist und bleibt die Liebe. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle hat stets nach dieser Maxime gelebt. Als sie im Sommer 2017 zwei Kinder vor dem Ertrinken rettete, hat sie ihr eigenes Leben riskiert – und verloren. Dieses Buch ist ihr Appell, die Fenster aufzureißen, um das Ungewisse in unser Leben zu lassen.
Hanimann sagt über dieses Buch im Deutschlandfunk: Das ist im Grunde ein Stück Schizophrenie in unserer Situation. Auf der einen Seite eben: Es kann nie sicher genug sein – Versicherungsgesellschaften verdienen sehr viel Geld mit diesem Reflex, immer auf Nummer Sicher zu gehen. Aber wahrscheinlich gerade dadurch, dass man praktisch die Leere dahinter spürt, wenn für alles vorgesorgt ist, wenn alles vorgeplant ist, abgesichert. Was ist dann Leben überhaupt, lohnt es sich überhaupt dann noch zu leben? Wird man dann nicht ein Apparat, der sich praktisch so abspult bis zu seinem Ende. Und daher gleichzeitig das Suchen nach riskanten Erfahrungen – weiß ich was: im Paddelboot über ein Meer fahren oder sich in die Wüste irgendwie aussetzen, die ganzen Absicherungsmechanismen unseres Alltags kappen und sehen, wie weit man es bringt. Also diese beiden Pole, die wir nicht mehr zusammenbringen in unserem Leben, die wir beide spüren permanent, die versucht sie reflektierend wieder zusammenzubringen, indem sie im Grunde das eine und das andere Extrem – absolute Sicherheit und frivole Sprünge ins absolut Außerordentliche – untergräbt und eine alltägliche Risikobereitschaft zurückfindet.
„Ihre Worte, ihre Intelligenz, ihre Sanftheit werden uns fehlen, weil sie uns halfen, das Risiko einzugehen, sich anderen und der Welt gegenüber zu öffnen.“ Libération.
„In ihren Arbeiten verband Dufourmantelle auf vornehmste Art philosophisches Denken mit gesellschaftlicher Realität.“ Süddeutsche Zeitung.
Bei Brinkmann & Bose sind bisher zwei Bände ihrer Werke in sehr schönen Ausgaben erschienen:
Blind date
978-3-940048-37-0 24.- €
Blind date so heißt ein Rendezvous zwischen zweien, die sich nicht kennen und bereit sind, einander zu lieben, organisiert durch einen Dritten, der beide kennt und nicht dabei ist. Auch dies Zusammenkunft beginnt also mit dem Staunen, wie die Philosophie, hofft der Seele zu dienen. Sex und Philosophie meiden sich freiwillig seit jeher, wer weiß...vielleicht weil sie dieselbe Natur haben, beide sind sie die Verwirklichung des Wesentlichen: des Begehrens und der Kontemplation.
Macht der Sanftheit
978-3-940048-38-7 20.- €
Sanftheit ist rätselhaft. In der doppelten Bewegung von Empfang und Gabe begriffen, erscheint sie auf der Schwelle jener Passagen, die von Geburt und Tod gezeichnet sind. Weile sie eine graduelle Intensität hat, ist sie eine symbolische Kraft; weil sie fähig ist, die Dinge und Wesen zu transformieren, ist sie eine Macht.
Im Herbst 2021 wird noch folgendes Buch bei Brinkmann & Bose erscheinen:
Im Fall der Liebe
978-3-940048-42-4
Es handelt sich um Protokolle über außergewöhnliche und abweichende Erfahrungen der Analyse, in Form einzelner Fallgeschichten. Immer, wenn es um Wiederholung und Geheimnis geht, wird der direkte Draht zur Philosophie hergestellt. Es sind Randgänge der Psychoanalyse.
Anne Dufourmantelle sagte über sich selbst: „Ich bin schon immer gleichermaßen auf zwei Gebiete fokussiert, Philosophie und Psychoanalyse, wobei eine sehr leidenschaftliche Verbindung zur Literatur meine wichtigste Inspirationsquelle für Arbeit und Leben ist.“
Die Übersetzung ihres 168-seitigen Essays „Verteidigung des Geheimnisses“ (Diaphanes 2021) erreichte auf Anhieb Platz 9 der Sachbuchbestenliste September 2021. Es geht darin um die "Schutzmauer, Quelle innerer Freiheit", die die Verteidigung der Privatsphäre gemäß ihr bedeutet.
ANNE DUFOURMANTELLE.
DIE VERTEIDIGUNG DES GEHEIMNISSES
Diaphanes Verlag 2021, 20.00 €
Muss man alles zeigen, alles sehen, sagen und kennen? Angesichts eines immer blinderen Vertrauens in den Nutzen von Wissen und Information und entgegen der scheinbar unabweisbaren Forderung nach Transparenz auf allen Gebieten, verteidigt Anne Dufourmantelle das Geheime, das Verborgene, das Ungewusste und Rätselhafte als unverzichtbare Ressource menschlicher Existenz. Ebenso behutsam wie eindringlich entwirft sie Elemente einer Ethik des Geheimnisses im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Kontrolle und privater Sphäre jedes Einzelnen.
Anne Dufourmantelles Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Geheimnis als Schutzmauer des Eigenen und lebenswichtige Quelle innerer Freiheit sowie ein Manifest für ein noch nicht entzaubertes Wissen als notwendiger Horizont einer umfassenderen Wahrheit.
Sie war Philosophin und Psychonalytikerin. Für ihre Promotionsschrift »Die prophetische Berufung der Philosophie« erhielt sie den Preis der Académie Française. Anstelle indes Philosophie zu unterrichten, wandte sie sich der Psychoanalyse zu. Zudem war sie als Programmleiterin bei mehreren renommierten Verlagen tätig. In ihren zahlreichen, ebenso allgemeinverständlichen wie brillanten Büchern thematisiert sie Fragen von Kindheit und Mutterschaft, Philosophie und Sexualität, Zärtlichkeit und Risiko.
Ihr früher Tod im Jahr 2017 bewegte ganz Frankreich, da sie bei der Rettung zweier Kinder im Mittelmeer ertrank.
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Porträt des deutschen Schriftstellers
THOMAS BRASCH
THOMAS BRASCH war ein Dichter, Dramatiker, Filmschaffender und Übersetzer, eine der markantesten Figuren der neuen deutschen Literatur. Thomas Brasch wurde 1945 in Westow in England als Sohn jüdischer Emigranten geboren, 1947 zogen seine Eltern mit ihm in die spätere DDR, wo der Vater SED Funktionär und zeitweise Stellvertretender Minister für Kultur wurde. 1965 musste er wegen seiner Systemkritik sein Journalismusstudium aufgeben. Nach Protesten gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei wurde er 1968 inhaftiert. Bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1976 arbeitet er als Fräser in einem Transformatorenwerk. 1977 erschien sein bekanntestes Buch, der Erzählband „Vor den Vätern sterben die Söhne.“ 2001 ist er in Berlin gestorben.
"Zuerst spürte ich seinen Kopf, der stark auf meine Blase drückte, und einige Minuten später den Schwanz, der in meinem Mund wedelte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie der Wolf in mich hineingekommen war und warum er verkehrt lag. Ich stieg in die Straßenbahn 63 und fuhr zum Krankenhaus Friedrichshain." Mit diesen Sätzen beginnt der Erzählband "Vor den Vätern sterben die Söhne", der Thomas Brasch (1945-2001) berühmt gemacht hat. Ein Buch der existentiellen und politischen Revolte. Ein Buch von auswegloser Unbedingtheit.1975 war in Ost-Berlin ein Heft seiner Gedichte mit Zeichnungen von Einar Schleef veröffentlicht worden. 1976 verließ Brasch die DDR und 1977 erschien "Vor den Vätern sterben die Söhne". Brasch war im Westen angekommen. Irgend einen Grund, sich zu beruhigen, gab es nicht. „Ich war ein junger Mann“, sagt der Alte zu Robert, „aber sie haben uns fertig gemacht. Als es keinen Sinn mehr hatte, sind wir über die Grenze gegangen. Es war nicht einfach, doch als es nicht weiterging, mussten wir über die Grenze.“ - Gut, sagt Robert, „über welche Grenze kann ich gehen, wenn es keinen Sinn mehr hat?“
Unser besonderes Buch in der 24. Kalenderwoche war
Thomas Brasch. Was ich mir wünsche
Gedichte aus Liebe
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Wild.
Bibliothek Suhrkamp 12.-€
Liebe ist für Thomas Brasch (1945–2001) eine Haltung, die sich jeder Festlegung verweigert. Eine Haltung, die ihre Träume fürchtend und sehnend der Wirklichkeit aussetzt und das Mögliche stets in den Horizont des Unmöglichen stellt. Braschs dichterische Leidenschaft hofft und verzweifelt, vertraut und betrügt, preist und vernichtet. Und sie belehrt: Wann, wem und wie schreibt man ein erotisches Gedicht? In dem Band stehen Gedichte, die Brasch eigenständig und zu Lebzeiten publiziert hat, neben literarischen Hinterlassenschaften. Texte aus den frühen Jahren(»Anna, komm …«) sind ebenso vertreten wie Arbeiten aus jüngerer Zeit, etwa eine Gruppe mit Brunke-Gedichten, die in den 1990er Jahren entstanden sind.
Das titelgebende Gedicht:
Was ich mir wünsche
Von Wonders Liedern das traurigste
ber den Untergang der Stadt New York
abgespielt auf einem Plattenspieler in der Hester Street
von Brechts Gedichten das schönste
geschrieben in der Charité 2 Tage vor seinem Tod
über den Gesang der Amseln nach seinem Tod
von Shakespeares Theaterstcken das komischste
über den Prinzen hinter dem Schutz seines Wahns
verfallen dem Rationalismus und einem langweiligen Gespenst
von den Nächten die hellste vor dem KaDeWe
die Zeitungsfrauen gehen ihren Weg der Tagesspiegel ist da
der Himmel flach und
von deinem schönen Körper das Knie.
Seine gesammelten Gedichte sind auch bei Suhrkamp erschienen: DIE NENNEN DAS SCHREI. heißt der sehr lohnenswerte Band. Er kostet 28.- € und hat auf 1030 Seiten den gesammelten lyrischen Brasch zu bieten. Neue deutsche Dichtung, die von Goethe, Heine, Brecht, von Spruch und Lied herkommt, hat in ihm ihren Meister gefunden und viel zu früh verloren. Vom Widmungs- und Gelegenheitsgedicht über Ballade und Lied bis hin zu Stückcollage und Fototext die "Gesammelten Gedichte" ermöglichen es zum ersten Mal, sich ein umfassendes Bild des im Verlauf von 40 Jahren entstandenen lyrischen Werks zu machen. In zeitlicher Folge enthält die Ausgabe sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte - darunter Raritäten wie die in der Reihe "Poesiealbum" veröffentlichte Sammlung von 1975, Braschs einzige DDR-Publikation von Gedichten, oder "Kargo. 32". "Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen" aus dem Jahr 1977. Hinzukommen die verstreut veröffentlichten Gedichte, die für diesen Band zusammengetragen wurden.
„Ich merke mich nur im Chaos“ heißt ein 2009 erschienener Interviewband, und er ist, angesichts der Sprachgenauigkeit, der Intelligenz und Wortmacht des Befragten, nicht nur das Beste, was man seit langem an Schriftstellerinterviews gelesen hat. Er gehört auch zum Gewinnbringendsten, was, historisch gesehen, derzeit zu zwanzig Jahren Mauerfall zu lesen ist, eben weil Thomas Brasch in den Gesprächen so beharrlich an der Subjektivität seiner Erfahrungen festhielt; weil er nicht den Anspruch hatte, Geschichte zu erzählen, sondern seine Geschichten.
Das sind Thomas Brasch und Georg Stefan Troller. Das Bild entstand 1977 bei Dreharbeiten, als der Journalist und Schriftsteller Troller einen Film über den Schriftsteller Brasch machen wollte, der gerade von Ost- nach Westberlin übergesiedelt war. Die Dreharbeiten gestalteten sich schwierig, weil Brasch keine Lust hatte, sich vereinnahmen zu lassen. Während unserer Lesung mit TROLLER in Saarbrücken sagte er über Brasch: „Es ist schon recht anstrengend, immer auf der Höhe seines eigenen Zorns zu leben.“ Und es ist ein großartiger Film geworden, es gibt ihn noch jederzeit verfügbar auf Youtube.
Noch 1987 schreibt Brasch, „ich bin nach wie vor Bürger der DDR, und alle zurückliegenden Konflikte zwischen mir und verschiedenen Institutionen meines Landes waren immer Konflikte über das Wie des Sozialismus, nie über eine Alternative zu ihm.“ Dass er nun in Westberlin lebe, „heißt nicht, daß ich mich zum Anhänger der Geldgesellschaft zurückpervertiert habe, sondern daß ich wie viele Schriftsteller aus vielen Ländern den Ort meiner Jugend für eine Zeit verlassen habe, um nicht zu stagnieren“.
Er hat weitererzählt, über jene „Leute, auf deren Rücken Geschichte gemacht wird, die Geschichte zu erleiden haben und die daran kaputt gehen“.
Literaturhinweise
- Thomas Brasch: Es stimmt nicht, daß man sehr schnell untergeht. In: Frankfurter Rundschau vom 24.8.1977, S. 7.
- Thomas Brasch: Für jeden Autor ist die Welt anders. In: Die Zeit vom 22.7.1977, S. 35.
- Thomas Brasch: Ich stehe für niemand anders als für mich. In: Der Spiegel vom 3.1. 1977, S. 79 - 81.
Thomas Brasch: Neuankömmling. In: Alternative 113/1977, S. 93-101.
Thomas Brasch: Wenn man anfängt, dem Bild zu ähneln, das sich die Umwelt von einem macht. In: Arbeitsbuch Thomas Brasch, hrsg. von Margarete Häßel und Richard Weber. - Frankfurt, 1987, S. 17 - 27.
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Die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker ist tot. Die Grand Dame der experimentellen Literatur starb im Alter von 96 Jahren am Freitag, 4. 6. 2021 in Wien, wie der Suhrkamp Verlag in Berlin unter Berufung auf den engsten Umkreis Mayröckers mitteilte. Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren. Sie besuchte zunächst die Private Volksschule, ging dann auf die Hauptschule und besuchte schließlich die kaufmännische Wirtschaftsschule. Die Sommermonate verbrachte sie bis zu ihrem 11. Lebensjahr stets in Deinzendorf, welche einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterließen. Nach der Matura legte sie die Staatsprüfung auf Englisch ab und arbeitete zwischen 1946 bis 1969 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen. Bereits 1939 begann sie mit ersten literarischen Arbeiten, sieben Jahre später folgten kleinere Veröffentlichungen von Gedichten.
Im Jahre 1954 lernte sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie zunächst eine enge Freundschaft verbindet, später wird sie zu seiner Lebensgefährtin. Nach ersten Gedichtveröffentlichungen in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift "Plan" erfolgte 1956 ihre erste Buchveröffentlichung. Seitdem folgten Lyrik und Prosa, Erzählungen und Hörspiele, Kinderbücher und Bühnentexte.
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel
Mayröcker hatte als 15-Jährige die Liebe zum Schreiben entdeckt. Sie war Tochter eines Lehrers und einer Hutmacherin - und musste zu ihrem Leidwesen aus Geldmangel im Elternhaus einen Brotberuf ausüben. 23 Jahre lang war sie Lehrerin für Englisch. Dann erst folgte sie ihrer eigentlichen Berufung.
Entscheidend war in den 1950er-Jahren der Anschluss an die Wiener Literatenszene um Ingeborg Bachmann und die Begegnung mit dem Schriftsteller und Wortakrobaten Ernst Jandl (1925-2000). Bis zu seinem Tod waren sie ein kongeniales Paar. 1956 veröffentlichte sie unter dem Titel "Larifari" Prosaskizzen und Miniaturen. Der Durchbruch gelang ihr 1966 mit "Tod durch Musen". In der Folgezeit schrieb Mayröcker - teils zusammen mit Jandl - viele Hörspiele. In Jahrzehnten entstand ein Werk, das als "Gesammelte Prosa" 2001 zusammengefasst in fünf Bänden erschien. 2003 folgte "Gesammelte Gedichte".
Die Dichterin wurde unter anderem mit dem Georg-Trakl-Preis (1977), dem Hölderlin-Preis (1993), dem Lasker-Schüler-Preis (1996) und dem Büchner-Preis (2001) ausgezeichnet.
Ein halbes Jahrhundert gemeinsamen Lebens, und das hieß ganz selbstverständlich auch: gemeinsamer literarischer Arbeit, verband und verbindet Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Unmittelbar nach dem Tod des Gefährten im Frühsommer des Jahres 2000 hat Friederike Mayröcker den Schmerz des Verlustes in einer stillen und zugleich leidenschaftlichen Todesklage zu bewältigen versucht, die zu einem Gesang von berückender Intensität wird. In diesem Dokument von tapferster Zartheit ruft sie Erinnerungen an Erlebnisse der gemeinsamen Jahre auf, macht sich Offengebliebenes jäh bewußt, liest Jandls Texte neu. Vor einer plötzlichen und existentiellen Leere erschreckend, fragt sie nach Möglichkeiten und Weisen des Weiterlebens und -arbeitens und hört nicht auf, zu einem Gegenüber zu sprechen. »Der Verlust eines so nahen Menschen, eines HAND- und HERZGEFäHRTEN ist etwas ganz und gar Erschütterndes, aber vielleicht ist es so, daß man weiter mit diesem HERZ- und LIEBESGEFäHRTEN sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann und vermutlich Antworten erwarten darf. Einer einstmals so stürmischen Aura, nicht wahr. Jetzt gestammelt gehimmelt, und weltweit.«
PARAPHRASE AUF 1 GEDICHT
VON ERNST JANDL
(„in der küche ist es kalt
ist jetzt strenger winter halt
mütterchen steht nicht am herd
und mich fröstelt wie ein pferd“ EJ)
in der Küche stehn wir beide
rühren in dem leeren Topf
schauen aus dem Fenster beide
haben 1 Gedicht im Kopf
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CESARE PAVESE
Den August 1950 wollte Cesare Pavese am Meer in Bocca di Magra verbringen. Er fand jedoch keine Ruhe und brach die Ferien ab. Zuerst fuhr er in seinen Geburtsort, das
piemontesische Dorf, wo er zur Welt gekommen war. Er wurde nur 42 Jahre alt. Am 9. September 1908 in dem kleinen piemontesischen Ort Santo Stefano Belbo geboren, blieb Pavese
mit seinem ländlichen Herkunftsort immer tief verwurzelt. Die Umgebung seiner Kindheit symbolisierte für ihn etwas Archaisches. In seinen Romanen und Erzählungen ist das Motiv des Landlebens ein konstitutives Element. Die Orte der Kindheit und das dem Naturzyklus angepaßte Leben der Bauern haben für Pavese stets etwas Mythisches gehabt. Seine Roman- Figuren kehren meist an den Ort ihres Ursprungs zurück, angetrieben von den Bildern in ihrer Erinnerung.
„Man entdeckt die Dinge durch die Erinnerung, die man daran hat. Sich an etwas zu erinnern bedeutet, es jetzt erst zum erstenmal zu sehen.“
Große Aufmerksamkeit erhielt Pavese bei der Verleihung des bedeutenden italienischen Literaturpreis `Premio strega`, den er 1950 für die Erzählung `Der schöne Sommer` überreicht bekommt. Die drei TURINER ROMANE: Der schöne Sommer/Der Teufel auf den Hügeln/Die einsamen Frauen in der revidierten Übersetzung Maja Pflugs erscheinen gerade wieder im Schweizer ROTPUNKTVERLAG in einem Band.
Cesare Pavese. Der schöne Sommer. Rotpunkt Zürich. Drei Romane. Übersetzt von Maja Pflug – 29.- €
„Wenn sie todmüde zurückkehrten, hofften sie immer noch, dass irgendetwas geschehe, dass ein Brand ausbräche, dass zu Haus ein Kind geboren würde oder dass es womöglich plötzlich Tag würde und alle Leute auf die Straße kämen und man immer weiter und weiter gehen könnte bis zu den Wiesen und hinter die Hügel.“
Die Romane führen ins Turin der vierziger Jahre, wo jugendliche Erwartung und Lebensgier, das übermütige Bedürfnis, die Norm zu übertreten, in Desillusionierung und gescheiterte Leidenschaft münden. »Damals war immer Festtag«, so setzt Der schöne Sommer ein. Ginia, eine junge Schneiderin, entdeckt die Cafés unter den Arkaden und verliebt sich in den Maler Guido. Bald schon steht sie ihm Modell.
„In jenem Jahr war es so heiß, dass man jeden Abend ausgehen musste, und es schien Ginia, als habe sie nie zuvor verstanden, was Sommer eigentlich bedeute, so schön war es, jede Nacht auszugehen und durch die Alleen zu schlendern. Manchmal dachte sie, jener Sommer würde niemals enden, und zugleich, dass man sich beeilen musste, ihn zu genießen, denn wenn die Jahreszeit wechselte, würde bestimmt etwas geschehen. Deshalb ging sie nicht mehr mit Rosa in das alte Lokal oder in ihr Kino, sondern machte sich manchmal allein auf den Weg und lief schnell in ein Kino im Zentrum.“
Einer Versuchung erliegen auch die drei Studenten in Der Teufel auf den Hügeln, die wenig schlafen und viel reden, wenn sie nachts durch die Stadt laufen. Als sie auf dem Landsitz eines Mailänder Dandys ein paar wilde Sommertage verbringen, ist ihrer Jugend abrupt ein Ende gesetzt.
„Giulio hatte eine starke Ausstrahlung, der sich kaum jemand entziehen konnte. Das hing mit seiner Strenge zusammen. Er besaß eine große Strenge, und wenn er sich für jemanden entschied, dann deshalb, weil derjenige zu passen schien. Man fühlte sich geschmeichelt und geehrt, selbst wenn man dann vielleicht gar nicht bezahlt wurde. Er hat einen großartigen Geschmack. Für Möbel, Gegenstände, diese Tür hier hat er ausgesucht…“
Clelia aus Die einsamen Frauen könnte einmal die junge Ginia gewesen sein. Die erfolgreiche Modedesignerin kehrt in ihre Heimatstadt zurück, da wird vor ihren Augen die lebensmüde Rosetta, »aufgedunsenes Gesicht und wirre Haare, in einem Abendkleid aus hellblauem Tüll, ohne Schuhe«, auf einer Trage abtransportiert. Die Schattenseite der fröhlichen Serenaden?
Paveses »Turiner Romane«, 1950 mit dem Premio Strega ausgezeichnet, haben mit ihrer Aufgekratztheit, der atemlosen Suche nach dem Geheimnis des Lebens und dem seinerzeit neuen jazzhaften Rhythmus auch siebzig Jahre nach Erscheinen nichts von ihrer Modernität verloren. Sie liegen nun vollständig in Neuübersetzung von Maja Pflug vor. Und da ich weiss, dass, wer einmal begonnen hat, diesen Autor kennenzulernen, nicht mehr von ihm loskommt, die anderen Bücher, die bei Rotpunkt erschienen sind:
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Cesare Pavese. Der Genosse. Rotpunkt Zürich. Übersetzt von Maja Pflug 24.- €
Sie nennen ihn Pablo, weil er Gitarre spielt. Alle in der Osteria rühmen sein Talent, doch einst für Geld aufzutreten, hat Pablo keine Lust. Ebenso wenig sieht er seine Zukunft hinter der Theke des Tabakladens seiner Mutter. Lieber spannt er dem besten Freund, Amelio, der nach einem Motorradunfall als Krüppel weiterleben muss, die Freundin aus. Nur bekommt er es bald satt, das Spiel, das Linda mit ihm treibt, mitsamt den Tanzlokalen und Varietés – und macht sich aus Turin nach Rom davon, wo ihm langsam die Augen aufgehen.
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Cesare Pavese. Das Haus auf dem Hügel. Rotpunkt Verlag. Übersetzt von Maja Pflug- 24.- €
Das Haus auf dem Hügel, ein im deutschen Sprachraum noch wenig bekannter Roman Paveses, spielt in der Wirrnis jener dramatischen Sommermonate in Italien und erzählt, wie Corrados Existenz gegen starke innere Widerstände schließlich ganz und gar vom Krieg eingenommen wird. Von Maja Pflugs stimmiger Neuübersetzung ins Heute geholt, ist das Buch eine einzigartige literarische Auseinandersetzung über die Unentrinnbarkeit des Kriegs und die Frage nach dem Sinn von politischem Handeln.
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Cesare Pavese. Der Mond und das Feuer. Aus dem Italienischen von Maja Pflug – 24.- €
In Der Mond und die Feuer, Paveses letztem Roman, leuchtet mit der mythischen Hügellandschaft der Langhe auch die Schönheit des Erzählens auf. Urbilder menschlicher Erfahrung – der Baum, das Haus, die Reben, der Abend, das Brot, die Frucht – erzeugen eine magische Melancholie. Virtuos verdichtet verhandelt Pavese große, auch in unserem Jahrhundert relevante Themen der Weltliteratur: Auswanderung und Rückkehr, Verwurzelung und Entwurzelung, Widerstand.
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Seine lebenslange Begleiterin, die bedeutende italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg schrieb in ihrem wunderbaren Erinnerungsbuch WINTER IN DEN ABRUZZEN:
„Kurze Zeit nach seinem Tode gingen wir auf den Hügel. Es hatte
Wirtshäuser an der Straße mit rötlichen Weinlauben, Bocciabahnen und
Haufen von Fahrrädern; es hatte Bauernhäuser mit Büscheln von
Maiskolben und gemähtem Gras, das auf Säcken zum Trocknen ausgebreitet
war: es war die Landschaft am Rande der Stadt und zu Beginn des
Herbstes, die er liebte. Wir sahen von Wiesenrändern und gepflügten
Ãckern die Septembernacht aufsteigen. Wir waren alle gute Freunde und
kannten uns seit vielen Jahren; wir waren Menschen, die immer
miteinander gedacht und gearbeitet hatten. Und wie es vorkommt unter
Menschen die sich gern haben und von einem Unglück getroffen werden, so
versuchten wir nun, uns noch lieber zu haben, uns zu helfen, uns
gegenseitig zu beschützen; denn wir spürten, daß er in irgendeiner
geheimnisvollen Weise uns immer geholfen und beschützt hatte. Mehr denn
je war er an jenem Abend auf dem Hügel gegenwärtig.“
Cesare Paveses Gedicht MATTINO vom August 1940 war der jungen Turiner Anglistin Fernanda Pivano gewidmet, die vor allem durch ihre schöne Übertragung von Edgar Lee Masters ‘Die Toten von Spoon River‘ bekannt geworden ist. Fernanda war eine der Frauen, die Pavese vergeblich an sich zu binden suchte. Hier macht er ihr seine poetische Liebeserklärung. Es ist auch eines meiner Lieblingsgedichte, die ich einmal in der Woche, völlig kontradigital am Schaufenster des Ladens platziere und die nur als Einzelblätter bei uns zu haben sind.
MORGEN
Im angelehnten Fenster zeigt sich ein Antlitz
Über dem Gefilde des Meeres. Die leise wehenden Haare
begleiten den zärtlichen Rhythmus des Meeres.
Keine Erinnerung spielt auf diesem Gesicht.
Nur ein flüchtiger Schatten, wie von einer Wolke.
Im Zwielicht ist der Schatten feucht und sanft
wie der Sand einer nie berührten Höhlung.
Da ist nichts zu erinnern. Nur ein Flüstern,
die Stimme des Meeres: Erinnerung geworden.
Der Tagesfrühe weiches Wasser, das sich auffüllt
mit Licht, erhellt dieses dämmrige Antlitz.
Jeder Tag ist ein zeitloses Wunder
in der Glut der Sonne: ein salziges Licht durchtränkt ihn,
und ein Geschmack nach frischen Meeresfrüchten.
Keine Erinnerungen gibt es auf diesem Gesicht.
Es gibt kein Wort, das es enthielte
oder verbände mit Vergangenem. Gestern ist es
aus dem engen Fenster verschwunden, so wie es
alsbald wieder verschwinden wird, ohne Trauer
oder Menschenworte, vom Gefilde des Meeres.
Unbedingt empfehlenswert in diesem Zusammenhang ist auch das Buch von Maike Albath, die wir auch schon einmal in der Buchhandlung begrüßen durften:
DER GEIST VON TURIN. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943 im BERENBERG VERLAG erschienen (25.- €). In Mussolinis Italien, im Schatten der Fabriken von Fiat und Olivetti, begegneten sich in den dreißiger Jahren in Turin ein paar gebildete junge Leute. Sie gründeten Zeitschriften und Verlage, schrieben kritische Artikel, nahmen Verbannung und Gefängnis auf sich und fühlten sich als Avantgarde. Und das waren sie: Aus dem Kreis um Cesare Pavese, Leone und Natalia Ginzburg und den Einaudi-Verlag kam jener Geist, der nach 1945 das Klima intellektueller Freiheit in Italien wesentlich geprägt hat. Maike Albath, die Italien kennt und liebt, beschwört in ihrem Buch die Stadt und die einmalige geistige Landschaft, in der diese stolze Episode aus Italiens jüngerer Geschichte ihren Lauf nahm.
Ich kann jedem nur diese 3 Turiner Romane in einem Band ans Herz legen. Sie sind erst einmal unbeschwert und leichtfüßig, widerständig und ein hervorragender Einstieg in das Werk dieses großen Autoren der Weltliteratur. Er war ein Romantiker, vielleicht der letzte seiner Art. Und ein beharrlicher Einzelgänger.
'Jeder Blick, der zurückkehrt, bewahrt ein Aroma von Gras und Dingen,
welche die Abendsonne durchtränkt am Strand. Bewahrt einen Meerhauch.
Wie ein nächtliches Meer ist dieser große Schatten voll von uralten
Ãngsten und Schauern; er streift den Himmel, und jeden Abend kehrt er
wieder. Die toten Stimmen sind wie die Brandung dieses Meeres.'
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13. 2. 2021: URS JAEGGI ist gestorben.
Mehr als 400 000 Mal verkaufte sich sein Buch zu "Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik Deutschland": Urs Jaeggi galt als einer der Ideengeber der Studentenbewegung der 1960er Jahre. Der Schweizer Soziologe der auch als Künstler und Schriftsteller bekannt wurde, ist am Samstag, dem 13. 2. 2021 im Alter von 89 Jahren in Berlin gestorben.
"Manchmal war es ein etwas krummer Weg, aber ich habe mir alle meine Wunschträume erfüllt", sagte er zu seinem 85. Geburtstag der Deutschen Presse-Agentur. "Mir war es wurscht, wenn die Leute gesagt haben: Muss er denn das jetzt auch noch machen?"
Der 1931 in Solothurn geborene Sohn aus sozialdemokratischem Hause hatte immer den Wunsch, über den Tellerrand zu blicken. Er studierte Kunstgeschichte, Ökonomie und Soziologie in Genf, Berlin und Bern. Nach seiner Habilitation in Bern ging er an die Ruhr-Universität Bochum und später zur New School for Social Research nach New York.
"Ich weiß bis heute nicht, wie das zustande kam", sagte Jaeggi über den Erfolg seiner Analyse, dass eine vergleichsweise kleine Elite die Schaltstellen der Macht beherrscht. Freunde machte sich der undogmatische Denker damit nicht nur. Konservative hielten ihn für einen linken Rädelsführer, Ultralinke für einen "Scheißliberalen".
Den Konflikt arbeitete Jaeggi später in seinem autobiografischen Roman "Brandeis" (1978) auf: Es geht um einen Professor, den der ideologische Furor der Studentenbewegung zunehmend in einen Zwiespalt mit sich selbst treibt. Zusammen mit den Romanen "Grundrisse" und "Rimpler" wird daraus eine Trilogie zum großen gesellschaftlichen Umbruch der 68er Jahre.
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Adam Zagajewski, 1945 in Lemberg geboren und 2021 in Krakau gestorben, studierte Psychologie und Philosophie in Krakau. Er lehrte regelmäßig an der University of Chicago. Adam Zagajewski ist Autor zahlreicher Lyrik- und Essaybände sowie mehrerer Romane und wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Eichendorff-Literaturpreis (2014), dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste (2015), dem Leopold Lucas-Preis (2016), dem Jean Améry-Preis für Essayistik (2016), dem Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur (2017) und dem Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste (2019). Seit 2015 war Adam Zagajewski Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
In seinem gerade erschienen Essayband stellt er auf wunderbare Art und Weise für ihn wichtige Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ein erstaunlich neues, zum Teil ganz persönliches Licht. Seine Essays über Czesław Miłosz, W.G. Sebald, Wisława Szymborska und viele mehr sind kleine Offenbarungen. Über das Werk, die Zeit und das Leben der Porträtierten. Aber auch über das eigene Schreiben und den Essay selbst, diese bedrohte Form, die wie keine andere die Beweglichkeit der Gedanken verteidigt. In feinster Prosa entspinnt Zagajewski seine Suche nach dem Wesen der Dichtung, nach ihren Bedingungen und ihrer Aufgabe.
Als sich der große Dichter und Essayist Adam Zagajewski vor ein paar Jahren in der Darmstädter Akademie vorstellte, trug er sein Gedicht Selbstbildnis vor, eine Ich-Inventur aus den frühen Neunzigerjahren. "In der Musik", heißt es da, "finde ich Kraft, Schwäche und Schmerz, die drei Elemente./ Das vierte hat keinen Namen./ Ich lese Dichter, die lebenden und die toten, lerne von ihnen/ die Ausdauer, den Glauben und den Stolz." Damit waren die Überlebensstrategien eines Emigranten benannt – seine Ankerpunkte in der Poesie und der Musik, die den humanistisch gebildeten Weltbürger den Schmerz des Exildaseins zu überstehen halfen.
In : Adam Zagajewski. Poesie für Anfänger
Carl Hanser Verlag (29. März 2021) 280 Seiten , ISBN : 978-3446267671 , Originaltitel : POEZJA DLA POCZATKUJACYCH , 24.- €
Traurig, müde
Traurig, müde, häßlich und einsam
Stehst du am Fenster, vor der Leinwand,
Genannt die Straße, Welt oder Stadt,
Frau Arnolfini, vom Mann getrennt.
Es schaukelt, es schaukelt Bergsons Insekt,
Gefangen im Spinnennetz. Zwischen uns
Fließt der Ozean. Zwischen uns schlafen
Zyklone. Zwischen uns schlummern Kriege.
Die fremde Fremdheit, die sich langweilt. Zwischen uns
Zählen die Generale ihre Pfeile im Köcher.
Zwischen uns lodert die Sehnsucht. Traurig,
Müde, häßlich und einsam, warte,
Öffne den weißen Fächer des Fensters.
Ausgewählte Gedichte
Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Karl Dedecius. Im Mittelpunkt von Adam Zagajewskis poetischen Erkundungen steht Europa: europäische Musik und Philosophie, Europas Architektur und seine Landschaften, aber immer auch des Dichters eigene Geschichte. Er, den seine Ironie davor bewahrt, ein reiner Elegiker zu werden, verkörpert so tief wie kaum ein anderer das europäische Bewusstsein mit allen Ambivalenzen.
Carl Hanser Verlag, München 2003
ISBN 9783446203662
Gebunden, 176 Seiten, 18 EUR
Dieser Gedichtband, der eine Auswahl der Lyrik des polnischen Autors aus allen seinen Werkphasen enthält, gibt Jan Wagner einen "mitreißenden Einblick" in das Werk Adam Zagajewskis. Zugleich sei dieser Band so etwas wie ein "Resümee" seines bisherigen Schaffens. An "kaum einer Stelle", auch bei den rund ein Drittel des Bandes ausmachenden neueren Gedichte, lässt sich nachlassende "poetische Intensität" feststellen, erklärt ehrfürchtig der Rezensent.
Adam Zagajewski: „Ich habe keine Heimat im engen Sinne wie Leute, die als Kinder sich mit dem Gebiet identifiziert hatten, wo sie geboren waren und wo sie in die Schule gingen. Für mich es war schon Gleiwitz, aber nicht ohne Reservation. Denn meine Familie hat mir angedeutet: Das ist nicht deine Heimat. Deine Heimat ist geblieben, dort, in Lemberg. Natürlich, am Anfang habe ich das nicht akzeptiert. Für mich war Gleiwitz doch meine Welt. Aber später doch. Vielleicht war meine Heimat meine Kindheit, nicht geografisch bestimmt. Also, wie eine Brücke zwischen Lemberg und Schlesien.“
Spannung zwischen dem Konkreten und Abstrakten zeichnet auch die zahlreichen Essays des Autors aus. „Ich schwebe über Krakau“ ist der Titel der Erinnerungsbilder in Prosa, die im Jahr 2000 erschienen. Darin heißt es:
„Eine Minute lang erscheint die Welt unwirklich. Herausfordernd grüne Pappeln wiegen sich irreal. In den Pfützen spiegelt sich der graue Himmel, und das Abbild eines Flugzeugs, kaum größer als das einer Schwalbe, zittert, von der Sohle eines Passanten gestreift. Eine Minute lang erscheint die Welt als eine Gaukelei, ein billiger Kompromiß, eine Ablösesumme, vom redlichen, aber unbeholfenen Schöpfer einer Schurkenbande ausgehändigt. Die Gehsteige sind schräg. Die Erde rund. Der Mensch sterblich. Die Freiheit zweifelhaft.“
Erinnerungsbilder
Carl Hanser Verlag, München 2000
ISBN 9783446199231
Gebunden, 286 Seiten, 19,90 €
Ich kann nicht Krakaus Geschichtsschreiber sein, obwohl mich Menschen und Ideen, Bäume und Mauern, Feigheit und Mut, Freiheit und Regen interessieren. Mich interessieren auch Hauswände und Mauern; der Ort, an dem wir leben, ist nicht gleichgültig für die Formung unserer Existenz. Die Landschaften dringen in unser Inneres ein und hinterlassen Spuren nicht nur auf der Netzhaut des Auges, sondern auch in den Tiefenschichten der Persönlichkeit.
Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen.
Denke an die langen Junitage,
und an die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rosé.
An die Brennesseln, die methodisch verlassene
Gehöfte der Vertriebenen überwucherten.
Du mußt die verstümmelte Welt besingen.
Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet;
Eins davon hatte eine lange Reise vor sich,
ein anderes erwartete nur das salzige Nichts.
Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen.
Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen.
Du solltest die verstümmelte Welt besingen.
Der polnische Dichter Adam Zagajewski verdankt seinen Ruhm auch dem Gedicht "Spróbuj opiewać okaleczony świat" ("Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen"), das nach dem Anschlag auf das World Trade Center im Magazin "The New Yorker" erschienen war. Wie viele polnische Dichter der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bewegt sich Zagajewski zwischen Philosophie und Mystik, zwischen Rationalem und Irrationalem, und schafft dabei einen Spagat, der normalerweise scheitern müsste. In "Unsichtbare Hand", hervorragend von Renate Schmidgall ins Deutsche übertragen, verbindet Zagajewski eine optimistische Abkehr von der Welt mit konkretem Mitgefühl und sozialer Verantwortung. Das gelingt ihm, indem er sich dem Unsichtbaren in der Welt zuwendet.
Gedichte
Carl Hanser Verlag, München 2012
ISBN 9783446239906
Gebunden, 128 Seiten, 16 EUR
In seinen Gedichten ist Zagajewski immer unterwegs: Ob er den Flug der Mauersegler beobachtet oder seinen alten Vater, der das Gedächtnis verloren hat, ob er von der Natur oder Geistigem spricht, von Enthusiasmus oder Melancholie. „Die Dichter bauen ein Haus für uns - doch sie selbst/können darin nicht wohnen“
„Und jetzt überlegst du, ob du
zurückkehren kannst zu der Begeisterung
jener Jahre, ob du noch so sehr
nicht wissen und so sehr begehren kannst,
und so sehr warten, ein wenig einschlafen
und so geschickt wieder aufwachen,
dass du den letzten Traum nicht vertreibst
trotz der Dunkelheit des Dezembermorgens.
Die lange Straße, lang wie die Geduld.
Eine Straße, lang wie die Flucht vor dem Brand,
wie ein Wunschtraum, der niemals
endet.“
Adam Zagajewski: „Ich glaube, es gibt eine Welt der Poesie. Ich weiß nicht, wo sie ist. Aber jedes Gedicht soll daran anspielen. Ich weiß, es klingt ein bisschen mystisch, oder? Ich glaube, die Poesie existiert ontologisch. Es gibt irgendwo Poesie. Die ganze Kunst ist ein Versuch, eben die Tür zu dieser anderen Welt ein bisschen aufzumachen, also eine kleine Offenbarung.“
Der polnische Dichter und Essayist Adam Zagajewski war ein flanierender Weltbürger – und voller Sehnsucht nach seiner Heimat. Nun ist er im Alter von 75 Jahren gestorben. Schreiben sei für ihn etwas Metaphysisches gewesen, sagt der Essayist László Földényi.