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Lieblingsbücher

 

Ab 27. 3. 2020 veröffentliche ich eine Auswahl meiner Lieblingsbücher auf facebook, 100 Tage lang jeden Tag ein Buch.

Was reizt eigentlich unsere Sinne beim Lesen? Warum sind uns einige Bücher so nah, dass wir sie am liebsten sinnlich einverleiben oder regelrecht aufsaugen möchten? Wie mischen sich diese unzähligen fremden Sätze  mit unseren eigenen Gedanken und was wird dann daraus. Sicher nicht der Text, den ein Autor im Sinne hatte. Unsere eigenen Erfahrungen durchdringen den Text und verändern die handelnden Gestalten, weil sich das uns Bekannte ohne unseren Willen seinen eigenen Weg in den Text und seine Figuren sucht.  Der Leser ist auch eine der vielen Stimmen in der Vielstimmigkeit der Beziehungen in einem Buch.

"Leben nur um zu existieren? Aber er war ja schon früher tausendmal bereit gewesen, seine Existenz für eine Idee, eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie hinzugeben. Die bloße Existenz hatte ihm nie genügt: Er hatte immer mehr gewollt." behauptet Rodion Raskolnikov, der in dieser Liste merkwürdigerweise gar nicht vorkommt.

Die Konsumenten nehmen zu, die Leser werden zur verschwindenden Minderheit. Der Leser, den ich meine, ist immer der Leser dieses einen Textes, den er vor sich hat und der gleichsam die Mitte der Welt für ihn ist; von dem aus die Welt nachher um ein Geringeres anders aussieht als sie vorher aussah; durch den er selbst, der Leser um ein Geringes anders geworden ist.

 

Begleitet werden die vorgestellten Bücher von Zwischentexten, Intermezzi, die sich dem Schreiben, Lesen und der Auseinandersetzung unter Schriftstellern widmen.

Die frisch eingestellten Bücher erscheinen zuerst. Die Liste ist also rückläufig. Sie entspricht vor allem keiner inneren Reihenfolge.

 

Saarbrücken, 05.07. 2020

 

Ludwig Hofstätter

 

 

 

Nachbemerkung: "das dach ist dicht, wozu noch dichter?..."

 

Die Liste ist eine Momentaufnahme. Sie ist kein Pflichtprogramm, sie ist vollkommen interessegelenkt oder lustbetont. Ich lebe ohnehin zwischen bedrohlich vielen Büchern und wöchentlich wandern weitere auf obskure Weise in die Regale. Diese Liste hätte zu einer anderen Zeit, unter veränderten Lebensbedingungen (noch mehr Lesezeit z.B.) komplett anders aussehen können. Ich entschuldige mich bei Holden Caudfield oder Jerome D. Salinger. Gibt es eine schönere Idee in der Weltliteratur als einen Protagonisten am Rande eine Roggenfeldes stehen zu lassen, um zu verhindern, dass Kinder in einen Abgrund stürzen. Klar, Werther, großartig, aber der Herr Geheimrat findet im Gesamtkontext ohnehin zu viel Zustimmung. Novalis fehlt, Lessing fehlt, Eichendorff fehlt, der Taugenichts, eigentlich kann ich mir das gar nicht erklären. Jaccottet, Bonnefoy, Julien Gracq... Auch Murmeljagd, der beeindruckende Exilroman war gerade verliehen oder nicht auffindbar. Der große Bulgakow fehlt. Aber mir war gerade nicht nach Realsatire und Faustischem Wesen. Gerhard Roth, dessen Archive des Schweigens ich sehr gut kenne. Wo ist er? Inoue? Unvorstellbar, dass er nicht auf dieser Liste zu finden ist. Andrei Makines französisches Testament, obwohl ich kein schöneres Buch über Kindheit kenne, Roman Ehrlichs fürchterliche Tage des schrecklichen Grauens sind leider hier auch nicht zu finden, kein Hans Christian Andersen, kein Hermann Burger, kein Maurice Sendak ("Es muss im Leben mehr als alles geben".) Wer soll das verstehen? Cioran, Baudrillard, Cixous, Améry, Benjamin... sie hätten alle auf diese Liste gehört. Irgendwann beschließt du: Ich trage keine Schuld. Die Geschichte ist abgeschlossen. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Sie ist rund. Jede Empfehlung stimmt. Jede weggelassene Empfehlung ist einfach nicht sichtbar. Es genügt, dem eigenen unvollkommenen Dasein EIN weiteres unvollkommenes Dasein EINES Schriftstellers, der einem nahe scheint, hinzuzufügen. Das ist schon mehr als genug. Und es zeigt vor allem: Eine solche Liste ist immer abhängig von der jeweiligen Gemütsverfassung. Manche Dinge sind zu weit weg. Als älterer Kerl fällt es schwer zu den frühen Heileweltbullerbüerfahrungen zu stehen. Verzeihung Astrid Lindgren. Ich bin ungerecht. Sophie Calle, die einen beträchtlichen Platz in meiner Bibliothek einnimmt, wird es verschmerzen. Sie ist selbstbewußt und unabhängig. Die Russen Tolstoi, Puschkin, Turgenew, Mandelstam & Co wären mir in den Wintermonaten leichter gefallen, ich bin sogar sicher, dass sie alle in dieser Jahreszeit Bestandteile dieser Auswahl wären. Hmmmh (starkes Brummen): Keine Saarländer, das darf doch eigentlich garnicht sein, Herr Vorsitzender. Eich, Jandl, Ludwig Hohl - unfassbar, dass sie nicht dabei sind. Ehrlich, ich bin diesen Autoren sehr zugetan. Hieran erkennt man den Zufall der Begegnung, die man mit seiner Gegenwart und Vergangenheit beim Schlendern am eigenen Bücherregal entlang macht. Fitzgerald, Faulkner, Pynchon, Capote, Herrndorf, Gilles Mebes, Rühmkorf... all diesen wunderbaren Schriftsteller, die ich begeistert gelesen habe, sind nicht auf dieser Liste vertreten. Warum? Es gibt keinen Grund dafür. Sie sind in ihrer Abwesenheit genauso präsent wie die aufgeführten Bücher. Löschen musste ich eine Vielzahl von Artikeln: Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Sternes Tristram Shandy, Milnes Pu der Bär (ein Bär von geringem Verstand ist im Grunde Pflichtbestandteil jeder literarischen Liste), Paul Valerys Cahiers und Gehirnwiesen, Ekelöfs und Aichingers Gedichte, Peter Weiss Fluchtpunkt, Tollers Jugend in Deutschland, Somerset-Maughams Rosie, Joseph Roths Rebellion, Gaito Gasdanovs Testament des Alexander Wolf, Claude Simons herrlichen Roman Der Wind und viele andere, auch Simenon ( dabei gibt es keinen Autor, dessen Werk ich so intensiv abgegrast habe). Dickinson, Svevo, Machado, Espedal, Fosse, Blanchot, Musil, vor allem Karl-Philipp Moritzens Anton Reiser ...Brecht,  Elizabeth Bishop... Es ging zum Ende hin und es war kein Platz mehr für die, von denen ich dachte, sie gehörten in jedem Fall auf diese Liste. 100 ist auch eine arrogante Zahl, so begrenzt und von oben herab. Die gegenwärtigen Schriftsteller(innen), die ich eingeladen habe, die uns schöne Abende bereitet haben, Karen Köhler, Terezia Mora, Eva Manesse, Judith Herrmann, von Nadas, Ransmayr und allen anderen ganz zu schweigen, sie fehlen alle. Rückmeldungen haben auch ergeben, dass die Franzosen überrepräsentiert wären, dass der dramaturgische Aufbau ungeschickt, das dies und das unbedingt... Eigentlich kann ich dazu nichts sagen. Außer: es ist kein Kanon der Weltliteratur. Ich habe nicht den Anspruch, anderen zu erklären, was gute Literatur ist. Es ist oder war eine persönliche zeitbedingte Leseliste, sonst nichts. Die Geschichte der Literatur ist immer eine Geschichte von Irrtümern und Ungerechtigkeiten. André Gide hat in seiner Zeit als Lektor bei Gallimard Prousts Recherche abgelehnt. Helmut Heißenbüttel hat immer Diderot höher eingeschätzt als Goethe, zum Teufel nochmal. WO IST JOYCE? Unglaublich.

 

 

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Das Beste kommt immer zum Schluss:

Im vertrauensvollen Gespräch mit Werner Morlang, den wir auch persönlich kennenlernen durften (für mich ein ganz besonderer Gewinn) (1949–2015), wohl seinem besten Kenner, sagte der Dichter GERHARD MEIER: „Ich habe ganz unten angefangen. Ich habe gespritzt mit der Spritzpistole, ich habe geschweisst, ich habe geformt. Was anfiel an Arbeit in diesem Lampengewerbe, alle Sparten habe ich durchgespielt. Mein Gespür für Formen und meine Möglichkeit, das umzusetzen in Zeichnungen und in Modelle, hat mir schliesslich dazu verholfen, dass mir die Kreationen unterstellt wurden [...]. So hatte ich im Grunde genommen einen anspruchsvollen Posten, der mich voll brauchte, ausfüllte. Andererseits spürte ich mein innerliches Ungenügen zu diesem Beruf, zu dieser Art Leben und war jeweils froh, Stunde um Stunde, wenn ich es wieder geschafft hatte, oder von Zahltag zu Zahltag, wenn ich es wieder überstanden hatte [...].

 

100. Lieblingsbuch: Gerhard Meier. Baur und Bindschädler. Amrainer Tetralogie

„Toteninsel“ (1979), „Borodino“ (1982), „Ballade vom Schneien“ (1985) und „Land der Winde“ (1990)

 

Aus der Amrainer Tetralogie spricht Hochachtung vor den einfachen Menschen, ihrer Verlässlichkeit, ihren Tätigkeiten, ihrem Sprechen in den Wind; für diese Menschen vor allem ist sie geschrieben.

 

Bindschädler besucht Baur in seinem Dorf. Beide sind über 60 und seit ihrer Aktivdienstzeit in Freundschaft verbunden. Auf der Basis dieser Vertrautheit sowie ihrer gemeinsamen Liebe zum gepflegten Austausch, zur Freiheit des Geistes, zu Kunstwerken, den literarischen vor allem, unterhalten sie sich anfänglich bei einem Spaziergang, später bei anderen Anlässen, über alles, was die konkrete Beobachtung unterwegs oder die Erinnerung an sie heranträgt. Der Gedankenlauf reißt nicht ab, wobei es in der Regel Baur ist, der als Protagonist von seiner jeweiligen Empfindung ausgehend die Themen anschlägt und entwickelt.

 

 

 

„Ich sah / wie die Häuser / die Farbe / verloren Und sah / wie der Himmel / die Farbe / behielt Und sah /wie man stirbt / und wie man / geboren Wie sommers / die Ströme ihr / Wasser / verloren Und wie / man gläserne / Marmeln / verspielt.“

 

Gerhard Meier (1917-2008)

wuchs in seiner Heimatgemeinde Niederbipp im bernischen Oberaargau auf, dort verbrachte er fast sein ganzes Leben. Da sich sein Berufswunsch –Architekt- nicht verwirklichen liess, begann er ein Hochbau- Studium. Nach dem Abbruch dieses Studiums trat er 1938 in die Lampenfabrik AKA in Niederbipp ein. Dort arbeitete er – die folgenden 33 Jahre als Designer und schliesslich als technischer Leiter.

Meier, Leser von Leo Tolstoi, Claude Simon und Robert Walser, hatte bereits während seiner Studienzeit erste schriftstellerische Versuche unternommen, die er jedoch mit dem Eintritt ins Berufsleben gänzlich aufgab. Er nahm die Beschäftigung mit der Literatur und das Schreiben 1957 wieder auf, als er wegen einer Tuberkulose-Erkrankung einige Zeit im Sanatorium in Heiligenschwendi verbrachte. 1964 erschien sein erster Gedichtband, dem weitere Veröffentlichungen folgten. 1971, als er nach eigener Aussage seine „Bürgerlichkeit quasi abgestottert“ hatte, gab Meier seine Tätigkeit in der Industrie auf; er lebte seitdem als freier Schriftsteller in Niederbipp.

 

 

Bindschädler hingegen hört zu, greift auf, kommentiert und beschreibt Baur sowie die wechselnden äußeren Umstände ihres Gesprächs. Er rettet, was Baur in den Wind spricht, indem er es zu dem „Buch über nichts“ (Gustave Flaubert) verbindet, das dieser zu schreiben wünscht. „Nichts“ meint das geistig-emotionale Leben, dessen Stellenwert in der Durchschnittsgesellschaft eher gering veranschlagt wird, obwohl es überlebenswichtig ist.

 

„Ich glaube, seit ich Turner gesehen habe, sehe ich die Malerei, ja die Welt schlechthin anders [...]. Diese geradezu ungeheuerliche Betonung des Hauchhaften gibt’s wohl sonst nirgendwo [...]. Ja, ich glaube seither unverschämter daran, dass unsere Welt eine Traumwelt ist und dass alle jene, die uns um diesen Traum bringen wollen, zumindest keine Realisten sind [...]"

 

Das Motto der „Toteninsel“ gibt die Devise für die nachfolgenden Bücher vor, Flauberts Satz nämlich: „Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts.“ Nicht eine kompakte Handlung rückt in den Mittelpunkt, sondern die Ereignislosigkeit des Alltags. Aber im Gleichmaß des Lebens wollen die Nuancen erspürt werden – das ist vielleicht sogar die wahre Entdeckungsreise. Gerhard Meiers Werke sind denn auch nicht Handlungsbücher, sondern Gesprächsbücher, zumeist mit einem offenen Schluss versehen, der das Fragmentarische betont. Unaufhörlich reden die Freunde Baur und Bindschädler miteinander – der eine so sehr der Spiegel des andern, dass sie für den Leser oft kaum auseinanderzuhalten sind. Sie erzählen einander von Schicksalen der Menschen aus Amrain, von den Lebensläufen der Verwandten, von Sinneseindrücken während ihrer Stadtwanderungen durch Olten oder Solothurn, von Lektüreerlebnissen und Eindrücken in Kunstausstellungen.

 

„[...] ich lebe sehr abseits, nicht aus Überheblichkeit, sondern es ist meine Art. Ich kann das nicht. Ich liebe die Leute, und ich habe gerne ein paar Leute um mich herum, aber ich kann da nicht so in organisierten Gesellschaften und Cliquen und Verbänden sein. Das zerschlägt mir den Atem, den Kopf.“

 

Gerhard Meier hat das kleine Niederbipp kaum je verlassen, ja er bezeichnete sich einmal selbstbewusst als „Provinzler, der immer nur die Welt in die Provinz hineinholen wollte“. Dass die Welt dann doch die starke poetische Kraft und die Schönheit von Meiers stiller Prosa erkannte, ist nicht zuletzt Peter Handke zu verdanken, der 1979 die Hälfte des ihm zuerkannten Kafka-Preises an Gerhard Meier abtrat. Weitere Preise folgten im Lauf der Jahre. Meier nahm sie gelassen entgegen und setzte sein ruhiges Leben an der Seite seiner Frau Dora fort. Als sie 1997 nach über sechzigjähriger Ehe starb, widmete er ihr seine letzte Veröffentlichung, das Erinnerungsbuch „Ob die Granatbäume blühen“.

 

In diesem Abschiedsbuch, das wir schon kennen (75), schreibt er: Dorli, wenn wir wieder zusammen sind und die Wildkirschen blühn und es der Natascha, dem Fürsten Andrej und der Lara nicht gerade ungelegen kommt, gleiten du und ich in deinem Schattenboot von Walden her über die Waldenalp hin, Richtung Lehnfluh, eskortiert von Kohlweisslingen, Distelfaltern, Abendpfauenaugen und einem Admiral.“

 

 

Als Schreibender indessen hat sich Gerhard Meier stets in der Rolle des Zuschauers gesehen und sich jene Frage gestellt, die in die Mitte seiner Erzählkunst zielt:

 

„Wo mag Robert Walser gestanden haben, wenn er die Welt abbildete? Etwas daneben, vermutlich. Leicht erhöht. An einem Abgrund gar. Wobei über seiner Welt jener Nebel gelegen haben muss, der beim Hervortreten der Sonne vergeht, zerfließt, das Licht durchlässt und allem, was man durch ihn sieht, zauberhafte Formen und Umrisse gibt, und in dem überall der Widerschein des Morgenlichts aufblitzt.“

 

Der Kreis schließt sich.

 

 

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«Ich will nichts mit Spazieren zu tun haben, ich will nichts mit Wandern zu tun haben, ich gehe.»

 

Peter Bichsel war wieder einmal zu einer Lesung in Saarbrücken. Das ewige Bahnfahren von einer Lesung zur anderen kulminierte in seiner „transsibirischen Geschichte“ in einem surrealen Verlust von Ort und Zeit. Eigentlich muss der Autor nach Kiel, doch bei all der Umsteigerei - er weiß es schon im Voraus - wird er wohl wieder im Zug nach Wladiwostok enden. So kommt es, aber das macht gar nichts, denn der Buchhändler aus Kiel ist auch auf dem Weg dorthin und hat seine Kunden gleich mitgenommen. So kommen alle doch noch zu ihrer Lesung, nachts um zwei im Speisewagen des Zugs nach Wladiwostok.

 

99. Lieblingsbuch: Peter Bichsel. Auch der Esel hat eine Seele - Frühe Texte und Kolumnen 1963-1971

978-3-518-47004-6, Suhrkamp 2020, 18.- €

 

Die erste der in vier Jahrzehnten zu einer Institution sui generis gewordenen P.S.-Kolumnen Peter Bichsels erschien 1975 im Zürcher Tages-Anzeiger. Doch bereits in den 1960er Jahren schrieb der Autor eine Fülle journalistischer Beiträge und Kolumnen zu Fragen der Zeit, die seine frühen Erfolge als literarischer Erzähler begleiteten. Beat Mazenauer hat sie in diesem Band versammelt – und einige erzählerische Erkundungen aus dieser Zeit dazugestellt.

Peter Bichsel hat über die Jahre seine eigene Dialektik des Erkennens entwickelt. Sie gibt dem Widersprüchlichen Raum, und in der fortlaufenden Bewegung der Gedanken behält sie stets auch deren Scheitern im Auge. Bichsel, der fragt und infragestellt, ist, sagt Beat Mazenauer, ein Meister des Verzögerns »endgültiger« Antworten.

 

Aber egal, was Sie von ihm in die Hände kriegen. Es hat jede Geschichte ihren eigenen Stil, sie erzählen alle vom Erzählen. Sie sind alle gut und lesenswert.

 

Peter Bichsel wurde am 24. März 1935 in Luzern geboren und wuchs als Sohn eines Handwerkers ab 1941 in Olten auf. Am Lehrerseminar in Solothurn ließ er sich zum Primarlehrer ausbilden. 1956 heiratete er die Schauspielerin Therese Spörri († 2005). Er ist Vater einer Tochter und eines Sohnes. Bis 1968 (und ein letztes Mal 1973) arbeitete er als Primarlehrer. 1964 wurde er mit seinen Kurzgeschichten in Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen auf einen Schlag bekannt; die Gruppe 47 nahm ihn begeistert auf und verlieh ihm 1965 ihren Literaturpreis.

 

Unglaublich, wie Bichsel in diesem Stück die „Viersprachigkeit der Schweizer“ mit der New Yorker Stammbar des walisischen Dichters und Trinkers Dylan Thomas und einem „versauten Merlot“ aus Long Island verbindet - das ist nicht nur sehr kunstvoll, sondern auch hoch amüsant. Lesen Sie auch IM HAFEN VON BERN IM FRÜHLING. Mit geradezu störrischem Charme behauptet Bichsel seinen Traum vom geistesgegenwärtigen Erzählen, das ausgeht von Fragen wie «Weisst du noch?» oder «Woher kommt es?». Darum, und nur darum geht es. Erzählen kennt kein Ziel, sondern ist etwas an und für sich – aus dem Augenblick des Jetzt ins Ungesicherte hinaus. Erinnerungen bilden dafür bloss Anlässe, weil sich nur Vergangenes erzählen lässt. Aus der Erinnerung sind unsere Gewohnheiten abzulesen.

 

Die typische Bichsel-Situation, das ist zum Beispiel eine Kneipe, in der ein paar Gäste rauchen und trinken und einander Geschichten erzählen, von Alltäglichem, Poetischem und Verrücktem. Diesmal ist der Schauplatz eine Bar in Kentucky, USA. Am Tresen sitzen ein alter Matrose und der Ich-Erzähler. Man unterhält sich über Herkunft und Heimat. «’Wie heißt eure Hauptstadt?’ – ‚Bern’, sagte ich, und er begann übers ganze Gesicht zu strahlen, klopfte sich auf die Schenkel und sagte, ja, im Hafen von Bern, da sei er oft gewesen. Er sei lange zur See gefahren, Handelsmarine.» Mit einem Mal hat Bern eine «kleine Spelunke», die schmutzige und laute «Anchor-Bar», in der die vollbusige und schwarzlockige Jane den Männern den Kopf verdreht. Der Ich-Erzähler bringt es nicht übers Herz, den Matrosen über den Irrtum aufzuklären, und so geraten beide gemeinsam ins Schwärmen über den Hafen von Bern und die dortigen Attraktionen...

 

Mit dem Erzählen hat es nun ein Ende. Bichsel will das so. Er hat sich die Kolumnen nicht „von der Seele geschrieben“, sondern „auf den Buckel. Der Buckel ist voll, ich spür es im Rücken.“ Das ist ernst und endgültig gemeint. Aber: Schon immer haben die Menschen erzählt, um den Tod auf Abstand zu halten.

 

 

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98. Lieblingsbuch: Raymond Carver. Würdest du bitte endlich still sein, bitte. Erzählungen

Fischer Klassik Tb. - 978-3596903900 - 9.90

 

Raymond Carver, geb. 1938 in Clatskanie, Oregon, schlug sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs durch und konnte sich erst spät ganz dem Schreiben widmen. Sein erster Erzählungsband ›Würdest Du bitte endlich still sein, bitte‹ machte ihn 1976 schlagartig berühmt, ›Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden‹ brachte den endgültigen Durchbruch. Heute gilt Carver als Neubegründer der modernen amerikanischen Short Story. Er starb 1988, kurz vor seiner Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters. Zuletzt erschien aus seinem Nachlass ›Beginners – Uncut‹, die unlektorierte Fassung von ›Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden‹.

 

Angeln ist besser als in die Schule zu gehen. Zweifellos. In einer von Raymond Carvers Kurzgeschichten hatte der Junge keine leichte Nacht hinter sich. Im Halbschlaf hatte er mitanhören müssen, wie sich seine Eltern stritten. Deshalb wollte er krank sein am nächsten Morgen. Vielleicht wünschte er auch nur ihre Aufmerksamkeit. Jedenfalls durfte er ohne ärztliche Diagnose zu Hause bleiben. Natürlich gab die Wohnung nichts Unentdecktes her. Und anders als sonst sollte er schon sein, der schulfreie Tag, der eigentlich keiner war. Sein Vater fuhr oft mit ihm und seinem Bruder Georg zum Fluß. Kann sein, dass der Junge deshalb fischen gehen wollte. Und: Fische streiten nicht laut.

Lautlos ist auch die Mutter, die ihren Sohn nur noch auf Zeitungsausschnitten und in Fernsehsendungen zu erkennen glaubt. Er hat sie irgendwann verlassen. "Warum mein Schatz?", diese Frage wird ihr in der kurzen Geschichte ihres Lebens nicht beantwortet. Auch hier werden anfängliche Risse zu unüberwindbaren Gräben. Beziehungen zu Gefängnissen. Mit dem Urteil lebenslänglich. Der Autor ist erbarmungslos. Oder ist es das Leben? In einer Textstelle heißt es: " ...Weder von Bildern, die sie gesehen, noch aus Büchern, die sie gelesen hatte, hatte sie erfahren, dass ein Sonnenaufgang etwas so schreckliches war".

 

Carvers Spezialität, die von vielen Autoren seither nachgeahmt und nur selten erreicht wird, ist der knappe Dialog in alltäglichen Situationen. Am meisten kommt zur Sprache, während die Personen miteinander schweigen oder sich, je mehr sie reden, immer weniger sagen. John Updike dazu: "Carver bringt die Dinge in ihrem Schweigen zum Sprechen."

 

Nicht jeder bedeutende Schriftsteller braucht ein Geheimnis, aber es kann nicht schaden, wenn er eines hat. Raymond Carver, einer der wichtigsten und einflussreichsten Autoren der amerikanischen Literatur der letzten fünfundzwanzig Jahre zählt, hatte gleich zwei Geheimnisse. Da sind zum einen jene Jahre in seinem Leben, in denen Carver ein haltloser Trinker war, ein Verlierer, der Streit in Kneipen anfing, Schulden machte, Freundschaften und Inneneinrichtungen ruinierte. Damals, in den frühen siebziger Jahren, muss Carver, den seine Freunde später liebevoll-spöttisch "den guten Raymond" nannten, ein völlig anderer Mensch gewesen sein. Wäre zu jener Zeit die Rede auf ihn gekommen, hätte man vermutlich vom "bösen Raymond" gesprochen. Aber damals sprach keine Menschenseele von dem hageren, knochigen Mann mit schlechten Zähnen, breiten Koteletten und verfilzten Haaren, als den ihn sein Schriftstellerkollege Richard Ford noch 1977 kennen lernte. Und Carver selbst redete später nur ungern über seine dunklen Jahre, in denen er auf den Abgrund zusauste wie ein Regentropfen, der am Fensterglas herunterfließt.

 

Richard Ford, der Carver sehr gut kannte schreibt in seiner Einleitung: Zum ersten Mal begegnete ich Raymond Carver im Herbst 1977, bei einem jener komischen kleinen Literaturfestivals, wie sie auch heute noch an amerikanischen Universitäten stattfindenden . Eine Gruppe von Schriftstellern - Lyriker und Prosaautoren gleichermaßen - läßt sich auf einem Campus einladen (in diesem Fall handelte es sich um die Universität von Dallas), jeden Abend gibt es öffentliche Lesungen und Podiumsdiskussionen, nachmittags nimmt man an Seminaren teil, und später sitzt man bis tief in die Nacht mit alten Kollegen an der Bar im örtlichen Hilton, manchmal kommt es auch zu ausgelasseneren Feierlichkeiten, aber nie übertrieben - eigentliche bleibt immer alles Im Rahmen. Eben das, was ein Literatenleben außerhalb von New York so ausmacht. (S.9: Der gute Raymond)

Am meisten tröstet einen natürlich solch eine Erzählung selbst. Und was mich an Rays Erzählungen am stärksten beeindruckte, war auch nicht sosehr die Unmittelbarkeit, mit der sie das Leben einfingen, oder wie schrecklich oder knapp sie dieses Leben schilderten (so knapp war das gar nicht Immer), sondern wie felsenfest überzeugt er selbst davon war, daß die Kunst - daß Erzählungen das waren, was einen am ehesten über das Leben hinwegtrösten, es verschönern konnte. Im Ausmalen fiktiver Ereignisse, im Umsetzen dieser Ereignisse in eine ebenmäßige, objektive Sprache, in der genauen Wiedergabe von Gefühlen, denen wir als Leser womöglich niemals im Leben ausgesetzt sein werden, In alledem liegt eine große Befriedigung und Befreiung und Schönheit. Und wenn Ray im Lauf der folgenden Jahre jedermanns Lieblingsschriftsteller wurde, dann legt das daran, daß seine Erzählungen - zu deren Hauptfiguren Ray selbst gehörte - sich mit dem Leser zwar einig waren, daß man im Leben des öfteren den Wunsch verspürt, in sein Whiskyglas zu beißen, erstes Ziel der Erzählung aber dennoch war, einen genau hiermit zu versöhnen. Damit erfüllen sie eines der ältesten Ideale der Kunst.

S 24 Richard Ford - Der gute Raymond

 

"Das hier hat nichts mit mir zu tun", lautet der erste Satz eines Berichts, in dem ein Briefträger von einem jungen Paar erzählt, das eines Tages mit seinen drei Kindern in der Stadt auftaucht, um sie nach ein paar Monaten wieder zu verlassen, allerdings auf getrennten Wegen, erst sie, dann er. Vermutlich haben die beiden sich gestritten, vermutlich hat sie ihn verlassen, vermutlich hat er gelitten wie ein Hund. Aber Genaueres erfahren wir nicht, der Briefträger ist ein neugieriger Bursche, aber ein eher lausiger Beobachter. Am Ende der Erzählung mit dem Titel "Was machen Sie in San Francisco?" wissen wir über den Ich-Erzähler nicht sehr viel mehr, als dieser über die Neuankömmlinge in Erfahrung bringen konnte. Aber wir haben gesehen, wie Neugierde, Anteilnahme, Zuneigung, Mitgefühl, Zorn und der Schmerz des Verlassenen den Briefträger ergriffen haben, Gefühle, die er nicht mit einem Wort erwähnt.

 

„Am Morgen gießt sie mir Teacher‘s über den Bauch und leckt ihn auf. Am Nachmittag versucht sie aus dem Fenster zu springen.“ Sätze wie diese - es ist die Eröffnung der Erzählung „Pavillon“ aus dem Buch „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ - haben den 1938 in Clatskanie (Oregon) geborenen und 1988 viel zu früh verstorbenen Schriftsteller Raymond Carver weltberühmt gemacht. Für Robert Altman, dem neun Kurzgeschichten von Carver als Vorlage für sein filmisches Meisterwerk „Short Cuts“ dienten, besaß Raymond Carver sogar die Gabe, „Prosa in Poesie zu verwandeln“.

 

Am besten lesen Sie wie immer alles von diesem Autor. Lakonischer und besser können Erzählungen nicht sein. Auch wenn ein wichtigtuerischer Lektor nach dessen Tod den literarischen Genuss durch Betonung der Eigenleistung ein wenig schmälerte.

 

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Unverkennbar: "Wieder Herbst. Oktober. Morgens die Straße naß. Kühl und feucht ist die Luft. Kühle graue Herbstmorgen. Schreiben und jeden Tag mit Carina in den Kinderladen. Jetzt immer schon extra früh aus dem Haus, damit wir die Schulkinder gehen sehen. Besonders die Kleinen, die am Ende des Sommers erst eingeschult worden sind. Die Erstkläßler alle Tage. Mit ihren bunten Jacken und Mützen und Ranzen. Aufgeregt. Eifrig. Helle Stimmen. Vor unseren Augen über die Kreuzung und vorn an der Ecke die Adalbertstraße entlang. Und Carina neben mir. Muß sie suchen und sehen und muß ihnen zusehen und muß ihnen nachsehen. Und dabei an meiner Hand zerren vor Begeisterung. Schulkinder, sagt sie andächtig, Schulkinder! Und merkt sich jedesmal jede Einzelheit. Carina ist vier. Jeden Morgen die Kinder
auf ihrem Schulweg – oder wenn wir zu spät sind, der leere Gehsteig. Sind schon vorbei. Sind weg, sind gegangen! Noch eben vorher ihre Stimmen und das Echo der Stimmen und umso deutlicher jetzt die Stille. Und nicht auch noch in der Luft der Abglanz all ihrer Farben? Wie ein Regenbogen, bevor er vergeht. Jetzt hast du ein Kind!"

 

 

97. Lieblingsbuch: Peter Kurzeck. Vorabend

Stroemfeld - 1022 S. 9783866000797 39,80 €. Aus der Chronik "Das alte Jahrhundert"

 

Im Jahr 1982 in Frankfurt-Eschersheim ein langes Wochenende im Herbst. Der Erzähler ist mit Frau und Kind bei Freunden zu Besuch. Vielleicht das letzte Wochenende, bevor die Freunde nach Südfrankreich ziehen. Der Erzähler ist müde. Will schlafen. Um ihn her der Nachmittag und die vertrauten Stimmen und dazu die Stimmen in seinem Kopf. Und dann muss er erzählen! Eine lange Reise. Und wir begleiten ihn in das Land seiner Kindheit. Das Oberhessen aus der Zeit nach dem Krieg und bis in die Siebziger Jahre. Gestern noch hier und jetzt ein versunkenes Land, eine Sage. Man muss die ganze Gegend erzählen, die Zeit! Und dazu die Menschen. Kleinbauern, Handwerker und Gießereiarbeiter. Die Oberdorfwitwen, die alten Leute und ihre Geschichten. Und die Kinder, als wir alle noch Kinder waren. Die alten Kaufläden. Flohmarkt- und Flüchtlingsgeschichten. Wie es bei der Arbeit zugeht.

"Morgens Milchkaffee, Wolkenhimmel, die Dächer glänzen. Einen Zug hört man fahren. Mit achtzehn war ich in Paris. Ein langer Sommer. Ich hatte Farben und Notizblöcke mit und ich hätte gewollt, daß der Sommer bleibt. Ich hätte dort bleiben wollen. Und jetzt nach so langer Zeit hier in Frankfurt mit Sibylle und
Carina. Zehn Jahre und noch zehn Jahre, sagte ich mir. Und dann noch zwei. Und wie diese Herbstmorgen wohl später in unsrem Gedächtnis? Und dann auch wir selbst. Als ob man in weiter Ferne sich sieht. Aber wo sind wir dann? Gleich wird der Tag zum Suchbild."

 

Als großen europäischen Autor rühmt Rezensent Rainer Moritz Peter Kurzeck, der unbeirrbar und obsessiv an seinem Werk fortschrieb. Mit "Vorabend" liegt der fünfte Band einer autobiografischen Chronik vor, die sich nichts weniger vorgenommen hat, als ein alles umfassendes Epochenbild bundesrepublikanischer Realität zu zeichnen, so der Rezensent. Im Mittelpunkt stehen die sechziger und siebziger Jahre, in der sich das Land in unerschütterlichem Fortschrittsglauben verändert. Kurzeck beschreibt diese Zeit vor allem als "Erfahrung des Verlusts" und zeigt sehr plastisch, wie sich Kapitalismus und Wachstum in den mittelhessischen Landstrichen seiner Heimat Bahn brechen, findet Moritz. Es sieht den Wert dieser Chronik, die auf zwölf Bände angelegt war, nicht als "Selbstzweck" des Autors, sondern als Versuch, die Epoche möglichst getreu und sprachlich sehr ambitioniert, festzuhalten. Ein "Glücksfall für die deutschsprachige Literatur", freut sich der Rezensent. Und wir alle anderen auch, die wir Ihn mehrmals kennenlernen durften.

 

"Meine Notizzettel. Zigaretten. Sibylle in Strumpfhosen. Auf Zehenspitzen. Eine Tänzerin bei den Proben. Carina heiße Milch mit Honig aus einer blauen Lieblingstasse. In kleinsten Schlückchen. Geht die Heizung auch richtig? Erst nur heiße Milch mit Honig und dann auch noch viel Ovomaltine hinein. Eng die Wohnung. Wird immer enger. Zum Glück keine Zeitung. Die Post noch nicht da. Jeder für sich mit Selbstgesprächen. Aber leise nur. Ein Gemurmel. Noch früh. Vor dem Fenster der Tag. Sibylle mit ihrem Kalender. Carina sucht die Stofftiere aus, die heute mit in den Kinderladen dürfen und spricht dabei mit ihnen. Mit verschiedenen Stimmen. Seit der Sommer vorbei ist, will sie sich allein anziehen. Kann es auch. Man darf ihr dabei nicht reinreden. Manchmal beim Anziehen vergißt sie, daß sie beim Anziehen ist. Wegen der Vielfalt der Welt."

 

Peter Kurzeck, geboren 1943 im böhmischen Tachau, 70 Jahre später gestorben, kam mit Mutter und Schwester im Mai 1946 nach der Vertreibung ins oberhessische Staufenberg. Schule und Lehre in Staufenberg und Gießen, berufliche Tätigkeit zuletzt als Personalchef bei der US-Army. 1977 Umzug nach Frankfurt am Main, 1979 erschien bei Stroemfeld/Roter Stern sein erster Roman: "Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst". 1982 erschien der Frankfurt-Roman "Das schwarze Buch", 1987 die erste Fassung des vielbeachteten Dorfromans "Kein Frühling", 1990 der Roman "Keiner stirbt". Seit 1992 arbeitete Peter Kurzeck an seinem großen autobiografischen Romanprojekt "Das alte Jahrhundert". Fünf Romane sind davon erschienen,…

 

"In Gedanken längst in der Siesmayerstraße vor dem Eingang zum Kinderladen. Auf dem breiten Gehsteig unter hohen Platanen (wie es raschelt, das Laub!) und die Stimmen der Kinder noch vom Sommer im Ohr. Und, sagte ich zu Sibylle, die in Wirklichkeit nicht, aber in Gedanken die ganze Zeit neben mir hergeht, damit ich den Kinderladen sehe! Damit ich immer wieder hinkomme. Damit ich dann später weiß, daß ich dort gewesen bin. Daß ich das selbst war. Und muß schon immer schneller. Nie genug Zeit. Damit ich ihn dann wenigstens in meinem Gedächtnis wiederfinde. Selbstgemacht. Illegal. In Frankfurt am Main im Westend ein Kinderladen in einem besetzten Haus. Und soll nächstens zwangsgeräumt. Staatsgewalt. Und ist einer der schönsten Plätze auf der Welt, aber immer wenn ich hinkomme, bin ich in Eile."

 

Seit 2007, seit dem Erscheinen von Ein Sommer, der bleibt (Erzählte CDs, nie als Buch erschienen, hier ist er am gegenwärtigsten: Als Erzähler ohne vorgefertigtes Skript, in Lesungen unübertroffen) hat Kurzeck endlich, endlich, endlich eine überregionale Aufmerksamkeit gefunden. Fast ist er in manchen Kreisen zu einer Art von Kultautor geworden. Seinem Freund und Verleger K.D. Wolff ist er niemals untreu geworden, im Gegenteil: Der Stroemfeld Verlag und dessen Verleger waren auf ganz natürliche Weise Teil des literarischen Kosmos von Peter Kurzeck geworden. Den angeblich bedeutendsten Literaturpreis in Deutschland, den Büchner-Preis, hat Peter Kurzeck nie bekommen. Wenn es einmal einen Anlass gegeben hätte, den Preis posthum zu verleihen, dann jetzt. Kurzeck zu lesen, ist wie in einen Sog dieser Sprache und des Erzählens zu geraten und wenn man ihn einmal gehört hat, liest man jede Zeile mit seinem Duktus, in seinem erzählerischen Rhythmus.

Peter Kurzecks Bücher erscheinen jetzt im Schöffling-Verlag

 

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Wolken ziehen auf, von Zeit zu Zeit

sie bringen die Chance ein wenig auszuruhen

von der Betrachtung des Mondes

 

 

Diese Verse könnten von Marion Poschmann sein. Sie stammen allerdings von einem japanischen Wandermönch des 17. Jahrhunderts. Er hieß Matsuo Munefusa, nannte sich aber Matsuo Bashō, japanisch 松尾 芭蕉; * 1644 in Akasaka, Provinz Iga, heute Akasaka, ; † 1694 in Osaka

 

96. Lieblingsbuch: Matsuo Bashō. Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (Handbibliothek Dieterich) 25.-

 

 

Matsuo Bashôs Reisetagebuch "Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland" (1689) gehört zu den Meisterwerken der Weltliteratur. Vor dem Hintergrund einer monatelangen Wanderung durch Japan entstand ein Dokument meditativer Selbstaneignung. Mit höchster Aufmerksamkeit für Natur und Leben porträtiert Bashô sich wie ein asketischer Mönch und entwirft eine poetische Bildergalerie feinster Lebensmomente, die dauerhaft in Erinnerung bleiben. Matsuo Bashôs Reisetagebuch "Oku no hosomichi" scheint auf den ersten Blick eine bloße Beschreibung einer sich über fünf Monate des Jahres 1689 hinziehenden Wanderung in die nördlichen Provinzen Japans zu sein. Doch bei näherem Hinsehen erweist es sich als ein Dokument idealer Selbstvervollkommnung. Die 150 Tage dauernde und sich über 2400 Kilometer erstreckende Wanderung wird als eine hohe Aufgabe erkannt, die als Einssein von Dichten und Wandern die größten Anforderungen an den Reisenden stellt. Asketisch und in wacher Aufmerksamkeit für alle Details schildert Bashô im dauernden Wechsel von nüchternen Berichten und tiefen lyrischen Momenten die Traumhaftigkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins.

 

«Krank auf der Reise –
auf leeren Feldern der Traum
irrt ziellos umher.»

 

Der japanische Dichter und Zen-Buddhist Matsuo Bashô wurde 1644 in Akasaka in einer Samurai-Familie niederen Ranges geboren, deren Lebenswelt er sich jedoch widersetzte. Anstatt die vorgesehene Militärlaufbahn einzuschlagen, studierte er den Weg und die Geschichte des Zen und die klassische chinesische Poesie. Nach dem frühen Tod seines Vaters zog er sich in die Einsamkeit eines Klosters zurück, wo er seine ersten Verse schrieb. Den Grossteil seines Lebens verbrachte er als Pilger auf Wanderungen. Unterwegs schrieb Bashô, der heute als geistiger Vater der japanischen Haiku-Poesie gilt, ein Reisetagebuch und seine meditative Lebensweise widerspiegelnde Gedichte. 1694 starb er auf einer Reise in Osaka. Noch heute wird er in seiner Heimat berechtigterweise tief verehrt.

 

«Die Asche glüht auf
an der Wand eine Gestalt –
Schatten des Gastes.»

 

Haikus sind Ausdrucksformen, die das ganze menschliche Leben umschreiben, bestehend aus Tönen, Farben, Blicken, Bewegungen, Landschaften, Gegenständen, Personen und Worten. Bashō beschreibt das Leben als eine lange Reise, mit seinem Gehen und Warten, seinem Schweigen und Sprechen bis zum Ende, zum Sterben. Matsuo Bashô gehört zu den bedeutendsten Haiku-Dichtern. Mit seinen Schülern erneuerte er diese Dichtung und verhalf ihr zur Anerkennung als ernsthafte Literatur. Unverzichtbar sind Konkretheit und Gegenwartsbezug, wesentlich ist die Offenheit der Texte, die sich erst im Erleben des Lesers vervollständigt. Vieles wird weggelassen, Gefühle sind nur selten benannt.

 

«Das Jahr ist vorbei –
was blieb mir? Nur der Strohhut
und die Sandale.»

 

Die Struktur seiner Haiku spiegelt die Einfachheit seiner meditativen Lebensweise wider. Wenn er das Bedürfnis nach Einsamkeit verspürte, zog er sich zurück in sein basho-an: Eine Hütte, die aus Bananenblättern gemacht war (basho), daher auch sein Pseudonym. Er versah viele seiner Verse mit einer mystischen Qualität und versuchte, die großen, weltbewegenden Themen durch einfache Naturbilder auszudrücken, vom Vollmond im Herbst bis zu den Flöhen in seiner Hütte. Basho gab dem Haiku eine ganz neue Anmut. Er vertiefte im Haiku den Zen-Gedanken und begriff Poesie als einen ganz eigenen Lebensstil (kado, der Weg der Poesie). Basho war der festen Überzeugung, Poesie könne eine Quelle der Erleuchtung sein. Erlange Erleuchtung, dann kehre zurück in die Welt der normalen Menschlichkeit, riet Basho. Und weiter: Tritt nicht in die Fußstapfen der alten Meister, aber suche, was sie suchten. Seine Aufmerksamkeit für den Kosmos der Natur entwickelte die Versform des Haiku von einem bis dahin unbedeutendem Zeitvertreib gehobener Klassen zu einem Hauptgenre japanischer Poesie

 

Von Bashō gibt es einige Haiku über den Fuji, aber nur einen kürzeren selbständigen Prosatext. Auf seiner Wanderung des Jahres 1684/85 von Edo aus in seine Heimat nach Iga Ueno und die Zentralprovinzen des Kansai mußte Bashō natürlich durch das Bergland von Hakone reisen. Von dort war
ein Blick auf den Fuji und eine Reflexion des Geschauten durch den Dichter zu erwarten: Am Anfang des Nozarashi kikō (“Auf freiem Feld, dem Wetter ausgesetzt. Reiseschilderung”), der literarischen Frucht dieser Wanderung, finden wir aber lediglich eine einzige Textzeile mit dem nachfolgenden Haiku:

An dem Tag, als wir die Grenzsperre (von Hakone) überquerten, regnete es,
und die Berge waren allesamt in Wolken verborgen:

Nebel, Regenschauer –
ein Tag ohne Blick auf den Fuji
auch nicht ohne Reiz!

 

„Nachdem die Hälfte des dritten Monats schon vergangen, wird in meinem so ganz plötzlich erregend-unruhigen Herzen das Sehnen nach der Blütenpracht zu meinem Wegweiser, und mit dem Wunsche, die Kirschblüte (in den Bergen von) Yoshino zu erleben, breche ich auf...

Drei Tage halten wir Rast unter Yoshinos Kirschblütenpracht. Wir erleben die Landschaft (keshiki) des beginnenden Morgens, der heraufdämmernden Nacht und die sehnsuchtstraurig stimmende Erscheinung des in der Morgendämmerung noch am Himmel stehenden Mondes; (a.a.O., S. 96)“

Für Bashō war das “Un-Gewöhnliche” wichtiger als das zu Erwartende.

 

 

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"Damals war immerzu Festtag. Die Mädchen brauchten nur aus dem Haus zu treten und über die Straße zu gehen, da gerieten sie geradezu in einen Rausch; alles war, besonders nachts, so schön, daß sie, wenn sie todmüde heimkamen, noch immer hofften, das irgendetwas passierte ..."

 

95. Lieblingsbuch: Cesare Pavese. Der schöne Sommer

 

Der schöne Sommer nannte Cesare Pavese (1908 bis 1950) seinen Kurzroman, den er 1940 innerhalb weniger Wochen verfasste und erst neun Jahre später als ersten Teil seiner gleichnamigen Turiner Trilogie veröffentlichte, ergänzt durch die Romane Der Teufel auf den Hügeln und Die einsamen Frauen. Es sei ihm um ein bestimmtes moralisches Klima und das Lebensgefühl der Jugend gegangen: die unbändige Lust, Regeln außer Kraft zu setzen und Grenzen zu erproben.

Gerade in den vierziger Jahren sind die Turiner Nächte heiß und lang und enden erst am frühen Morgen. Ginia geht mit ihren Freundinnen in Cafés und zum Tanzen, arbeitet tagsüber als Näherin und führt ihrem Bruder den Haushalt. Als sie die gewitzte Amelia kennenlernt, wird ihre Sorglosigkeit lasziv. Amelia sitzt einem Maler Modell und stellt Ginia den Freunden vor: Bohemiens, die in staubigen Ateliers an den großen Boulevards wohnen, rauchen, sich in Gesprächen verlieren und ab und zu Zeichnungen anfertigen. Fasziniert lässt sich Ginia auf das fremde Milieu ein und verliebt sich in Guido. Es ist längst Winter, als sie Amelia nacheifert und ihm erlaubt, sie nackt zu malen. Sein verschlagener Freund Rodrigues schaut heimlich zu. Ginia fühlt sich im Innersten beraubt, sagt Maike Albath.

 

"Es scheint eine neue Stadt, in der man am Morgen mit dem Zuge ankommt und weiß, daß man umherlaufen wird, sehen wird, leben wird. Eine Stadt am Meer mit der Sonne, die die letzten Stockwerke der Häuser, der Paläste und die offenen Höhen erleuchtet"

 

DER TEUFEL AUF DEN HÜGELN :Sie waren noch sehr jung, heißt es über Pieretto, Oreste und den Ich-Erzähler, als sie des Nachts sich auf den Straßen Turins die Zeit vertrieben. Pieretto schlief sogar noch weniger. Oreste war derjenige, der am frühesten nach Hause wollte. Er konnte nicht verstehen, was seine Freunde in der Nacht noch anstellen wollten, wenn Kinos und Kneipen geschlossen waren. Pieretto, der am wenigsten schlief, sah manchmal in der Früh die ersten Züge ein – und ausfahren, ging vor dem Bahnhof auf und ab, studierte verschlafene Gesichter von Straßenfegern und Radfahrern. Zwei Bettler schliefen auf Bänken, sie sahen aus, als seien sie erstochen.Oreste hörte gerne zu, wenn seine Freunde erzählten und loslachten, weil sie den Einfall hatten, Mädchen zu wecken, oder auf den Hügeln zu fahren, um das Morgengrauen abzuwarten.

 

"Am folgenden Tag waren wir zu jenem Pavillion zurückgegangen, und hier mußte ich lächeln über Pierettos Vorstellung, die Erde rieche nach Koitus und Tod. Sogar das Summen der Insekten betäubte einen. Ebenso die wogende Frische des Efeus, der klagende Schrei eines Rebhuhns.."

 

In DIE EINSAMEN FRAUEN kehrt Clelia in ihre Heimatstadt Turin zurück, die sie vor siebzehn Jahren verlassen hat. Aus dem ehrgeizigen Mädchen ist eine erfolgreiche Frau geworden. Sie hat in der Modebranche Karriere gemacht und verspürt kein Bedürfnis, sich zu binden. Kaum angekommen, erlebt sie den Selbstmordversuch einer Tochter aus reichem Hause mit. Die junge Rosetta wird für Clelia zum Spiegelbild ihrer selbst, sie möchte die Gründe für die Verzweiflung des Mädchens herausfinden. War es Liebeskummer? Oder Lebensüberdruss? Oder die eng begrenzte Rolle, die das elegante Turin seinen Töchtern aufzwingt und die schon Clelia in die Flucht getrieben hat? Bestürzend modern liest sich der 1949 erschienene Roman. Cesare Pavese zieht die Bilanz eines Frauenlebens zwischen Beruf und Familie und lotet erbarmungslos die Grenzen menschlicher Freiheit aus

 

"Für alle hat der Tod einen Blick./Der Tod wird kommen, und er wird deine Augen haben./Das wird sein wie das Aufgeben eines Lasters,/als erschiene im Spiegel/ein totes Gesicht,/als lauschte man geschlossenen Lippen./Stumm werden wir in den Abgrund steigen."

 

Als Prosaautor errang Cesare Pavese Weltruhm; er hat die italienische Nachkriegsliteratur beeinflußt wie kein anderer. Begonnen hatte er allerdings mit einem Gedicht, und mit einem Gedicht-Zyklus verabschiedet er sich einige Monate vor seinem Selbstmord in einem Turiner Hotel.
Cesare Pavese, 1908 in San Stefano/Cueno geboren, studierte Literaturwissenschaften in Turin, wurde Lehrer und schließlich Lektor bei Einaudi (bedeutender it. Verlag); 1950 wurde er für dieses Buch mit dem bedeutendsten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet.

 

Das Jahr 1950 beginnt er mit einer Tagebucheintragung über den Selbstmord. Seit seiner Jugend begleitete ihn dieser Gedanke. Mit 28 hatte er schon einmal beschlossen, sich umzubringen. Das geölte Seil läge bereit, teilte er einem Freund damals mit. Wer sein Leben lang davon spricht, muss einmal wirklich Ernst machen, damit man ihn noch weiter ernst nimmt. Im März schreibt er: "Man bringt sich nicht aus Liebe zu einer Frau um. Man bringt sich um, weil eine Liebe, irgendeine Liebe, uns in unserer Nacktheit, unserem Elend, unserer Wehrlosigkeit, unserem Nichts enthüllt."

 

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„So bemühte sich Eugen darum, sich in andere hineinzustehlen, obwohl er nur die eigenen Gedanken kannte.“

 

94. Lieblingsbuch: Hermann Lenz. Der Wanderer

suhrkamp taschenbuch 1492, 12.- €

 

Der Wanderer: Das ist der wenig erfolgreiche, aber unbeirrbare Schriftsteller Eugen Rapp. Die Freiheit zu schreiben, die er sich nach Frontjahren und Kriegsgefangenschaft, in einer Zeit, da alle Welt mit dem Überleben beschäftigt war, zuerkannte, macht er noch immer geltend. Und mehr noch: die Freiheit, unzeitgemäß zu schreiben. Seine Lebensformen sind das Schreiben und Wandern.

Drei Wanderungen schildert Hermann Lenz. Es sind drei Strophen einer wunderbaren Melodie. Eines Hohenliedes des Waldes, das hoffentlich nicht bald schon zum Nachruf wird. Der Wanderer ist der selbständige sechste Teil der autobiographischen Romanfolge Verlassene Zimmer, Andere Tage, Neue Zeit, Tagebuch vom Überleben und Leben und Ein Fremdling.

Eugen Rapp, die Hauptfigur, ist knapp fünfzig, und das Wandern kann er sich nur noch selten leisten. Dabei ist er nicht weniger als seine romantischen Vorläufer für immer „draußen“, und das bezieht sich nicht bloß auf seine Vorliebe für den Aufenthalt in der Natur.

 

„Er wollte alle Menschen, denen er begegnet war, aus seiner Erinnerung heraufberufen, -obwohl er wußte, daß er keinem gerecht werden konnte, weil er wenig Ahnung hatte davon, wie er selber war.“

 

Im Mittelpunkt des Werks steht ein neunbändiger autobiografischer Romanzyklus um die Alter-Ego-Figur Eugen Rapp, der mit Verlassene Zimmer (1966) einsetzte und mit Freunde (1997) schloss. Er wird auch Schwäbische Chronik genannt. Fast ohne Parallele in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, erkundet diese Romanfolge essentielle autobiographische Einschnitte und fängt zugleich die politische Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ein. Als herausragend gelten die Romane Andere Tage (1968) und Neue Zeit (1975), die die alltägliche Konfrontation mit dem Dritten Reich wiedergeben. Die Hauptfigur Eugen Rapp bezeichnete Lenz selbst als die „Volksausgabe des Schriftstellers Hermann Lenz“. Wie Eugen Rapp sind auch die anderen Figuren seiner Romane keine „Helden“, sondern oft Alltagsmenschen, die sich durch ihre besondere Humanität auszeichnen. So faszinieren seine Bücher auch weniger durch dramatische Handlungen als durch Inhalt und Wirkung der bildhaften Sprache. Lenz geht von einem autobiographischen Konzept aus: „Schreiben, wie man ist“, lautet eine seiner zentralen Maximen. Es strebt danach, in den genau dargestellten Lebensdetails einen metaphysischen Hintergrund anzudeuten, in dem „Vergangenes und Gegenwärtiges ineinanderfließen“.

In Büchern wie Dame und Scharfrichter (1973) oder Der Wanderer (1986) gelang es Lenz immer wieder, die autobiographische und die transzendierende Komponente seines Schreibens zusammenzuführen. Als markantestes Stilmittel setzt er dabei die Form des "inneren Dialogs" ein, der die Figurenperspektive transparent macht und die Spiegelungen der Außenwelt unmittelbar in Empfindungen überführt. Neben seinen Rapp-Romanen und der gelegentlich publizierten Lyrik legte Lenz eine Vielzahl von Romanen und Erzählungen vor. Diese tauchen, wie Die Begegnung (1979) und Erinnerung an Eduard (1981), in der Welt des 19. Jahrhunderts ein, oder sie entwerfen, wie die 1980 abgeschlossene Trilogie Der innere Bezirk, bewusste Gegenentwürfe zur eigenen Biographie. Gelegentlich, vor allem mit Das doppelte Gesicht (1949) oder Spiegelhütte (1962), folgte Lenz Erzähltraditionen, die an Formen des Magischen Realismus anknüpfen. Hermann Lenz hat "zeitlebens im surrealen Fach gearbeitet, in einem Reich der Phantasie, das einzig ihm gehörte."

 

Es ist der Gestus des stillen Abseitsbleibens, der das Buch DER WANDERER beherrscht, ein romantischer Gestus, wie der Autor selbst weiß, der seinen Eugen Rapp Mörikes Gedichte auf die Wanderung mitnehmen und Eichendorffs „Taugenichts“ erwähnen läßt. Beim Wandern will er über „sich selbst klarwerden“, und: „Die Einsamkeit nützt dir tief“, sagt Eugen Rapp zu sich selbst. „Da zieht’s dich also zu den Gräsern, zu den Tieren. Du wärst vielleicht ein guter Schäfer geworden, dachte Eugen und kam sich überflüssig vor.“

 

Auch sonst zeigt sich Lenz als ein Erzähler, der mehr als sein Handwerk beherrscht. Die wahllos erscheinenden Alltagsbeobachtungen bestehen, man achte einmal darauf, aus lauter in sich abgeschlossenen Einzelszenen, die unauffällig anekdotisch und mit versteckten Pointen die formale Kontrolle eines strengen Dramaturgen verraten. Nichts wird zu lange ausgedehnt, die Räsonnements sind nicht penetrant „zuende“ gedacht. Alles ist rasche Abfolge, ständiger Abbruch, überraschender Wechsel. Das schafft eine innere Spannung und läßt bei äußerlich scheinbar beschaulicher Idylle im Leser keine Beschaulichkeit aufkommen.

 

Hermann Lenz wurde am 26. Februar 1913 in Stuttgart geboren und starb am 12. Mai 1998 in München. Nach dem Abitur im Jahr 1931 studierte Lenz Theologie in Tübingen und anschließend von 1933 bis 1940 Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik in Heidelberg und München. Von 1940 bis 1946 war er als Soldat in Frankreich und Russland stationiert und kurze Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Seine schriftstellerische Arbeit begann Lenz 1946 in Stuttgart. Im selben Jahr heiratete er die Kunsthistorikerin Hanne Trautwein. Zu seinen Hauptwerken gehören die Romane Andere Tage und Neue Zeit um sein Alter Ego Eugen Rapp. Von 1951 bis 1971 war Lenz Sekretär des Süddeutschen Schriftstellerverbandes.1972 begegnete er zum erste Mal Peter Handke. Ab 1975 lebte Lenz in München. Er erhielt zahlreiche Preise für seine Werke

 

Man hat Sympathie mit diesem Eugen Rapp. Sein träumerisches Abseits schützt ihn vor der schlechten Tat. Aber Vorsicht: Die Haltung Rapps ist nicht mit der forsch entschuldigenden „inneren Emigration“ zu verwechseln, mit denen viele Nachkriegsdeutschen, insbesondere auch in Deutschland verbliebene Schriftsteller, ihre Haltung während der Nazizeit idealisierten. Überhaupt fehlt Eugen Rapp jegliches Missionarische. Aber er lebt mit bewundernswürdiger Konsequenz seine Abseitigkeit.

 

Lenz, Schöpfer des großartigen Taugenichts Eugen Rapp lässt sein „Alter Ego“ (Näheres dazu in den Frankfurter Poetikvorlesungen von 1986) auf 2800 Seiten in neun mitteldicken Romanen fast das ganze 20. Jahrhundert erleben: eine Kollektivgeschichte der deutschen Gesellschaft, nutzbar als „Spielzeug für die Leser, die ihre Erfahrungen in die Wörter des Autors projizieren, falls ihnen dies möglich ist“. Nichts ist geschönt, nichts harmonisiert. „Da erfährt man, wer man ist.“

 

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Lange Zeit hat dieser Autor geschlummert. In meinem Bücherregal. Gerne gelesen, ja. Immer wieder. Auch das. Allmählich habe ich in Gesprächen mit Freunden diesen Schriftsteller anders und näher kennengelernt. Jetzt ist er auf dieser Liste. Sehr berechtigt - und natürlich hören die Gespräche nicht auf und es gilt wie immer, alles zu entdecken vom Schreiber, der den Wind mit Namen Jaromir geschaffen hat.

 

93. Lieblingsbuch: Jan Skacel. Für alle, die im Herzen barfuß sind. Lyrik und Prosa.

Herausgegeben von Peter Hamm.
176 S., geb., Schutzumschlag, 12,0 x 20,0
ISBN 978-3-8353-3368-0 (2018)
Wallstein Verlag 20.- €

 

In diesem Sammelband sind Beiträge aus fast allen deutschen Publikationen Skácels vertreten: Aus den Gedichtbänden „Fährgeld für Charon“ und „wundklee“ (in der Übersetzung von Reiner Kunze), sowie „Ein Wind mit Namen Jaromir“ und „Und nochmals die Liebe“ (in der Übersetzung von Felix Philipp Ingold), dazu einige Neu- und Erstübersetzungen von Urs Heftrich.

 

Jan Skácels Lyrik ist voller Klang und Bilder. In kurzen Versen lässt der Dichter Landschaften entstehen, beschwört Vergangenes und beschreibt oder vielmehr feiert immer wieder die Natur. Dabei verbindet Skácel die Freude an Metrum und Takt mit einem klugen Spiel der Traditionen und seiner Vorgänger. Oft mit Trakl und Hölderlin verglichen, entwickelte der tschechische Dichter eine ganz eigene Sprache, in der sich romantische Naturbeschreibung mit politischem Scharfsinn verbindet und Alltagsbeobachtung mit lyrischem Formenreichtum vermischt wird. Diese Auswahl von Skácels Gedichten und Miniaturen ist eine Einladung, sein Werk kennenzulernen oder wieder zu lesen, das fast hundert Jahre nach der Geburt des Dichters immer noch voller Frische und Aktualität ist. Drei Texte über Jan Skácel komplettieren den Band, von Peter Handke, Philippe Jaccottet und Peter Hamm.

 

Jan Skacel, geboren 1922 in Vnorovy, gestorben 1989 in Brünn, war ein tschechischer Autor. Skácel arbeitete nach seinem Studium beim Rundfunk und als Chefredakteur im Kulturressort. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände sowie Prosa, bis seine Werke vom kommunistischen Regime verboten wurden. Erst ab 1981 durften sie wieder erscheinen. Seine Texte galten als eigenständige Kunstwerke und zugleich als Medien eines politisch-kritischen Geistes. Skácel wurde in seinem Todesjahr 1989 mit dem Petrarca-Preis und dem Vilenica-Preis ausgezeichnet.

 

„Immer ist in uns ein hauch von traurigkeit
auf kleinen bahnhöfen,
wo niemand wartet.
[…]
plötzlich ist in uns zu viel vom menschen.“

So kamen mir durch Skácel die Sagen der Kindheit neu in den Sinn, die Sagen nicht nur meiner persönlichen, sondern unserer gemeinsamen mitteleuropäischen Kindheit, die Sagen, Märchen und Fabeln aus der, wie die Gedichte es offenbaren, immer noch, auch jetzt gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, fortbestehenden und weiterwirkenden Kindheit der mitteleuropäischen Völker, wo im frischen alten Animismus die Wurzeln der Bäume tief unten in der Erde nachts ebenso aufleben wie im Finstern der Weinkeller in den Fässern "die Sonne aus dem vorvorletzten Jahr", während an der Straße "die weiße Staubwehe schläft" und der Fluß einen Vers "flucht, wenn er so über die Steine / nachts, im Dunkeln, stolpert". (Peter Hamm, Laudatio zur Verleihung des Petrarca-Preises)

 

„kindheit ist das was irgendwann
gewesen ist und aus dem traum nun hängt
ein faden fesselrest den man
zersprengen kann und nie zersprengt“

Die Empfindung beim Lesen von Jan Skácels Gedichten ist wie die von wärmendem Sommergras unter den bloßen Sohlen. So beruhigend, begütigend, erdend wirken seine Gedichte. Die meisten sind, mag das Wort auch fehlen, Liebesgedichte. Sie sind allesamt unterkellert von Musik. Gedichte, die jeweils zugleich Erzählungen sind.
Peter Handke

Seine Art zu gehen und im Gehen den Blick zum Boden gesenkt zu halten, als würde er die Landschaft gleichsam von Grund auf… vom Erdboden her einlesen, um sie später in der Kneipe oder daheim in der Küche in seinem Heft niederzuschreiben. Sein feiner Humor und subtile Melancholie imprägniert unverwechselbar einen Großteil seiner Lyrik.
Felix Philipp Ingold

 

Wenn ich überhaupt begriffen haben sollte, was Poesie ist, verdanke ich es tatsächlich vor allem den Autoren des tschechischen Poetismus und Jan Skácel.
Reiner Kunze

 

„Längst weißt du doch die große Bedürftigkeit
all der minderen Dinge ist jetzt angebrochen
all jener geringsten
und noch um vieles geringeren Dinge“

 

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Dann versuchte der junge Mann aus dem Süden, der immer noch an seinem Pult saß, sich zu erheben; doch seine Gliedmaßen waren befallen von einer seltsamen Trägheit, und er bewegte sich faultierhaft: nur so bewahrte er sich davor, zu Boden zu stürzen…Endlich – und wider den eigenen Willen – brachte er ein lautes Stöhnen hervor, welches ihn erschreckte und seine Klassen-Genossen für den Augenblick verstummen ließ. Er betrachtete seine Augen im Spiegel und murmelte: Das ist kein Ort für mich – nicht für die nächste halbe Stunde, geschweige denn für zwei Jahre. Kaum eine Stunde später saß er in einem Bus, beschwingt wie eine Lerche, auf dem Weg nach New York, wo er dann recht zufrieden in seiner Y.M.C.A.-Unterkunft lebte.

 

 

"Wer nicht vergessen kann, wird nie ein Ziel erreichen"

Kierkegaard in Entweder Oder

 

ist das Motto des nächsten Buches

 

92. Lieblingsbuch: WALKER PERCY. DER IDIOT DES SÜDENS

 

 Für seinen Erstlings-Roman The Moviegoer ( Der Kinogeher, ins Deutsche übersetzt von Peter Handke) erhielt er 1962 den National Book Award. Auch den hier vorgestellten Roman Der Idiot des Südens, den Percy 1966 schrieb, hat Handke übersetzt.

Percy hat in seinen Romanen den inneren Zustand der USA schon früh überaus kritisch, aber auch ironisch, dargestellt. In  Liebe in Ruinen aus dem Jahre 1971 heißt es beispielsweise: Unsere geliebten alten USA sind in einem schlimmen Zustand. Amerikaner haben gegeneinander den Arm erhoben; Rasse gegen Rasse, Rechts gegen Links, Gläubige gegen Heiden, San Francisco gegen Los Angeles, Chicago gegen Cicero. 

 

"Als Heranwachsender hatte er in einem Stand lebhaftester Erwartung gelebt, mit dem stillschweigenden Gedanken: Wie schön wird es sein, ein Mann zu werden und zu wissen, was zu tun ist - ähnlich einem Apachenjüngling, welcher im richtigen Augenblick allein aufbricht in die Steppe, sich da einträumt, erleuchtet wird und bei der Rückkehr dann weiß: Ich bin ein Mann. Jedoch ein solcher Augenblick war nicht gekommen, und er wußte immer noch nicht, wie er leben sollte."

 

Das ist Williston Bibb Barrett, aus altangesehener Südstaaten-Familie, in der die Männer früherer Generationen offenbar bereits so ziemlich alles geleistet haben, was Männer leisten können. Weil es ihm "schlecht (ging), wenn andere Leute sich wohl fühlten, und gut, wenn sie sich schlecht fühlten", hat er sein Studium in Princeton abgebrochen. Als Nacht-Hausmeister, der sich gerade eben "Techniker" nennen darf, hält er sich in New York auf und fragt sich, was es mit seinen Deja-vu-Erlebnissen auf sich hat und mit jenen neurasthenischen Zuständen, die er "Gedächtnisverlust" nennt. "Sie sind ein sehr hartnäckiger junger Mann und stellen sehr viele Fragen."

Durch ein starkes Fernrohr, das er zur garantiert distanzierten Erkundung der Stadtlandschaft erworben hat, denn er ist "ein Betrachter und ein Lauscher und ein Wanderer", verliebt er sich in ein Mädchen auf einer Parkbank; er spürt sie in handgreiflicherer Wirklichkeit auf und wird dank seinen nach Oberschicht duftenden Manieren sogleich in eine komplette Aristokratenfamilie aus Alabama einbezogen. 

 

Als Percy dann 1966 "The Last Gentleman" publizierte, den nun als "Der Idiot des Südens" deutsch vorliegenden Roman, in dem wiederum ein Südstaatenmensch mit seelischen Außenseiter-Qualitäten das Einkehr- und Heimkehr-Rezept für sich entdeckt, muß er schockierend und konterrevolutionär gewirkt haben: man hatte damals schließlich gefälligst die eigene dekadente Herkunft zu überwinden und die Welt zu verändern; nicht in Erbhöfen unterzuschlüpfen und sozial irrelevante Fragen zu stellen wie Held Barrett: "Ich möchte wissen, ob eine Nervenkrankheit verursacht werden kann durch Nichtausübung von Geschlechtsverkehr."

 

William Barrett ist der Protagonist seines Romans Der Idiot des Südens. Er ist der vorläufig letzte Spross einer Südstaaten-Familie, von der es heißt, sie sei ehrbar und zugleich unbändig gewesen; aber die Unbändigkeit hatte sich mehr und mehr nach innen gekehrt. Und weiter heißt es von ihr: Die Familie hatte sich im Lauf der Zeit der Ironie zugewendet und die Fähigkeit zu handeln verloren.

 

Vom Urgroßvater wird berichtet, er habe noch unterscheiden können; seine Sprache und seine Handlungen gehorchten diesem Maß, und er scherte sich nicht darum, was ein andrer darüber dachte. Auch der Großvater hat noch unterscheiden können, war sich aber in Wirklichkeit nicht so sicher. Er war tapfer und grübelte zugleich viel, wie er tapfer sein könnte. Letzteres wird auch vom Vater gesagt, der vor allem darauf aus war, als ehrenvoll zu gelten und ein angesehener Mensch zu sein. So strengte ihn das Leben an, und er wurde zum Ironiker…Schließlich starb er an seiner eigenen Ironie und Traurigkeit, sowie an der Anstrengung, einen gewöhnlichen Tag in einem vollkommenen Tanz von Ehrbarkeit zu durchleben.

 

 

"Es handelt sich um Leute wie Sie, denen es schwerfällt, mit anderen in einer selbstverständlichen Weise umzugehen. Wie Sie befinden sie sich in dieser oder jener Phase einer Identitätskrise. Unter ihnen ist ein Romanschriftsteller, der nicht mehr schreiben kann, ein Techniker wie Sie, der mit Digitalrechnern arbeitet und Zustände von Depersonalisation hat. Es ist auch eine Schauspielerin dabei, die ihren Text nicht mehr behält. Dann ist da eine Hausfrau mit ein wenig mehr Angst, als sie bewältigen kann – einerseits psychisch labil, andererseits auf Erfolg aus. Außerdem ein außerordentlich empfindsamer Schwarzer, der nicht auf Erfolg aus ist – für ihn ein echtes Identitätsproblem. Und schließlich noch vier Sozialarbeiter."

 

 

Ich an Ihrer Stelle würde es ausnahmsweise vorziehen, dieses Buch zu lesen. Selbst Bartleby würde mal eine Ausnahme machen.

 

 

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91. Lieblingsbuch:

Sergei Timofejewitsch Aksakow. Bagrovs Kinderjahre

Manesse-Verlag 1978, 528 S.

 

Sergei Timofejewitsch Aksakow* 20. September in Ufa; † 30. April in Moskau) war ein russischer Schriftsteller.

Aksakow stammte aus dem östlichen Russland, einer Landschaft, die er in seinen Werken immer wieder beschrieben hat. In seiner Kindheit oder kurz davor wurden die damals noch unberührten Gebiete durch Russen kolonisiert und besiedelt. Die ursprünglichen Bewohner, besonders Baschkiren und Mordwinen traf Aksakow noch öfter an. Nach kränklicher Kindheit besuchte er das Gymnasium in Kasan und seit 1805 die hier neu gegründete Universität. Er begeisterte sich für das Theater und ergriff gegen den als altmodisch angesehenen Literaten KaramsinPartei. 1807 ging Aksakow nach St. Petersburg, 1812 nach Moskau, wo er Olga Semjonowna Saplatina heiratete. Er lebte mit ihr auf seinem Gut Aksakowo im Gouvernment Orenburg. Dieser Ehe entstammten vier Söhne und fünf Töchter.

1826 übersiedelte Aksakow mit seiner Familie nach Moskau. Da die Erträge seines Gutes aber nicht ausreichend waren, nahm er auf Vermittlung seines Gönners Schischkow eine Beamtenstelle als Zensor an. Dem Regime von Zar Nikolaus I. war er jedoch zu nachgiebig, wodurch er bald wieder entlassen wurde. 1833 wurde Aksakow Inspektor, 1835 Direktor der Feldmessschule in Moskau. Nachdem 1837 sein Vater gestorben war, konnte Aksakow nun ab 1838 auf seinem Gut frei von beruflichen Verpflichtungen leben. Als patriarchalischer Gutsherr frönte er seinen Leidenschaften der Fischerei und Jagd und führte ein gastfreundliches Haus, worin sich literarisch und wissenschaftlich interessierte Persönlichkeiten trafen. Von besonderer Bedeutung wurde hier die Bekanntschaft mit Nikolai Gogol, der Aksakow ermunterte zu schreiben. 1843 gab Aksakow sein Haus in Moskau auf, und übersiedelte auf den Landsitz Abramzewo bei Moskau. Da er zunehmend erblindete, diktierte er seiner Tochter Wera seine Bücher, die nun zum Großteil in der ländlichen Ruhe seines Alterssitzes entstanden. Aus der Erinnerung an seine Jugendjahre verfasste Aksakow einige Bücher, die ihm großes Ansehen verschafften. Er starb mit 67 Jahren.

Aksakows Bedeutung für die russische Literatur beruht vor allem auf seinen Kindheitserinnerungen bzw. den Berichten über seine Familie. Die aus kindlicher Sicht dargestellten Ereignisse sind Meisterwerke nicht nur der russischen Literatur, sondern auch der Weltliteratur. Die Darstellung ist realistisch, jedoch immer liebenswürdig. Die Naturliebe des Autors kommt immer wieder zum Ausdruck.

1858 erschien das vollkommenste Buch Aksakows: BAGROWS KINDERJAHRE. Anders als in Tolstois 6 Jahre früher erschienener KINDHEIT und Bunins SUCHODOL die zusammen mit Aksakows Erinnerungen zu den schönsten klassischen Kindheitsbüchern nicht nur der russischen Literatur zu zählen ist, zeigt sich hier die Welt des fein empfindenden, etwas kränklichen und darum lange ängstlich behüteten Knaben: offener in Licht und Schatten, unverstellt durch moralische oder psychologische Reflexionen und Urteile des Autors, leidenschaftlich hingegeben der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten, den Wäldern und Kornfeldern, den Schlittenfahrten, den Tieren in freier Wildbahn, den glanzvollen Familienfesten und dem ersten Leid - machtvoll und schlicht in der Mündlichkeit des Berichts, nur scheinbar wie ein Märchen aus dem alten Russland.

 

Lesen Sie alles, was Sie kriegen können von diesem großartigen Schriftsteller.

 

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Intermezzo

 

Warum lesen?

Erschienen: 22.06.2020 - Gebunden, 347 Seiten - ISBN: 978-3-518-07399-5 - Suhrkamp, 22.- €

 

Hier: ANNIE ERNAUX:

 

"Ich bin zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren alt. Ich muss meinem Vater vorgeworfen haben, er interessiere sich 'für nichts', lese nur Paris-Normandie, das Lokalblatt. Er, der sonst immer mit Geduld und Güte auf meine Einzelkind-Allüren reagiert, dantwotet hart: 'Bücher, das ist was für dich. Ich brauche sie nicht, um zu leben.'

Diese Worte haben die Zeit überdauert, sie stecken tief in mir. Wie ein Schmerz oder eine unerträgliche Wirklichkeit. Ich wusste genau, was mein Vater damit sagen wollte. Die Lektüre von Alexandre Dumas, Flaubert und Camus hatte für ihn als Kneipenwirt keinen praktischen Nutzen, sie half ihm nicht im Umgang mit den Gästen. Trotzdem ahnte er, dass Bücher in der Zukunft, die er für mich sah und sich für mich erhoffte, eine wichtige Rolle spielten, dass sie zu einem großen Ganzen gehörten - dem berüchtigten 'Hintergrund' -, dass sie zusammen mit Theater, Oper und Wintersport die Merkmal einer sozial höherstehenden Welt waren. Ich begriff das alles und fand es inakzeptabel. Ich verweigerte mich den Gedanken, dass die Welt der Bücher jenem Menschen, der mir neben meiner Mutter am nächsten stand, verschlossen bleiben sollte. Seine Worte bekräftigten eine Trennung zwischen ihm, der mit zwölf auf einem Bauernhof gearbeitet hatte und mir, die ich das Abitur anstrebte. Es war, als wandte er sich von mir ab. Er gab mir die Verletzung zurück, die ich ihm zuvor zugefügt hatte. Das Lesen stand zwischen uns, es war eine gegenseitige Verletzung.

Jetzt, da ich darüber nachdenke, warum ich lese, kommen mir beharrlich die Worte meines Vaters in den Sinn, eine unüberwindbare Aporie. Nein, das Lesen ist nicht dasselbe wie leben, und doch lebe ich seit ich denken kann, in Gesellschaft von Büchern. Ungläubig ermesse ich die Kluft zwischen der Bedeutung, die das Lesen für mich hat, und seiner völligen Bedeutungslosigkeit im Leben anderer. Ich kann mich nicht in einen Menschen hineinversetzen, der nicht liest, selbst dann nicht, wenn ich mir dunkle Zeiten meines Lebens in Erinnerung rufe, in denen alle Worte sinnlos sind- oder solche in denen ich so sehr von Leidenschaft und Glück erfüllt war, dass Lesen uninteressant war, minderwertig im Vergleich zu der Aufregung des gegenwärtigen Moments...

Beim Lesen ist man eine Zeitlang vom eigenen Ich getrennt, man lädt eine fiktive Person oder das ICH des Autors, der Autorin, in seinen Innenraum ein, man lässt sich von dem anderen Schicksal mitreißen, berühren. Beim Lesen lässt man zu, dass eine Stimme in unser Bewußtsein eindringt und unsere eigene Stimme ersetzt, Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen....

 

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Sind wir, was wir gelesen haben? Schärft Lesen die Wahrnehmung? Den Gemeinsinn? Was geschieht im Gehirn, wenn wir lesen? Gibt es ein illegitimes Lesen? Ein ekstatisches? Liest man alt anders als jung? Wie las man im Sozialismus? Was liest man im Krieg? Was bedeutet Lesen in unserer heutigen Abstiegsgesellschaft? Macht Nicht-Lesen am Ende glücklicher?

Dies ist ein Lesebuch und ein Buch über das Lesen, eine Anthologie, die das welt- und selbsterschließende Abenteuer des Lesens beschreibt, seziert und feiert. Ausgehend von ihren literarischen oder wissenschaftlichen Arbeiten nehmen sich 24 Autorinnen und Autoren die Freiheit, das Thema auf ihre Weise zu behandeln: in Gestalt einer Theorie, einer Erzählung, einer Kindheitserinnerung oder als Streifzug durch die eigene Bücher- und Lesegeschichte.

 

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90. Lieblingsbuch: Büchners "Lenz" beschreibt eine Fluchtbewegung, und auf der Flucht hat er sie verfaßt: nachdem das Komplott in Hessen verraten, die Mehrzahl seiner politischen Freunde verhaftet, die Hoffnung auf eine Revolution in Deutschland zerschlagen war. Am 9. März 1835 floh Büchner nach Straßburg, am 13. Juni war der Steckbrief gegen ihn heraus. Gesucht wurde ein einundzwanzigjähriger Student der Medizin, blond und mit "sehr gewölbter. Stirn", wegen seiner "Teilnahme an staatsverräterischen Handlungen". Der Grund: die Abfassung eines Flugblatts, das zum gewaltsamen Aufstand in Hessen aufrief, und Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung namens "Gesellschaft für Menschenrechte".

 

Georg Büchner. Lenz

978-3150191767, 4.- € Reclam Studienausgabe

»... als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm …« Mit seinem kurzen Erzähltext über den Sturm-und-Drang-Dichter J.M.R. Lenz, der in geistiger Umnachtung endete, gelingt Büchner ein detailliertes Psychogramm des »unglücklichen Poeten«, dessen Texte in ihrer Intensität und Expressivität in der deutschen Literatur ohne Vorbild sind. Die Textgrundlage dieser Ausgabe bildet als »einzig authentischer Textzeuge« der von Karl Gutzkow herausgegebene Erstdruck von 1839. Der Anhang enthält neben einem ausführlichen Nachwort wichtige Quellen und Materialien zum Kontext.

 

 

Büchner lässt Lenz aber nicht etwa ein unmittelbares Opfer adeliger Repression werden. Vielmehr teilt der fiktive Lenz das Schicksal jener Figuren, die der echte Lenz 50 Jahre zuvor in seinen Dramen beschrieb: Als überaus sensibler Mensch zerbricht er an den Anforderungen des Alltags. Büchner zeichnet ein für seine Zeit sehr modernes Menschenbild: das des innerlich zerrissenen Individuums, das vergeblich nach Sinngebung sucht. Indem er seinem Helden die Gestalt des Verlierers gibt, schreibt Büchner gegen die idealistisch geprägte Vorstellung vom Menschen an. Die literarische Dichte, die der erst 22-jährige Autor in Lenz erreicht, ist einzigartig. Sie verleiht dem schmalen Werk des jung Gestorbenen eine Bedeutung, die in der deutschen Literatur nicht wieder zu finden ist.

 

Büchners Werk Lenz, der in dem Zeitraum „Sommer 1835 und Frühjahr 1836“ in Straßburg entstand und die einzige Erzählung im Repertoire des Autors darstellt, basiert zum größten Teil auf den Aufzeichnungen des Pfarrers Friedrich Oberlin, in dessen elsässisches Heimatdorf der Sturm und Drang – Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz im Jahre 1778 gelangte und wo es zum Ausbruch seiner geistigen Krankheit kam. „Der Pfarrer Oberlin [...] hat die Schreie, Ausrufe, Erschütterungen, Selbstmordversuche eines vom Wahnsinn Bedrohten aufgezeichnet“. Büchners Werk wird auch als „erste klinisch exakte Fallbeschreibung der Schizophrenie“ betrachtet.

 

"Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“

 

Jakob Michael Reinhold Lenz entdeckte die Widersprüche zwischen den niederen Ständen und den gebildeten Klassen für die Literatur zu einer Zeit, da Goethe und Schiller die Emanzipation des Bürgertums vom Feudalismus literarisch vorbereiteten. Fünfzig Jahre später drang Georg Büchner auf die praktische Auflösung des Gegensatzes zwischen "Armen und Reichen" zu einer Zeit, da in den "untersetzten deutschen Verhältnissen" nicht einmal eine bürgerliche Revolution bevorstand. Erst ein knappes Jahrhundert später fanden deren Ziele Eingang in eine deutsche Verfassung – das Ergebnis nicht etwa einer siegreichen Revolution, sondern eines verlorenen Weltkrieges. Anders als Goethe, der mit einem soliden Sinn für Macht ausgestattet war, waren Büchner und Lenz weder bereit noch fähig, soziale Widersprüche aus der Wahrnehmung auszugrenzen, weil ihre Aufhebung noch nicht an der Zeit war. Beide waren sie "ihrer Zeit weit voraus", wie die Späteren gern anerkennen, freilich ohne den Preis zu nennen, den diese Zufrühgekommenen zu Lebzeiten zahlten: Verhaftung, Verbannung, Flucht in den Wahnsinn.

 

"Die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuren Riß; er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung – eine schreckliche Leere, und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte nichts."

 

J. M. R. Lenz, selber ein Pfarrerssohn, hatte bei Pfarrer Oberlin im Elsaß Zuflucht gefunden. Oberlins Aufzeichnungen über Lenz’ Aufenthalt in Waldersbach, den Ausbruch und Verlauf seiner Krankheit bis zum gewaltsamen Abtransport nach Straßburg kamen Büchner im Sommer 1835 vor Augen. Wie schon im "Hessischen Landboten", in "Dantons Tod" und später im "Woyzeck" bildet ein historisches Dokument die Grundlage. Die Genauigkeit und Schönheit der Vorlage ist über Büchners Erzählung fast vergessen worden. Zu Unrecht: Büchner selbst zögerte nicht, Oberlins Bericht überall dort wortwörtlich zu übernehmen, wo ihm die Arbeit schon gemacht schien; er hat abgeschrieben, gestrichen und hinzugefügt. Die Literaturwissenschaft hat sich vor allem um die Textstellen gekümmert, die Büchner hinzugefügt hat. Für Büchners Arbeitsweise womöglich bezeichnender ist, was und wieviel er von Oberlins Text stehen gelassen hat.

 

„Peter Schneider erzählt 1973 Büchners gleichnamige Novelle neu: Die Geschichte eines jungen Intellektuellen, der Ende der 60er Jahre in hohem Tempo durch die Landschaft läuft, die Landschaft der Einkaufsstraßen, Fabrikhallen, Kneipen, der großen Städte und der kleinen Gruppen. Lenz stößt an emotionale Barrieren, die – bis in die linken Gruppen hinein – seinem Anspruch auf eine Dialektik von Hass und Glück, emotionalen und politischen Bedürfnissen im Weg stehen. ‚Lenz‘ handelt von den psychischen und politischen Unsicherheiten der linken Intelligenz – sie zeigt, dass Sensibilität und Radikalität durchaus vereinbar sind.“

 

 

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89. Lieblingsbuch: »Klüssendorfs Mädchen ist eine Heldin unserer Zeit« (Die Zeit) – und nun wird es erwachsen.

 

Angelika Klüssendorf. April

Kiepenheuer & Witsch, 18,99 €, auch als Taschenbuch erhältlich

 

 

Die Kindheit ist vorüber, aber erlöst ist das Mädchen deshalb noch lange nicht. Nach ihrem hochgelobten Roman »Das Mädchen« schreibt Angelika Klüssendorf die Geschichte ihrer jungen Heldin fort. Ihr Weg führt aus einer Jugend ohne Jugend in ein eigenes Leben – das den Umständen abgetrotzt werden muss. Am Anfang stehen ein Koffer mit ihren spärlichen Habseligkeiten und ein Zimmer zur Untermiete. Das Mädchen, das sich mittlerweile April nennt – nach dem Song von Deep Purple –, hat die Zeit im Heim hinter sich, die Ausbildung abgebrochen und eine Arbeit als Bürohilfskraft zugewiesen bekommen. Zwischen alten Freunden und neuen Bekannten versucht sie sich im Leipzig der späten 70er-Jahre zurechtzufinden, stößt dabei oft an ihre eigenen Grenzen und überschreitet lustvoll alle, die ihr gesetzt werden, am Ende mit ihrer Ausreise auch die zwischen den beiden Deutschlands. Aber jedem Ausbruch folgt ein Rückfall, jedem Glücksmoment eine Zerstörung, jedem Rausch die Ernüchterung. Und immer ist da die Frage nach den Kindheitsmustern, der Prägung durch die verantwortungslose Mutter und den alkoholkranken Vater. Angelika Klüssendorf ist ein weiteres Meisterwerk gelungen. Ohne Pathos, nüchtern und souverän erzählt sie von einem Weg aus der scheinbar ausweglosen Vergangenheit – mit psychologischem Feingefühl und klarem Blick für die gesellschaftlichen Zustände. Es entsteht ein Doppeltes: ein erschütternder Adoleszenzroman und ein nüchternes Porträt der sozialen Zustände im untergegangenen real existierenden Sozialismus – und im West-Berlin der frühen 80er-Jahre.

 

Die Kritiker lobten Klüssendorfs knappe Prosa, ihren nüchternen, unsentimentalen Stil. Und stellten erstaunt fest, dass Klüssendorf die DDR zwar als Schauplatz ihrer Geschichte gewählt hatte, nicht aber als Thema. Ihr schien es um ein Schicksal zu gehen, das ebenso ort- wie zeitlos war.

 

"Es beunruhigt sie, dass sich jemand für ihre Gedanken oder Gefühle interessiert. Warum soll sich sich daran erinnern, was ihr in ihrer Kindheit wichtig war? Ja, sie mochte Tiere, mag sie noch immer, doch was sagt das schon aus? Sie fühlt sich dem Arzt überlegen, versucht sogar, die eine oder andere Frage ins Lächerliche zu ziehen. Trotzdem kommen ihr die Tränen, wenn sie daran denkt, wie sie tage- und nächtelang eingesperrt im Keller Brehms Tierleben gelesen hat, sämtliche Bände. Und nur der Glaube, dass, wenn sie erst erwachsen wäre, alles anders sei, hat sie durchhalten lassen.

Sie erzählt dem Arzt nichts von ihrem Trick, der darin besteht, ihr Gegenüber in Gedanken zu sezieren, mit einem schnellen, sauberen Schnitt den Körper in zwei Hälften zu teilen, die Organe freizulegen, das Herz herauszuschneiden, die Lunge. Ihr Gegenüber ist längst tot, von ihr in Stücke zerlegt, ohne es zu wissen. Diese Vorstellung bewahrt sie davor, losheulen zu müssen. (S. 45)"

 

April ist eine Rebellin: Sie klaut und trägt am liebsten einen Nicki aus dem Westen, bedruckt mit einer USA-Flagge, und eine geflickte Levi's. April ist eine Trinkerin: Sie mag Wein und Schnaps und den Kräuterlikör Stonsdorfer, das Lieblingsgetränk ihres alkoholkranken Vaters. April ist eine Träumerin: Abends schreibt sie lange Briefe an fiktive Geliebte, in denen sie sich mal als Studentin vorstellt und mal als Schauspielerin. April ist eine Hochstaplerin: Sie erfindet Geschichten, um Aufmerksamkeit zu erringen, um interessant zu wirken, um gemocht zu werden. April ist eine einsame Seele: Als sie einmal systemkritische Literatur und Kunst in der Untergrundmappe "Anschlag" zusammenstellt und verteilt, scheint es ihr mehr darum zu gehen, Kontakte zu knüpfen, als darum, gegen das System zu protestieren. Und so ist bei ihr auch der Protest eine Form des Opportunismus, eben nur innerhalb einer bestimmten Szene.

 

Im einen Moment braucht April Menschen, Nähe, Liebe - und im anderen Moment kann sie sie nicht gebrauchen, nicht ertragen. Denn so sehr sie auch das Alleinesein fürchtet, noch mehr fürchtet sie die Abhängigkeit von anderen. Angelika Klüssendorf ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Dies zeigt sie insbesondere in den beiden Büchern DAS MÄDCHEN und APRIL.

 

"Die junge Frau klingelt an der Wohnungstür im Erdgeschoss. Auf dem Schild steht in verschnörkelter Schrift: Frl. Jungnickel. Ein Vogel zwitschert, zwei kurze Triller, dann ist es wieder still. Der Mann neben ihr räuspert sich, auch er drückt den Klingelknopf, ungeduldig und länger anhaltend. Diesmal sind Schritte zu hören, das vergitterte Türfenster wird geöffnet, eine Alte schaut heraus, regungslos, nur ihr eines Lid zittert."

 

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"Die Frauen sind schwarz von Kopf bis Fuß, tragen mit zwanzig Jahren Trauer um ihre eigene Jugend. Im ständigen Kampf mit einer Existenz, die sie genauso fesselt wie ihre Kleidung … bringen sie ihre Kinder hastig zwischen zwei Waschtagen zur Welt, begraben sie ihre Toten zwischen zwei Ernten, verfügen sie nie über das, was man in privilegierten Kreisen „einen Augenblick für sich“ nennt. … Ohne Übergang gleiten sie aus einer welken Jugend, wie ausgeglüht von einer bösen Sonne oder ausgezehrt von einem Fieber, hinüber in eine rührige und alterslose Dürre. Am Ende ihres Lebens nehmen sie im Haus nicht mehr Platz ein als ein Schemel. Man lässt sie in einer Ecke und rührt sie nicht mehr an, bis sie ohne Umstände verlöschen."

 

88. Lieblingsbuch: Jean Carrière. Der Sperber von Maheux

 

 

Seit 1808 leben die Reilhans im Hochplateau der Cevennen. Sie leben von Kastanien mit Milch, Pilzen, ein bißchen Wild, saurem Wein und den wenigen Ernteerträgen, ohne je mehr als ein paar Sous zurücklegen zu können; ein Leben unter dem würgenden Diktat der Jahreszeiten, der Schneestürme und Dürren, in absoluter Bedürftigkeit.

Das ist auch 1920 nicht anders, als es dem letzten Reilhan, dem "Schweigsamen" gelingt, eine Frau aus der fernen Bergarbeitersiedlung zu finden. Aus einem Fortsetzungsroman sucht er sich die Liebesbriefe an sie zusammen. Und die sauber abgeschriebenen Bürger-Phantasien vom Leben auf dem Lande, von blauen Himmeln, blühenden Wiesen und plätschernden Bächen werden ihr zur Falle.

 

"Mitten im August … sieht man das Elend der Dinge, sieht man gleichsam ihre von der Gewalt des Lichtes ausgezehrte Kehrseite, aschfarbene Wege, schmutzige Erdflächen vom ranzigen Gelb afrikanischer Steppen, schiefergepanzerte Wände, die den fiebrigen, bleifarbenen Glanz eines Gewittertages zurückwerfen; Schäfereien, am Boden zermalmt durch das Gewicht riesiger Schieferziegel, auf die die Sonne herunterbrennt und deren Trümmer wie Schulterblätter auf dem Boden bleichen; Weiler, hier und dort angefressen durch hohle, dornengeschwärzte Gebäude, die ihre gekalkten Fassaden in emsiger Verschachtelung in die Höhe winden, um sehen zu können, was in der Ferne geschieht."

 

"Wenn man die Dinge wiederfindet, sieht man sie auf einmal, als hätte man sie nie gesehen." Carriere entdeckt sie wieder, die vergessene, niedergemachte, die Natur im Rohzustand. Und auf einmal entdecken wir, daß wir in der zweiten Natur, die wir uns angerichtet haben, zwischen Plastik, Beton und Chemikalien schon grad so insektenhaft verloren sind wie die Reilhans in ihrer steinigen Einöde.

 

Beeindruckend ist, wie es Carrière gelingt, sehr tief in seine Charaktere vorzudringen, gedankliche und emotionale Innenwelten glaubhaft nachzuzeichnen. Eben noch dem Erzähler lauschend gerät der Leser fast übergangslos mitten hinein in die Weltsicht der Protagonisten, beginnend mit der Mutter, dann Josef, schließlich der Vater, den Hausarzt nicht auslassend, um am Ende Leben und Sinn mit den Augen des einfältigen Abel zu betrachten. Mit solchen Perspektivwechseln gelingt es Carrière, jeden seiner Charaktere lebendig werden zu lassen; zugleich zeigt er, dass jeder für sich ein logisches, in sich stimmiges Lebenskonzept hat. Beim Versuch, die unterschiedlichen Ansichten und Wünsche und die daraus resultierenden Interessenskonflikte der Protagonisten verstehen zu wollen, merkt der Leser, dass Begriffe wie gut und böse nicht weiter helfen: zu begrenzt deren Spielraum, zu idealistisch der Anspruch. In Carrières Roman gibt es keine Helden, niemanden, der dauerhaft die Sympathie des Lesers zu gewinnen vermag. Die Welt wird nicht gerettet; sie dreht sich nur weiter. Harter, nüchterner Realismus vor einem Hintergrund außergewöhnlicher Poesie zeichnet das Buch aus, in dem Prosa und Lyrik überzeugend vereinigt sind.

 

Jean Carrière wurde 1932 als Sohn eines Dirigenten in Nimes geboren. Im Hochland von Nimes und Uzès wuchs er auf, »frei und ein bisschen verwildert«, wie er selbst schreibt. 1953 ging er als Musikkritiker nach Paris, kehrte jedoch nach drei Monaten wieder in den Süden zurück. Mehrere Jahre lebte er in Manosque im Umkreis von Jean Giono. Sein erster Roman »Retour à Uzès« erschien 1967 und wurde mit dem »Prix de l’Académie Française« ausgezeichnet. Für seinen Roman »Der Sperber von Maheux« erhielt Jean Carrière 1972 den »Prix Goncourt«, den bedeutendsten französischen Literaturpreis. Carrière starb 2005.

 

"Knochen überall, eine afrikanische Sonne, Schatten von der frischen Bitterkeit Armorikas: Das ist das Hochland. Die Alten sterben, die Kinder gehen weg, die Häuser werden verschlossen. Das ist seine Geschichte."

 

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Endlich: „Auf meine Anzeige hin stand eines Morgens ein regloser junger Mensch auf der Schwelle meiner Kanzlei, denn es war Sommer, und die Tür stand offen. Ich sehe die Gestalt noch vor mir – farblos ordentlich, mitleiderregend anständig, rettungslos verlassen! Es war Bartleby.“

 

87. Lieblingsbuch: Herman Melville. Bartleby

Insel Bücherei 1466, 14.- €

 

Ein älterer Anwalt und Notar berichtet von einem seiner Schreibgehilfen namens Bartleby, den er eines Tages in sein von Hochhäusern umstelltes lichtloses Büro in der Wall Street aufnimmt. Bartleby beginnt seine Tätigkeit mit stillem Fleiß und einsiedlerischer Ausdauer. Er kopiert unermüdlich Verträge, lehnt aber zur Überraschung seines Arbeitgebers schon bald jede andere Tätigkeit mit den Worten ab: „Ich möchte lieber nicht“ (“I would prefer not to”). Bald weigert er sich sogar, Verträge zu kopieren, wohnt aber inzwischen in dem Büro – höflich, freudlos, ohne Freunde und fast ohne zu essen. Der Rechtsanwalt kann oder will ihn nicht gewaltsam aus der Kanzlei entfernen lassen und auch eine großzügige Abfindung interessiert Bartleby nicht. Wegen eines unerklärlichen Einverständnisses mit Bartleby sieht sich der Rechtsanwalt am Ende gezwungen, selbst aus der Kanzlei auszuziehen, statt Bartleby vor die Tür zu setzen. Seine Nachmieter – weniger verständnisvoll – lassen Bartleby bald durch die Polizei abführen und in das Gefängnis The Tombs („Die Gräber“) bringen. Dort verweigert Bartleby sowohl alle Kommunikation als auch alle Nahrung. Der Rechtsanwalt versucht, sich um seinen „Freund“ zu kümmern, aber nach wenigen Tagen stirbt Bartleby an seiner Lebensverweigerung. Das einzige, was der Anwalt über das Vorleben Bartlebys erzählen kann, ist ein ihm später zu Ohren gekommenes Gerücht, wonach Bartleby früher in einem Dead Letter Office arbeitete, einer Sammelstelle für nicht zustellbare Briefe.

 

„Seinem Körper hätte ich Almosen geben können, aber sein Körper schmerzte ihn ja nicht; seine Seele war es, die litt, und seine Seele konnte ich nicht erreichen.“

 

Bartleby der Schreiber ist eine Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville, die unter dem Originaltitel Bartleby the Scrivener veröffentlicht wurde. Es ist das erste Werk, das Melville nach Moby Dick verfasste, und wurde zunächst anonym im November und Dezember 1853 in zwei Teilen in der Zeitschrift Putnam’s Monthly Magazine veröffentlicht. Eine leicht veränderte Fassung wurde zusammen mit fünf anderen Erzählwerken in Prosa-Kurzform, unter anderem Benito Cereno und Billy Budd, erstmals in Buchform 1856 in den Sammelband The Piazza Tales aufgenommen.

 

Unzählige Philosophen haben sich an Bartleby abgearbeitet und an seiner berühmten Widerstandsformel, die im englischen Original lautet „I would prefer rather not to“. Giorgio Agamben sieht in Bartleby ein Sinnbild dafür, wie man sich Autorität, Herrschaft und Recht passiv und doch effektiv widersetzt. Und Slavoj Žižek fügte hinzu, Bartleby könne keiner Fliege etwas zuleide tun. Das mache seine Präsenz so unerträglich.

 

Kaum ein Werk fiktionaler Literatur erfreut sich heute sowohl in sozialen Bewegungen als auch innerhalb radikaler politischer Philosophie und Gesellschaftstheorie größerer Prominenz als Herman Melvilles Erzählung Bartleby the Scrivener (1853). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einer politischen Neuentdeckung des Melville’schen Werks. Dabei erreichte insbesondere Bartlebys Verweigerungsstrategie unerwartete Popularität in der globalisierungskritischen Bewegung und später im Rahmen von Occupy Wall Street.

"Soweit es mich betrifft, als Individuum und unabhängig vom Geldbeutel ist es mein ernstliches Verlangen, solche Bücher zu schreiben, die man gemeinhin als 'gescheitert' bezeichnet."

Dies notiert der 30-jährige Herman Melville 1849, nach den ersten Erfolgen als Autor. Eigentlich will er, frisch verheiratet, nun seine wachsende Familie mit der Schreiberei ernähren. Doch – und da tut sich ein Widerspruch auf – er will eben anderes schreiben. So entsteht dann sein heute berühmter Roman "Moby Dick". Ein Welterfolg. Allerdings erst Jahrzehnte nach Melvilles Tod.

Sein Übersetzer Friedhelm Rathjen merkte an: "Zwanzig bedrückte Jugendjahre, fünf exzessive Wanderjahre, zwölf öffentliche Jahre als zunächst erfolgreicher, dann verhöhnter Schriftsteller, schließlich dreieinhalb Jahrzehnte der Leere." Rathjen meint, dass über den Jahrzehnten der Leere das stehen könnte, was Melville 1857 in Rom notierte: "An diesem Tag nichts gesehen, nichts gelernt, nichts genossen, aber einiges durchgemacht."

 

 

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ICH HÖRTE DEN NAMEN JESSENIN (ein Gedicht von Guntram Vesper, der auch jederzeit auf diese Liste gehörte)

Seine Bauern verhungern

und in Leningrad wird

der erste

Dichter erschossen

Drei Tage Frankreich

die Flucht zu Elisabeth Duncan, dann

kommt er zurück an die Newa

die eigene Haut ist besser

als jede glitzernde fremde

und hängt sich

auf, lies es nach

 

86. Lieblingsbuch: Sergej Jessenin. Gedichte

 

 

 

Sergej Jessenin (1895–1925)

Am 20. Dezember 1924 schrieb Jessenin aus Batumi: „Ich habe begriffen, was Poesie ist. Sagen Sie nicht so unbedacht, daß ich nicht mehr an meinen Versen arbeite. Das stimmt nicht. lm Gegenteil, ich stelle jetzt noch höheren Anspruch an die Form. Nur: ich bin bei der Einfachheit angekommen und sage mir: ,Warum, beim Himmel, sollte ich mich schämen, von nun an Verben in den Reim zu nehmen!‘“

Jessenin hatte bis, zu diesem Dezember zwanzig kleinere und größere Gedichtsammlungen veröffentlicht. Dennoch schien es ihm „zu früh, irgendeine Bilanz zu ziehen“. Leben und Dichtung stünden noch bevor. In Wirklichkeit blieb ihm ein Jahr: am 27. Dezember 1925 erhängte er sich in einem Zimmer des Leningrader Hotels Angleterre. Sein letztes Gedicht, aus Mangel an Tinte mit Blut geschrieben, gab er wenige Stunden zuvor einem Freund und bat ihn, es später allein zu lesen.

Hand und Wort? Nein, laß – wozu noch reden?
Gräm dich nicht und werd mir nicht so fahl.
Sterben −, nun, ich weiß; das hat es schon gegeben;
doch: auch Leben gabs ja schon einmal.

Er schrieb 1924 in einer Autobiographie: „… und dann begann – wie bei allen Russen in den Jahren 1918 bis 1921 – mein Wanderleben. Ich war in Turkestan, im Kaukasus, in Persien, auf der Krim, in Bessarabien, in den Orenburger Steppen… – 1921 heiratete ich I. Duncan und fuhr nach Amerika; vorher zog ich durch ganz Europa, außer Spanien. – Nach dem Ausland sah ich Heimat und Ereignisse anders. Unser grad erst ausgekühltes Nomadenlager gefällt mir nicht. Mir gefällt die Zivilisation. Aber Amerika liebe ich gar nicht. Amerika – verbreitet einen üblen Gestank, in dem nicht nur die Kunst verkommt, sondern überhaupt bestes menschliches Wollen. Wenn man heute Kurs auf Amerika nimmt, bin ich bereit, unseren grauen Himmel vorzuziehen und unsre Landschaft: die Hütte, ein bißchen in die Erde gewachsen, die Darre, aus der eine riesige Stange ragt, und eine magere Stute in der Ferne läßt ihren Schweif im Winde wehen. Das sind freilich keine Wolkenkratzer, die im Augenblick zwar einen Rockefeller und einen MacKormik hervorbrachten, dafür aber ist es das, was bei uns Tolstoi, Dostojewski, Puschkin, Lermontow und andere erzog.“

 

Fall nicht, Stern, mein Stern, bleib oben,
schick das kalte, schick das Licht.
Nahe, sieh, die Kirchhofspforte −
Toten Herzen schlagen nicht.

 

Felderstille voller Strahlen,
Sternenkorn, augustgewiegt,
lichtdurchbebt: du klagst mit allen
um den Kranich, der nicht fliegt.

 

Ich – ich schick die Augen über
Strauch und Hügel, weit hinaus,
lausch und hör – und hör die Lieder
von Daheim und von Zuhaus.

 

Dünner steigt der Saft der Birke,
Herbst kam golden durch das Kratt.
Allen, die ich ließ und liebte,
weint er nach ein Birkenblatt.

 

Ach die Stunde kommt, die Stunde,
unverschuldet, ungefragt,
und ich lieg, lieg hier, lieg unten,
und ein kleines Gitter ragt.

 

Seine Flamme, mir zu scheinen,
Herz, gehst hin und wirst zu Staub.
Freundeshand kommt mit dem Steine,
und ein muntrer Reim steht drauf.

 

Aber ich, könnt ich noch schreiben,
solches hätt ich hier bestellt:
Säufer lieben ihre Kneipe −
seine Kneipe war die Welt.

 

Übersetzt von Paul Celan

 

Die kommunistische Bürokratie prägte den Begriff "Jessenismus" - Synonym für "moralische Schwäche" und "pathologischen Individualismus" und somit Gefahr für die Gesellschaft. Nur häppchenweise und in großen Abständen durften seine Gedichte erscheinen, doch zirkulierten stets Kopien seiner Manuskripte, zumal unter der Jugend. Daß zum ersten Mal eine weitgehend komplette Ausgabe nicht nur des lyrischen Werkes, sondern auch seiner Poeme und Prosaarbeiten endlich ins Deutsche übertragen vorliegt, ergänzt durch Briefe und reiches Fotomaterial, können wir dem Verlag Volk & Welt und dem Herausgeber Leonhard Kossuth nicht genug danken.

In der Liste der Nachdichter glänzen Namen wie Paul Celan, Rainer Kirsch, Elke Erb, Adolf Endler und Annemarie Bostroem. Bei einigen besonders bekannten Gedichten hat man sich entschlossen, zwei alternative Fassungen anzubieten, kommen doch mitunter Freiheiten der Nachschöpfer dem vom Original vermittelten poetischen Milieu näher als allzu treues Klammern ans Wort. Leider steht der russische Text nur in acht Fällen zum Vergleichen parat; ein paar mehr hätten es ruhig sein dürfen. Von diesem Wunsch abgesehen: Die drei kornblumenblauen Bände sind ein Geschenk von unendlichem Wert.

 

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Auch wieder so ein Autor, bei dem ich gar nicht entscheiden kann, welches Buch mir am besten gefallen hat. Im Grund alle und es sind viele bei Emmanuel Bobovnikoff...

85. Lieblingsbuch: Emmanuel Bove. Meine Freunde

Bibliothek suhrkamp 744, 18.- €. Aus dem Französischen von Peter Handke

Batons Gänge durch die Stadt verfolgen nur ein Ziel: Er will jemanden zum Freund gewinnen. Seine vorübergehend geknüpften Bekanntschaften bleiben flüchtig, so flüchtig wie der tägliche Gang durch die Straßen seines Bezirkes, wie seine kurzweilige Einkehr in Cafés, in heruntergekommene Kaschemmen und Säuferlokalitäten, flüchtig wie sein Besuch des Metzgers, des Bäckers, des Zeitungsverkäufers. Sogar die unansehnliche Wirtin Lucie will ihn nicht länger als ein paar Nachtstunden bei sich behalten.

Von allen diesen Figuren, die wie Statisten in ein Szenario der Normalität gestellt werden, zeichnet Bove ein Porträt - statisch, lakonisch, sachlich. „Meine Freunde“ ist die rückhaltlose Beichte eines Mannes, der bei den Menschen Halt sucht, ihnen durch die Straßen folgt, um herauszufinden, ob sie ihm Freund werden wollten, und der am Ende doch immer wieder allein ist. Das Besondere: Bove erzählt die inneren Qualen seiner Figur nüchtern, so als seien sie nur von den äußeren Erscheinungen, von dem, was nach außen dringt ablesbar. Bis heute verfehlt die fast manische, schon im Vorfeld jeder Begegnung vorweggenommene Interpretation aller Zeichen, die auf das Misslingen deuten, nicht seine Wirkung. Je stärker Victor Baton seine Bedürfnisse und sein Wunsch nach einem dauerhaften Kontakt und Anteilnahme am Leben des anderen artikuliert, desto mehr verstellt er seine immer wieder neu initiierten Bemühungen, seiner Isolation und damit sich selbst zu entkommen. Im Einerlei der Tage, Wochen und Monate wird Baton lediglich als etwas akzeptiert, das zum Straßenbild gehört.

 

Boves Werk umfasst etwa 30 Romane, dazu kommen zahlreiche Erzählungen und Kurzgeschichten. Bove wirft einen Blick hinter die Kulissen des französischen Bürgertums seiner Zeit und entlarvt die scheinheilige Moral einer Gesellschaft, die Regeln aufstellt, um sie heimlich zu brechen.

Emmanuel Bove war der Sohn eines mittellosen russischen Lebemanns, seine Mutter war ein Dienstmädchen aus Luxemburg. Vor und neben seiner schriftstellerischen Arbeit musste er, wie viele andere auch, seinen Lebensunterhalt lange Zeit hindurch mit Gelegenheitsjobs verdienen. Zwischen 1926 und 1936 war Bove auch als Reporter (journaliste de faits-divers) für mehrere Zeitungen und Zeitschriften tätig, u. a. für Le Quotidien, Détective und Paris-Soir; die dabei gemachten Erfahrungen mögen mit in die beiden Kriminalromane eingeflossen sein, die Bove 1933 verfasste: Le meurtre de Suzy Pommier und (unter dem Pseudonym Pierre Dugast:) La Toque de Breitschwanz. Zwischendurch unternahm er zahlreiche Reisen ins europäische Ausland. Als im Zweiten Weltkrieg das Vichy-Regime begann, den deutschen Besatzern die Juden auszuliefern, floh Bove 1942 nach Algerien. Er weigerte sich daraufhin, seine Bücher in Frankreich erscheinen zu lassen. 1944 kehrte er in das befreite Frankreich zurück.

Lesen Sie auch: EIN VATER UND SEINE TOCHTER: Diese Erzählung erschien erstmals im Jahr 1928. Der Leser tritt augenblicklich ein in das trostlose Leben des vorzeitig gealterten Jean-Antoine About. Von den Mitbewohnern des Hauses wird er gemieden, jeder geht ihm aus dem Weg. Fast alleinige Ansprechpartnerin für ihn ist Mathilde, seine Haushälterin. Dann trifft ein Telegramm ein, eine Botschaft seiner Tochter Edmonde. Lange braucht es, ehe das verbarrikadierte Bewußtsein Abouts es überhaupt zuläßt, daß es seine Tochter ist, die ihn benachrichtigt hat. Ganz im Sinne der unerhörten Begebenheit dringt man in Form einer Rückblende in das Leben dieses scheinbar Gescheiterten ein. Wird der äußerlich inzwischen liederliche, sich hermetisch abschließende Vater einen Neuanfang zulassen?

und DINAH: Ein vernünftiger Ehrgeiz hat den Architekten Jean Michelez veranlasst, sich als Bauunternehmer selbständig zu machen. Auch in seinem Gefühlsleben schließt er einen Kompromiss: Nachdem er lange Zeit auf das ideale Wesen gewartet hat und immer wieder enttäuscht wurde, zieht er nun jede beliebige Gesellschaft der Einsamkeit vor. Er lebt nach dem Grundsatz, nichts zu geben, ohne etwas zu erhalten - im Beruf wie in der Liebe. Mehr als ungelegen kommt ihm daher eine Bitte seiner Nachbarin Madame Auriol, die nach dem Tod ihres Mannes zurückgezogen und ärmlich in einem Gartenhaus lebt und sich ganz der Pflege ihrer kranken Tochter Dinah hingibt. Den Aufenthalt in der Schweiz, der nach Auskunft des Arztes das einzige Heilmittel für Dinah sein könnte, kann sich Madame Auriol nicht leisten, weshalb sie sich in ihrer Not an Michelez wendet. Dieser weigert sich zunächst, ihr zu helfen. Erst als es zu spät ist, gewinnt seine wahre Natur die Oberhand.

und EIN MANN, DER WUSSTE: Der siebenundfünfzigjährige Maurice Lesca wohnt mit seiner Schwester Emily in einer kleinen Wohnung an der Rue de Rivoli in Paris. Einst war er Arzt ohne Berufung, heute geht er keiner Beschäftigung mehr nach. Er ist arm und lebt von den gelegentlichen Zuwendungen einiger großzügiger Bekannter aus früheren Zeiten. Das ist alles, was wir mit Sicherheit wissen von einem Mann, dessen Wesen und Verhalten im Laufe der Ereignisse immer mysteriöser werden. Was hat es mit seiner jämmerlichen Untüchtigkeit und seiner unbeholfenen Art auf sich, die er im Umgang mit seiner Schwester etwa oder mit Madame Maze, die er regelmäßig in ihrem Buchladen besucht, so meisterhaft einzusetzen versteht? Geld ist ihm gleichgültig. Behauptet er. Und doch spinnt sich das ganze Geschehen um eine Intrige - oder ist es doch keine Intrige? -, bei der Geld im Spiel ist. Was geht hier vor? Wer ist Maurice Lesca?

und natürlich alle anderen auch. Reden wir über ihn, es lohnt sich.

 

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84. Lieblingsbuch: Vor ein paar Tagen erschienen: Die schlaflosen Nächte liegen hinter mir, es hat sich gelohnt, nicht geschlafen zu haben, unglaublich... "Zehn Jahre zuvor, als ich kurz vor der Hochzeit stand, war ich bereit gewesen, die Sammlung von Frauenbildern zu verbrennen, die ich in früheren Jahren aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Doch bei einigen Bildern, die meine Favoriten gewesen waren, hatte ich gezögert. Jedes Mal war es das Bild einer Frau, die zumindest eines der Male hatte, nach denen ich suchte. Ich verabschiedete mich leicht von den Frauen, die einheitlich golden oder beige waren; nur wenn ich sturzbetrunken oder verzweifelt war, hatten sie mir etwas bedeutet. Die sommersprossigen Frauen aber waren stets als mir besonders zugehörig erschienen..." schreibt einer der bedeutendsten lebenden Gegenwartsautoren

 

GERALD MURNANE in LANDSCHAFT MIT LANDSCHAFT,

Bibliothek Suhrkamp 1514, 24.- € Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt, im Juni 2020 erschienen

 

Ein Mann soll vor einem komplett weiblich besetzten Komitee die Wahrheit über sein Intimleben aussagen, doch je mehr er sich anstrengt, desto unrettbarer verheddert er sich in seine Phantasien und Träume. Ein anderer Mann sucht im Hügelland rings um die Metropole über zwanzig Jahre lang wie besessen nach einer Landschaft und einer Frau, die kein Künstler zu malen vermöchte. Ein Dritter – oder ist es ein- und derselbe Mann? – sabotiert sich auf Partys selber mit Drinks, bei dem Versuch, Frauen nachhaltig zu beeindrucken, indem er ihnen minutiös seine neueste Theorie des Schreibens auseinandersetzt.
Niemals ist pointierter, hellsichtiger, aberwitziger über männliche Befangenheiten geschrieben worden – Landschaft mit Landschaft, das sind weitreichende, bewusstseinserweiternde Erkundungen von Gegenden, inneren wie äußeren Gegenden, in denen wir eigentlich noch nicht gewesen sind. In kräftig erzählten, raffiniert ineinander greifenden Geschichten unternimmt Gerald Murnane, »der große Solitär der Gegenwartsliteratur« (The New Yorker) eine Reise durch die Vororte Melbournes in den frühen sechziger Jahren. Und umkreist dabei die miteinander kollidierenden Bedürfnisse nach Katholizismus und Geschlechtsverkehr, Autonomie und Intimität, Alkoholexzess und Literatur.

 

"Irgendwann während des Abends ertappte ich mich dabei, wie ich auf zwei Sommersprossen starrte, die eine der Komiteefrauen an der Unterseite des Halses hatte. Ich nannte die braunen Male zwar Sommersprossen, doch verwechselte ich sie nicht mit den gewöhnlichen Flecken, die das Sonnenlicht auf zumeist blassen Gesichtern und Unterarmen hervorruft. Die Frau war unter ihrer Kehle von den dunkelbraunen Leberflecken gezeichnet, die gelegentlich auf den am wenigsten der Sonne ausgesetzten Körperteilen auftauchten. Ich zog es vor anzunehmen, diese Male seien nicht durch Sonnenlicht verursacht, sondern wüchsen aus den Tiefen unter der Haut unausweichlich nach außen. Ihre Lage sei daher nicht das Zufallsergebnis von Wetter, sondern Anzeichen der Besonderheit eines Körpers: Sie seien Landmarken einer besonderen Haut..."

 

Gerald Murnane, geboren 1939 in Melbourne, ist der vielfach ausgezeichnete – und mit u.a. Kafka, Calvino, Borges und Thomas Bernhard verglichene – Autor von zwölf Romanen, Erzählungsbänden und Essays. Nachdem Murnane in den 1950er-Jahren kurz an einem katholischen Priesterseminar teilgenommen hatte, verlor er seinen Glauben und widmete sich der fiktionalen Literatur. Er schrieb zwei autobiographische Romane Tamarisk Row und A Lifetime on Clouds. 1982 erlangte er seinen reifen Stil mit The Plains, einem kurzen Roman über einen jungen Filmemacher, der in ein fiktives Land weit im Inneren von Australien reist. Der Roman ist eine metaphysische Parabel über Schein und Wirklichkeit. Weitere Bücher, wie der Roman Inland (1988) und die Sammelbände Landscape With Landscape (1985) und Emerald Blue (1995), setzen dieses Thema fort. Die Essay-Sammlung Invisible Yet Enduring Lilacs erschien 2005. Anfang 2006 wurde bekannt, dass Murnane an einem neuen fiktionalen Werk arbeite.

 

Lesen Sie auch: GRENZBEZIRKE, Bibliothek Suhrkamp 1507, 18.- €

 

Ein alter Mann zieht aus der Hauptstadt in eine entlegene Ortschaft im Grenzland, dort will er die letzten Jahre verbringen. Welche geistigen Eindrücke bleiben, fragt er, aus einem Leben, das der Betrachtung gewidmet war und dem Lesen? Die sehnsüchtige Anmutung einer dunkelhaarigen Frau? Der Familiensitz in einer kargen Landschaft? Die gelenkige Schönheit eines gewissen Rennpferdes? Die Farbigkeit durchscheinender Glasfenster? Eine Zeile Proust? Und so beginnt der Mann, im Zwielicht seiner Tage, diesen seinen Schatz zu katalogisieren, kaum ahnend, wohin sein »Bericht« ihn führen wird und welche Geheimnisse dabei ans Licht kommen.

Grenzbezirke ist eine Geste des Abschieds. In Bildern gespenstischer Tiefe erzählt Gerald Murnane das Leben eines leidenschaftlichen Lesers, strauchelnden Liebhabers und praktizierenden Gläubigen – ein Glauben nicht an die Gemeinplätze der Religion, sondern an die unwiderlegbare Leuchtkraft des Erinnerns und der Literatur.

 

und DIE EBENEN, Bibliothek Suhrkamp 1499, 16.- €

 

In den Ebenen im Outback, auf ihren riesigen Ländereien, leben Familien, die eine eigentümliche, teils fort-, teils rückschrittliche Kultur pflegen. Besessen von der eigenen Überlieferung, heuern sie Maler, Musiker, Schriftsteller und Denker an, um jeden Aspekt ihres Lebens dokumentieren zu lassen. Ein junger Filmemacher kommt in die Region, um ein Porträt jener Ebenen zu realisieren. Doch statt in die Landschaft zu gehen, vergräbt er sich in der labyrinthartigen Bibliothek seines Gönners, durch die, auf verschiedenen Zeit-Ebenen, Projektionen von Frauen geistern. Alles treibt auf »Offenbarungen« hin …

Die Ebenen ist ein moderner Klassiker der australischen Literatur und erzählt – in einer hypnotisierenden Prosa von akrobatischem Bau – die Geschichte einer existenziell aufgeladenen Suche und eines sonderbaren Selbstverlustes.

 

Percy Bysshe Shelley, der große englische Lyriker des beginnenden 19. Jahrhunderts schreibt: Wie eine Kugel aus vielfarbenem Glas / färbt Leben das weiße Strahlen der Ewigkeit. Das Buntglas findet man auch in den Landschaften dieses Autors. Murnane erzählt von diesem Strahlen am Horizont des Bewusstseins, das alles gelebte Leben enthält, es aber nicht direkt abbildet. Es gibt noch so viel zu entdecken in der Welt der Literatur. Für mich ist Gerald Murnane 81 Jahre nach seiner Geburt die größte Entdeckung in dieser Hinsicht seit vielen Jahren.

 

"Er hatte versucht, über Orte zu schreiben, über die er selbst nie schreiben konnte: Orte, die warten mussten, bis ein Mann, von dem noch nicht geträumt worden war, zufällig auf sie stieß." (29)

Lesen Sie Gerald Murnane. Landschaft mit Landschaft und Sie werden ein neues Verständnis von Literatur erwerben, etwas, was bisher bei Ihnen im Verborgenen schlummerte.

 

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83. Lieblingsbuch: „Etwas enttäuscht und doch auch entzückt, begriff ich, dass das Kind nun endlich den Gefährten gefunden hatte, auf den es unbestimmt gewartet hatte. Ich spürte wohl, dass er gekommen war, um mir die einzige Freude, die er mir gelassen hatte, wieder wegzunehmen. Und schon konnte ich mir vorstellen, wie er in der Nacht seine Tochter in einen Mantel hüllt und mit ihr aufbricht – zu neuen Abenteuern.“

Henri Alain-Fournier. Der große Meaulnes - Roman
Aus dem Französischen von Christina Viragh. Mit einem Nachwort von Hanno Helbling
Suhrkamp 9,99 €

 

Ein Sohn eines Volksschullehrers in der nordfranzösischen Provinz, findet an einem Novembersonntag des Jahres 1890 in dem siebzehnjährigen Augustin Meaulnes einen langersehnten Freund. Die beiden Jungen sind »Schwärmer, Schlafwandler zwischen Traum und Wachen, enthusiastisch gebannt von den Reizen einer inneren Welt voller Schönheit und Liebe« (Ludwig Harig). Als Meaulnes in einem verwunschenen Herrenhaus der schönen Yvonne de Galais begegnet, sie aber gleich wieder aus den Augen verliert, macht er sich mit François auf eine Suche, die die intime Jugendfreunschaft auf die Probe stellen, und Jahre später in Paris die Geschicke beider Männer bestimmen wird.

In Frankreich schnell zum Kultbuch avanciert, erzählt diese wehmutsvolle Geschichte von einem jungen Mann, »dessen Kindheit zu schön war«, und von der zauberhaften und tragischen Freundschaft zweier ungestümer Träumer, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch gleichermaßen von einer betörenden Frauengestalt in Bann gezogen werden.

 

Alain-Fournier (wie er sich – ohne einen Vornamen – als Autor nannte) wurde im zentralfranzösischen Berry als erstes Kind eines Lehrerehepaares geboren. Seine Kindheit verbrachte er mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Isabel auf dem Land, mit 12 wurde er in eine „Pension“ (Privatschule mit Internat) in Paris geschickt, weil er anschließend dort ein renommiertes Gymnasium, das Lycée Voltaire, besuchen und später als Wissenschaftler arbeiten sollte. Mit 15 wechselte er jedoch auf das Gymnasium von Brest, das Vorbereitungsklassen für die französische Marineschule führte, denn er hatte beschlossen, Marineoffizier zu werden. Mit 16 gab er diese Idee wieder auf und absolvierte mit 17 das Abitur in Bourges.

Am Himmelfahrtstag 1905, mit knapp 19, hatte er eine flüchtige Begegnung mit einer jungen Frau, Yvonne de Quièvrecourt, in die er sich schwärmerisch verliebte. Er verlor sie aber nach einem weiteren kurzen Treffen aus den Augen und erfuhr zwei Jahre später enttäuscht, dass sie inzwischen geheiratet hatte. Auch seine Hoffnungen auf einen Studienplatz an der ENS erfüllten sich nicht: nach einem dritten Jahr Vorbereitungsklasse hatte er zum zweiten Mal Pech bei der Aufnahmeprüfung (concours) und musste sein Ziel einer Karriere als Gymnasial- oder gar Universitätsprofessor aufgeben. Als am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Alain-Fournier als Leutnant der Reserve eingezogen. Bei den Kämpfen um`Éparges , südlich von Verdun, kehrte er am 22. September mit seinen Leuten von einer Patrouille nicht zurück und blieb vermisst. Erst 1991 wurden seine sterblichen Reste dank der Erkennungsmarke in einem Massengrab identifiziert

 

"Später, wenn er einschlief, nachdem er verzweifelt versucht hatte, sich an das schöne, jetzt schon verschwommene Gesicht zu erinnern, sah er im Traum Reihen von jungen Frauen, die dieser glichen. Die eine trug einen Hut wie sie, die andere hatte ihre etwas nachdenkliche Miene; eine andere wieder ihre zarte Gestalt und wieder eine andere ihre blauen Augen; aber keine dieser Frauen war wirklich das große junge Mädchen."

 

François Seurel ist der Sohn eines Volksschullehrers im Norden Frankreichs. Im November des Jahres 1890 kommt der etwas ältere Augustin Meaulnes als neuer Schüler in den kleinen Ort. Obwohl die beiden völlig unterschiedlich sind, der eine still und zurückhaltend, der andere wild und ungezügelt, werden die beiden sofort zu Freunden. Auf einem Streifzug stößt Meaulnes auf das Mädchen Yvonne de Galais. Die Begegnung bedeutet einen Wendepunkt im Leben der beiden, denn Meaulnes tut alles, um das schöne Mädchen wiederzufinden.

Der Roman Der große Meaulnes des französischen Schriftstellers Henri Alain-Fournier erschien im Jahr 1913 und war in der engeren Auswahl für den Prix Goncourt. Als ein Jahr später der erste Weltkrieg ausbrach, fiel der Autor im Alter von nur 28 Jahren bei Verdun. Der große Meaulnes ist sein einziger Roman.

Die Geschichte spielt in der nordfranzösischen Provinz und wird größtenteils aus der Perspektive des Lehrersohns François Seurel erzählt. Zusätzlich enthält der Roman noch fiktive Briefe und Tagebucheinträge. Das Landleben und der Schulalltag werden alles andere als idyllisch beschrieben. So gibt es häufig gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Schülern und auch das Leben in dem kleinen Ort zeichnet sich durch harte Arbeit und Ärmlichkeit aus. Die großen Themen des Romans sind Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden

 

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"1 Leben für die deutsche Literatur; und immer finden sich Mistviecher, die mir Schwierigkeiten machen! Ich protestiere hiermit feierlich dagegen, jemals als DEUTSCHER SCHRIFTSTELLER von dieser Nation von Stumpfböcken vereinnahmt zu werden! Deutschland hat mich immer nur von Ort zu Ort gehetzt und miserabel für meine cyclopische Schufterei entlohnt!" schreibt dieser Autor an Ernst Krawehl im März 1963

 

82. Lieblingsbuch: Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas/Die Umsiedler
978-3596291182 - Fischer 9,90 €

 

SEELANDSCHAFT MIT POCAHONTAS provozierte bei der Erstveröffentlichung 1955 in der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift »Texte und Zeichen« eine Strafanzeige wegen Pornographie. Das sagt mehr über deutsche Zustände der fünfziger Jahre als über die Erzählung. Die Geschichte einer spontanen und flüchtigen Sommerliebe in der niedersächsischen Seelandschaft am Dümmer ist die vielleicht zärtlichste Prosa Arno Schmidts. »Seine wohl schönste Liebesgeschichte«, urteilt Walter Kempowski über Arno Schmidts 1953 entstandene Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas. Der Erzähler Joachim, ein mittelloser Schriftsteller, und Erich Kendziak, ein gutsituierter Malermeister, knattern mit dem Motorrad ins Oldenburgische an den Dümmer See. Die beiden Freunde wollen ein paar Urlaubstage verbringen. Als sie Annemarie und Selma, zwei junge Sekretärinnen, kennenlernen, treten die gemeinsamen Kriegserinnerungen hinter rasch hervorbrechender Vergnügungslust zurück. Joachim und Selma steuern in eine Romanze, die nur wenige Tage währt, sie schreiben ihre Namen ins Wasser und rudern nächtens durchs Schilf. Immer wieder jedoch durchbrechen die rotzigen Kommentare Joachims zu Christentum und Adenauerrestauration das sommerliche Idyll und tauchen die gesellschaftliche und politische Realität der 50er Jahre in unbarmherzig helles Licht.
DIE UMSIEDLER geraten in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit aus Niedersachsen ins rheinhessische Alzey. Diese Liebesgeschichte, zwischen Koffern und Kisten mit letzten Habseligkeiten, fuhrt zwei Menschen zusammen, die Krieg und Vertreibung gezeichnet haben. - Beide Erzählungen schildern die Suche nach einem neuen Lebensanfang in Menschenwürde. Eine verregnete Dezembernacht des Jahres 1950: Ein Mann verlädt sein spärliches Hab und Gut auf einen Güterzug. Wie viele andere erhofft er sich mit der Übersiedelung aus dem Niedersächsischen nach Rheinhessen einen neuen Anfang. Kurz vor Abfahrt am frühen Morgen lernt der Umsiedler eine resolute junge Frau kennen, die im Krieg ihren Mann verloren und selbst einen Fuß eingebüßt hat. Auf der mehrtägigen Bahnfahrt nach Süden kommen sich der bücherversessene Erzähler und seine neue Bekannte näher. Zwischen 1944 und 1950 waren mehr als 12 Millionen Deutsche infolge von Krieg und Vertreibung auf der Flucht. Sie suchten in dem verwüsteten Land eine neue Heimat. Kein Schriftsteller hat das Elend der erzwungenen Auswanderung mit solcher Eindringlichkeit geschildert wie Arno Schmidt in seinem 1953 erschienenen Kurzroman "Die Umsiedler".

 

„Ehe Du für dein Vaterland sterben willst, sieh dir s erst mal genauer an!“ — Arno Schmidt Aus dem Leben eines Fauns, Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Band 1, S. 371

Ein Gedicht, ein Gedicht, dafür isser ja gar nicht bekannt:

 

Trunkner im Dunkel

 

Da eine Geige flüstert um Mitternacht,
hat mich mein Rausch in mondhelle Gassen gebracht;
leicht tönt mein Schritt in der Nacht.

Lampiges Fenster weht auf, Stimmen und Wolkenzug;
Brunnengeliebte am Markt spendet aus steinernem Krug.
Herbstliches Wasser trank ich in stummem Zug.

Wind im Gehölz, Wanderwind striegelt mein Haar;
Kammer in der Du schläfst, füllt er dir wunderbar,
Mond auf den Kissen küßt dich schon manches Jahr.

Da alle Wolken reisen um Mitternacht,
habe auch ich den Weg zu deinem Fenster gemacht:
flüstert mein Lied in der Nacht …..

 

 

 

Arno Schmidt wurde 1914 in Hamburg geboren. Nach Kriegsdienst und Gefangenschaft arbeitete er als Übersetzer und Schriftsteller. Seit 1949 veröffentlichte Schmidt zahlreiche Erzählungen, literarische Radio-Essays und eine umfangreiche Fouque-Biographie (1958). Seit "Zettels Traum" (1970) erschienen seine Prosawerke in großformatigen Typoskriptbänden. Arno Schmidt erhielt den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Zu seinen bekanntesten Werken gehören neben "Zettel's Traum": "Leviathan", 1949 und "Seelandschaft mit Pocahontas", 1959. Arno Schmidt starb 1979 im niedersächsischen Bargfeld, Kreis Celle.

 

 

„Ich bin, wie jeder anständige Mensch, meiner Ansichten oftmals müde.“

Mehr als 20 Jahre lebte er an diesem Ort und verließ nur selten das Haus. Sein Monumentalwerk „Zettel's Traum“ hat er hier verfasst. Das Dorf Bargfeld bei Celle ist bis heute mit Werk und Schaffen des Schriftstellers Arno Schmidt verbunden.

Am Haus „Unter den Eichen 13“ weist nur ein kleines Messingschild den Weg: Arno Schmidt Stiftung. Das Wohnhaus von Arno und Alice Schmidt steht etwas abseits im Garten – klein, freundlich, holzvertäfelt. Arno und Alice Schmidt zogen 1958 hier ein. Besuch nur nach Anmeldung, das gilt damals wie heute.

Es riecht ein wenig ungelüftet, aber es ist geheizt. „So, wie es die Bücher gerne haben, die hier ja noch aufbewahrt werden in Arno Schmidts Bibliothek.“

 

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81. Lieblingsbuch: »Leben heißt, eine Erinnerung zu Ende bringen.« (René Char) Es ist das schriftstellerische Lebensmotto eines Autors, von dem ich alle bisher in Deutschland erschienenen Bücher sofort nach Erscheinen mit Begeisterung lesen musste, ich hatte keine Wahl...

Patrick Modiano. Die kleine Bijou

Aus dem Französischen von Peter Handke, dtv, 9,90 €

 

Als die neunzehnjährige Thérèse im Menschengewühl der Metrostation Châtelet ihre verschollene Mutter wiederzuerkennen glaubt, stürzen die Erinnerungen an die Kindheit im Pariser Bois de Boulogne mit aller Macht auf sie ein. Wie in einem unheimlichen Traum jagt Thérèse der Gestalt hinterher und wird dabei selbst von den Bildern der Vergangenheit verfolgt. Ein Rezensent sieht Modiano bei seiner obsessiven „Beschwörung der verlorenen Zeit" in der Nachfolge Marcel Proust. Den Roman, „der zum Schönsten gehört, was Modiano geschrieben hat“, bezeichnet er als „Meisterwerk“ und „kleine[s] Juwel“. Eine zufällige Begegnung löst eine „Erinnerungskrise“ aus, nach der die Ich-Erzählerin wie in einem Alptraum durch die Stadt irrt, von der verdrängten Kindheit verfolgt wird und in Gestalt eines kleinen Mädchens ihrer eigenen Wiedergängerin begegnet. Hintergründe der Figuren, wie etwa der Hinweis auf die Kollaboration der Mutter, werden nur angedeutet. Auf Ungarisch wird ein Gedicht von Attila Jozsef zitiert, in dem ein Kind nach seiner Mutter ruft. Modiano zeige eine große „Behutsamkeit im Umgang mit [seinen] Figuren“. Als Schüler des nouveau roman schreibe er „eine ganz und gar undeutsche Literatur, leicht, schwebend, mit sich selbst beschäftigt und sehr kunstvoll.“ Das Koordinatensystem der Métro-Stationen bilde den einzigen Halt „in einem verschwimmenden Kontinuum von Erinnerung und Einbildung“.

 

 

Patrick Modiano wurde 1945 in dem Pariser Vorort Boulogne-Billancourt geboren. Sein Vater, Abkömmling sephardischer Juden aus Thessaloniki, war Abenteurer und Kaufmann. Seine Mutter war die flämische Schauspielerin Louisa Colpijn. Modiano machte seinen Schulabschluss am Pariser Lyzeum Henri IV., wo er den Autor Raymond Queneau (Zazie in der Metro) kennenlernte, der ihn bei Gallimard einführte. Bei Gallimard veröffentlichte Modiano dann auch 1968 seinen ersten Romen "La Place de l'Étoile", der die deutsche Besatzung Frankreichs zum Thema hat - wie auch viele seiner späteren Bücher. Modiano erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Academie francaise und den Prix Goncourt. 2014 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen.

 

Ich habe ihn immer verglichen – und da bleibe ich auch dabei –, er ist eigentlich der würdige Nachfolger von Claude Simon, der ja auch mal den Nobelpreis gekriegt hat. Der hat politische Romane geschrieben, die im Grunde nichts anderes waren als minutiöse Vergegenwärtigungen seiner eigenen Vergangenheit, seiner Verstrickung in den Krieg und so weiter und so fort. Das ist wirklich interessant, dass diese Autoren, die so europäisch sind, in Europa eigentlich am wenigsten bekannt sind. - sagt Michael Krüger, sein trotz der Misserfolge beharrlicher Verleger.

 

„All diese Jahreszeiten, die sich ineinander verweben, verleihen Ihnen den Eindruck, die Zeit sei still geblieben.“ in Der Horizont

 

Lesen Sie auch DORA BRUDER: Im Mittelpunkt des Geschehens stehen das Weglaufen des jüdischen Mädchens aus dem katholischen Pensionat im Winter 1941/42 und ihr mehrmonatiges Verschollenbleiben. Es erscheint wie ein kleines, aktives, triumphales Verschwinden vor dem bekannten historischen, kollektiv erlittenen Verschwinden über die Verschiebebahnhöfe und Lager bis in die Namenlosigkeit. Aus jedem Satz, jeder Recherchenotiz, jeder ausmalenden Situationsschilderung spricht die Genugtuung, ja der Stolz des Autors über das Abtauchen seiner Heldin, mit dem sie ihren Häschern noch ein viermonatiges Lebensgeheimnis abtrotzen konnte und durch das sie dem Autor, der auf die Vermißtmeldung ihrer Eltern stieß, überhaupt erst ihre Existenz signalisierte.

 

oder

 

EIN SO JUNGER HUND

 

Paris im Frühjahr 1992 - der Erzähler stößt auf ein altes Foto und die Erinnerung setzt sich in Gang: Francis Jansen hatte es gemacht, der Fotograf mit der Rolleiflex, der bald darauf für immer verschwand. In dessen Atelier war er mitgegangen, das bereits wie verlassen wirkte. Nur die drei Koffer voller Fotos, dem Vergessen überlassen. Das war 1964, Frühling in Paris und er ein so junger Hund. So wie die Fotografien nur zufällige Ausschnitte der Wirklichkeit bezeugen könnten und vom allmählichen Verblassen bedroht seien, spiegele auch die Erzählweise die gleichzeitige Konzentriertheit und Verstörung des Ich-Erzählers wider. Was auf den Fotos nicht mehr zu sehen oder von der Begegnung zu erinnern sei (die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen), erfindet der Erzähler hinzu: eine vorsichtige Rekonstruktion des Geschehens im Kampf gegen das Vergessen,, unternommen in dem Bewusstsein, dass alles dem Vergessen anheim gegeben ist.

 

oder lesen Sie einfach alles, alle 27 in Deutsch erschienen Bücher. Das ist vermessen? Nein.

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Intermezzo

Nach jedem zehnten Buch findet ihr auf unserer Webseite www.bsj-sb.de
Zwischentexte, Intermezzi zum Lesen, Schreiben und zur Auseinandersetzung unter Schriftstellern. Nach dem 80. Lieblingsbuch wird dies  RUTH KLÜGER mit ihren Essays über "anderslesende Frauen" bzw. WAS FRAUEN SCHREIBEN sein.

»Der Gott eines engagierten Lesens ist der Eros. Da überschneidet und scheidet sich männlich und weiblich und wird es, auch bei fortschreitender Gleicheit der Geschlechter tun. Da liegen die Unterschiede, die bleiben, wenn wir die unnötigen Unterschiede in der Erziehung der Geschlechter überwunden haben, was indessen noch lange dauern wird. Inzwischen müssen wir die Unterschiede besser kennenlernen, um ihnen in unserer Ästhetik gerecht zu werden.«
Frauen lesen anders. Der namensgebende Essay dieser Sammlung ist Programm: In elf Aufsätzen untersucht Ruth Klüger aus weiblichem Blickwinkel Goethe und Grimmelshausen, Kleist und Kästner, Stifter, Schnitzler und unseren Zeitgenossen Erich Hackl. Außerdem geht es ihr um das Frauenbild in der Unterhaltungsliteratur und die Schaffensbedingungen von Autorinnen. Die deutsche Literatur wird so in ein neues Licht gerückt.

"Frauen lesen anders" - das behauptete die große Schriftstellerin Ruth Klüger in ihrem berühmten Buch. Nun geht sie der Frage nach, ob Frauen auch anders schreiben. Werfen sie einen "Blick aufs Leben durch anders geschliffene Gläser"? Antwort sucht sie in Werken von so unterschiedlichen Autorinnen wie Herta Müller und Nadine Gordimer, Erika Mann und J. K. Rowling, Slavenka Drakulic, Doris Dörrie, Margaret Atwood und vielen anderen. Ruth Klügers Kanon: Eine Literaturgeschichte aus Sicht der Frau.

Klüger weist auch auf den Umstand hin, dass Frauen zwar in der Lage seien, männlichen Helden das ‚allgemein Menschliche‘ abzugewinnen, dass dagegen aber ‚die meisten männlichen Leser oft wenig anfangen könnten mit Büchern, die von Frauen geschrieben sind und in denen Frauen die Hauptrollen spielen.‘“ [Gefahren des Lesens, S. 64 f.]

„Aber kann man aus einem anonymen Text ablesen, ob er von einem Mann oder einer Frau verfasst worden ist? Man kann es nicht. Autoren sind einmalige Individuen, und alles, was sie erlebt und gedacht haben, mag ihre jeweils einmaligen Schöpfungen beeinflussen, natürlich auch ihr Geschlecht, aber eben nicht nur das.“ [Was Frauen schreiben, S. 9].

„Jede und jeder von uns liest und versteht Texte nicht in der gleichen Art und Weise. Einer der Gründe, warum nicht allen die gleichen Texte ge- oder missfallen. Unser literarischer Kanon aber, der besagt, was man gelesen haben sollte, besteht nicht nur größtenteils aus Büchern, die von Männern verfasst wurden, der Kanon selbst wurde von Männern festgelegt."

Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine Frau an Goethes Heideröslein, sofern man die Lesart als Ästhetisierung einer Vergewaltigung berücksichtigt, wenig Gefallen findet. „Frauen lesen aus einer anderen Betroffenheit heraus. Sie lesen im Übrigen die Bücher von Männern sehr viel genauer, als Männer die Bücher von Frauen“ meint Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Spiegel.

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80. Lieblingsbuch:

„Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz, die Kopfpflasterstraßen still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen, fischerbootschaukelnden See...“

So fängt es an, das „Spiel für Stimmen“ – in Dunkelheit und Schlaf und Stille und mit der Stimme des Erzählers, die dem bald erwachenden Geschehen seine ersten, schattenhaften Konturen gibt.

„Komm nur her. Nur du kannst die Häuser schlafen hören. Nur du kannst in den vorhangblinden Schlafzimmern die Kämme sehen, die Unterröcke über den Stuhllehnen, die Krüge und Becken, die Gläser mit den falschen Gebissen, an der Wand das „Du sollst nicht“ und die vergilbenden Bitte-recht-freundlich-Bilder der Toten. Nur du kannst hören und sehen, hinter den Augen der Schläfer: die Fahrten und Länder, Labyrinthe und Farben, Melodien und Wünsche; und Flug und Fall und Verzweiflung und die großen Seen ihrer Träume.“ Darum geht es hier auch, aber nicht im Besonderen, es geht vor allem um:

 

 

Dylan Thomas. Die Befragung des Echos. Erzählungen

übersetzt aus dem Englischen von Erich Fried, Klaus Martens, Detlev Gohrbandt

 

Die Erzählungen in diesem Band, die Dylan Thomas' Ruhm begründeten, sind Studien über die großen Themen: Liebe und Liebesangst, das Ineinander von Leben und Tod, das Fortleben von Nachtmahr, Mythos und Legende. Und alle Wurzeln sind in dem keltischen Boden verankert, der den berühmten englischsprachigen Dichtern dieser Zeit Quelle der Inspiration war. Das Werk dieses trinkfreudigen, von Anekdoten und Skandalen umgebenen Barden ist in den Kanon der Weltliteratur eingegangen. Lesen sie unbedingt die Erzählung EIN BLICK AUFS MEER:

 

"...Es war der beste Sommer seit den ersten Jahreszeiten der Welt. Er glaubte nicht an Gott aber Gott hatte diesen Sommer gemacht voll blauer Winde und Hitze und Tauben im Hauswäldchen. Auf den fernen Hügeln ohne Namen gab es keine Schornsteine, nur die Bäume, die dort standen wie Frauen und Männer, die sich an der Sonne freuten. ...Alles geschah in einer halben Sekunde. Das Mädchen in dem zerrissenen Kattunrock setzte sich ins Gras und kreuzte die Beine, ein wirklicher Wind von nirgendwoher hob ihr den Rock und bis zur Hüfte war sie braun wie eine Haselnuss. Der Junge, der immer noch zaghaft im ersten Schatten stand, sah die zerbrochene Ferienprinzessin zum zweiten Mal sterben und an ihrer Statt saß ein Landmädchen auf dem lebendigen Hügel..."

 

Dylan Thomas, 1914 in Wales geboren, ging 1934 nach London, wo er für Zeitschriften und für die BBC arbeitete. 1949 zog er sich in einen kleinen walisischen Fischerort zurück. Er starb 1953 während einer Vortragsreise in New York. Thomas schrieb Gedichte, Essays, Briefe, Drehbücher, autobiographische Erzählungen und ein Theaterstück: Under Milk Wood, sein Hauptwerk, das als Hörspiel 1954 postum mit dem Prix Italia ausgezeichnet wurde.

 

Auch als Lyriker kommt man an Dylan Thomas gar nicht vorbei. Er ist wirklich einer der Wichtigsten des 20. Jahrhunderts. Er hat eine ganz eigene Art, Bilder zu entwickeln und auch auf Landschaftliches und Biografisches zuzugreifen und dies in einem, ja, man könnte sagen, neomythischen Sinne zu verwandeln und zu transportieren. (S. Fischer: Windabgeworfenes Licht):

 

In my craft or sullen art - In meinem Handwerk, meiner trotzigen Kunst

Dylan Thomas übersetzt von Raoul Schrott

 

In meinem Handwerk, meiner trotzigen Kunst
Den Exerzitien einer stillen Nacht
Wenn nur der Mond mehr wütet
Und die Liebenden zu Bette liegen

All ihre Nöte in ihren Armen
Mühe ich mich im singenden Licht,
Nicht für Ehre oder Brot,
Eitlen Gang oder tauschhandelnden Zauber
Auf elfenbeinenen Bühnen,
Sondern für den ganz gewöhnlichen Lohn
Ihres allergeheimsten Herzens.

Nicht für den Einzelgänger
Fernab des wütenden Mondes schreib’ ich
Auf diese schaumtaumelnden Seiten,
Nicht für die über allen thronenden Toten
Mit ihren Nachtigallen und Psalmen,
Sondern für die Liebenden,

Ihre Arme ausgebreitet rund um die Nöte dieser Zeiten,
Die es mir weder mit Lob noch Lohn vergelten,
Noch auf meine Kunst oder mein Handwerk hören.

 

 

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79. Lieblingsbuch: Du bist in einem Fahrstuhl, fängst zu reden an, passierst den ersten, den zehnten, den 21.Stock und steigst im 52. aus, während du deinen Satz beendest.Wo sind die 52 Stockwerke geblieben?Hast du Zeit gewonnen oder verloren?Geduldig hört der Jazzkritiker seinem Freund, dem genialen schwarzen Saxofonisten, zu, wenn der zwischen Licht und Dunkel philosophiert, von Drogen euphorisiert und vom Entzug gequält.

 

Julio Cortázar. Der Verfolger.  Übersetzer: Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Taschenbuch 9.- €

 

Julio Cortázars Erzählung Der Verfolger umfasst ein paar Monate des Alltags eines musikalischen Revolutionärs in Paris und beschreibt zugleich die endlose Ballade vom Bourgeois, der den kranken Engel bewundert und der vom Künstler zehrt, um ihn am Ende in einer gut geschriebenen Biografie zu beerdigen. Unschwer lässt sich darin das Leben und Sterben von Charlie Parker (1920 bis 1955) lesen, Schöpfer des modernen Jazz, Opfer der Dualität von künstlerischer Größe und menschlicher Banalität, mit all den Geschichten vom brennenden Hotelzimmer, von der reichen Gönnerin, von zerstörten Lieben und dem Glück der verschwundenen Zeit.

 

Julio Cortazar wurde 1914 in Brüssel geboren. Mit seinen argentinischen Eltern zog er im Alter von vier Jahren in einen Vorort von Buenos Aires. Er absolvierte dort an einer sogenannten "Escuela Normal" eine Ausbildung zum Grundschullehrer und nahm ein Universitätsstudium auf, das er aber er aus finanziellen Schwierigkeiten frühzeitig abbrechen musste. Er arbeitete dann als Lehrer in verschiedenen Provinzschulen und begann in dieser Zeit, sich ernsthaft dem Schreiben zuzuwenden. 1938 erschien ein erster Gedichtband, und 1944 veröffentlichte er seine erste Erzählung in einer Zeitschrift. Im selben Jahr erhielt er an der Universität von Mendoza (Argentinien) eine Dozentur für französische Literatur, aber schon 1946, aus Protest gegen den Wahlsieg Perons, legte er sein Lehramt nieder. Er veröffentlichte weiter in Zeitschriften, ließ sich zum Übersetzer für Englisch und Französisch ausbilden und erhielt 1951 ein Stipendium des französischen Staates. Cortazar ging nach Paris, wo er bis 1974 als Übersetzer für die UNESCO tätig war. In Paris verfasste er 1963 auch den Roman "Rayuela" (dt. Rayuela. Himmel und Hölle), der in den sechziger Jahren zum "Kultbuch" einer ganzen Generation von Intellektuellen und Studenten wurde. In "Rayuela" thematisiert er in provokanter Weise den künstlerischen Schaffensprozess, indem er neben der Handlung selbst "entbehrliche" Kapitel, wie er sie nennt, einfügt, in denen er die ästhetischen Prämissen des Buchs diskutiert. Seit den sechziger Jahren engagierte sich Cortazar, wie viele lateinamerikanische Intellektuelle, zunehmend politisch, unterstützte die kubanische Revolution, die Regierung Allendes und später auch die sandinistische Revolution in Nicaragua. Sein Gesamtwerk umfasst außer Romanen und Erzählungen auch Theaterstücke, Lyrik und verschiedene Bände mit Kurzprosa; es weist ihn als einen der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts aus. Julio Cortazar starb 1984 in Paris.

 

Cortazar ist ein Meister des Phantastischen, er ist der politisch engagierte Autor, als solcher auch Kämpfer gegen bürgerliche Tabus, Verfechter einer spielerisch-kämpferischen Erotik. Die Psychologie der Ungesicherten und des flüchtigen genialen Zustands der Adoleszenz ist eines jener dunklen Reiche, das er wie wenige andere kennt. Die Musik ist für ihn nicht allein Thema, sondern auch Vorbild für Aufbau und Sprache.

 

„Wir sind gelaufen, ohne uns dabei anzuschauen, aber wissend, dass wir laufen, um uns zu finden.“

 

1963 wurde Rayuela veröffentlicht, ein Buch von Julio Cortázar, das einen Meilenstein der Literatur darstellt, ein kleines Erdbeben im kulturellen Panorama seiner Zeit. Rayuela stellt eine Sünde bezüglich der klassischen Struktur eines Romans dar. Für fortgeschrittene Cortazar-Leser ein unbedingtes Muss.

 

"Alles was Sie in diesem Zimmer sehen, oder besser gesagt, in diesem Lager, haben die Vormieter zurückgelassen; daher werden Sie nicht viel sehen, was mir gehört, aber ich ziehe diese Utensilien des Zufalls vor. Ihre Verschiedenartigkeit hindert mich daran, mich auf eine einseitige Reflexion zu beschränken, und in diesem Labor, dessen Hilfsmittel ich einer systematischen Bestandsaufnahme unterziehe, läuft meine Imagination weniger Gefahr, auf der Stelle zu treten." sagt Cortázar in einem anderen höchst lesenswerten Buch: Reise um den Tag in achtzig Welten.

 

"Alles, was ungesagt bleibt, ist ewig ausgesagt."

 

„Well it´s blues in my house, from the roof to the ground,
And it´s blues everywhere since my good man left town,
Blues in my mail-box cause I cain´t get no mail,
Says blues in my bread-box, ´cause my bread got stale.
Blues in my meal-barrel and there´s blues upon my shelf
And there´s blues in my bed, ´cause I´m sleeping by myself.“

 

Merline Johnson. The milkman-blues

 

Der Verfolger (Originaltitel: El perseguidor) ist eine Erzählung von Julio Cortázar aus dem Jahr 1959.Darin beschreibt der Autor die letzten Tage eines herausragenden Künstlers, der über der Suche nach einer von ihm nur andeutungsweise geschilderten Lebenswahrheit, bzw. -intensität außerhalb von Raum und Zeit, zugrunde geht. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Biographen des genialen, aber drogenabhängigen und schizophrenen Jazzmusikers Johnny Carter. Der Publizist vertritt dabei eine dem Künstler zwar oberflächlich freundlich, aber letzten Endes verständnislos gegenüberstehende Außenwelt, die sich in ihrer bürgerlichen Gegensätzlichkeit von dem extremen Künstler in Frage gestellt sieht, sich aber nicht scheut, ihren persönlichen Gewinn aus seinem radikalen Dasein zu ziehen. Der Verfolger der Idee einer absoluten Lebensqualität wird so wiederum zu einem von vermeintlichen Freunden und einer Medienindustrie Verfolgten.

 

"...dass Johnny kein Opfer ist, kein Verfolgter, wie alle Welt glaubt... Jetzt weiß ich, dass es nicht so ist, dass Johnny der Verfolger und nicht der Verfolgte ist, dass all das, was ihm im Leben zustößt, die Missgeschicke eines Jägers sind und nicht die eines gehetzten Tieres. Niemand kann wissen, was das ist, was Johnny verfolgt, aber dass er etwas verfolgt, ist offensichtlich, in Amourous, im Marihuana, in seinen absurden Reden über so viele Dinge, in den Rückfällen, in dem Büchlein von Dylan Thomas,...", dem wir innerhalb dieser Liste auch bald begegnen werden.

 

Foto: Julio Cortázar und Carol Dunlop – wahrscheinlich schreiben sie gerade an dem wunderbaren „Die Autonauten auf der Kosmobahn – Eine zeitlose Reise Paris – Marseille“. Das Buch hatte ich dann doch vergessen, und die Idee von Paris bis Marseille jeden Parkplatz anzusteuern, auf jedem zweiten zu übernachten, ist und bleibt sprachlich sehr originell.

 

 

 

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Dans mon pays, les tendres preuves du printemps et les oiseaux mal habillés sont préférés aux buts lointains.

La vérité attend l`aurore à côté d`une bougie. Le verre de fenêtre est négligé. Qu`importe à l`attentif.

Dans mon pays, on ne questionne pas un homme ému.

Il n`y a pas d`ombre maligne sur la barque chavirée.

Bonjour à peine, est inconnu dans mon pays.

On n`emprunte que ce qui peut se rendre augmenté.

Il y a des feuilles, beaucoup de feuilles sur les arbres de mon pays. Les branches sont libres de n`avoir pas de fruits.

On ne croit pas à la bonne foi du vainqueur.

Dans mon pays, on remercie.

(in: Die Bibliothek in Flammen und andere Gedichte, S.48)

Dieses Gedicht „Qu`il vive!“ – zu deutsch: „Es lebe!“ – stammt von René Char, einem der größten französischen Dichter des Jahrhunderts. 

 

78. Lieblingsbuch: René Char. Hypnos. Feuillets d'Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis 1943 bis 1944

Fischer Taschenbuch 9570

 

 

Rene Char (1907 Isle-sur-Sorgue bis 1987 Paris), französischer Lyriker, zählt zu den großen Gestalten der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er stieß 1928 zu den Surrealisten, gehörte bis 1937 zur Gruppe um Breton. Mitautor (mit Breton und Eluard) des kollektiv verfassten Gedichtbandes "Ralentir travaux" (1930). 1939 Einberufung und ab 1940 Resistance. Char war Kommandant der Partisanen im Departement Basses-Alpes. 1944 Berufung zum Interalliierten Generalstab nach Nordafrika. Seine poetische Prosa "Feuillets d'Hypnos" (1946, Albert Camus gewidmet; 1959 von Paul Celan übersetzt) ist einer der bedeutendsten Beiträge zur französischen Resistance-Dichtung.

 

Aus dem für den Band „Einen Blitz bewohnen“ getroffenen Auswahl aus den Maquisaufzeichnungen René Chars seien hier stellvertretend drei der insgesamt 237, mit fortlaufenden Nummern versehenen und Albert Camus gewidmeten Hypnos-Notizen wiedergegeben. Ins Deutsche übertragen hat sie kein Geringerer als Paul Celan:

4 Stoisch sein heißt erstarren, erstarren mit den schönen Augen des Narziß. Wir haben den Schmerz berechnet, den der Henker jedem Zoll unseres Körpers abgewinnen könnte; dann gingen wir hin, gepreßten Herzens, und standen dagegen.

22 DEN VORSICHTIGEN: Es fällt Schnee im Maquis, und es wird Jagd gemacht auf uns, unausgesetzt. Ihr in euren tränenlosen Häusern, mit eurem alle Liebe erstickenden Geiz darin, eurem warmen Tagaus-und-Tagein: euer Feuer ist ein Krankenwärter, sonst nichts. Zu spät. Der Krebs in euch hat gesprochen. Die Heimat hat keinerlei Macht mehr.

62 Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.

(p.25; 25; 27) (Aus: Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943-1944) (Widmung: Für Albert Camus)

 

Die Poesie des 1907 im provenzalischen Isle-sur-Sorgue geborenen René Char verdankt ihre Anstöße dem Surrealismus. Doch ihre Unverwechselbarkeit erlangt sie in den Kriegsjahren, durch die Erfahrung der Résistance – als der linksavantgardistische Poet René Char nach der militärischen Niederlage Frankreichs gegen Nazideutschland nicht bereit ist, die Waffen zu strecken, sondern als Partisan den Kampf weiterführt: René Char war als Capitaine Alexandre verantwortlich für den Bereich Durance-Sud der A.S., der Armée Secrète, also der im besetzten Land operierenden französischen Widerstandskräfte. – Nichtsdestoweniger irrt, wer ihn deshalb für einen patriotischen Dichter hält. René Char verfaßte keine Durchhaltehymnen fürs geknechtete Vaterland. Er hat während des Krieges zwar weitergeschrieben, aber keine Zeile veröffentlicht.

 

Wenn man René Char den deutschen Lesern ans Herz legt, drängt sich ein Gedicht auf, darin vom Herzen selbst die Rede ist. Für Char ist das Herz die Metapher für den Lebenswillen des Menschen. Doch wer jetzt Gefühliges erwartet, verrät nur den eigenen Hang zum Klischee. René Char ist von dergleichen, wie das folgend zu hörende Gedicht „Le Martinet“ belegt, turmhoch entfernt – und nicht nur ein zivilisationsgeschädigtes Herzflattern:

Der Turmsegler

Turmsegler mit den zu großen Flügeln, der da kreist und schreit seine Freude rings um das Haus. So ist das Herz.

Er läßt den Donner verdorren. Er sät in den heiteren Himmel. Streift er den Boden, schlitzt er sich auf.

Sein Widerpart ist die Schwalbe. Er verabscheut die häusliche. Was gilt das schon: Filigran des Turms?

Er rastet in dunkelster Höhlung. Niemand hat es so eng wie er.

Im Sommer der langen Helle streicht er davon in die Finsternis durch die Fensterläden der Mitternacht.

Kein Auge vermag ihn zu halten. Er schreit, das ist sein ganzes Dasein. Ein schmales Gewehr streckt ihn nieder. So ist das Herz.

 

Lesen Sie, wenn Sie Feuer gefangen haben und ich weiß, das werden Sie seine beiden Kollegen: Edmond Jabès. Ein Fremder mit einem kleinen Buch unter dem Arm (in der Edition Akzente erschienen (Edmond Jabès, geboren 1912 in Kairo, emigrierte 1957 nach Frankreich, wo er bis zu seinemTod 1991 lebte.), Sein letztes Buch ist als die summa poetica seines weitverzweigten, einzigartigen Werks verstanden worden. Es spricht vom Fremden, vom Anderssein (être autre), vom Exil und vom Buch Gottes, das weiterhin zu schreiben bleibt im Buch des Menschen – den Fragen also, die sein poetisch-philosophisches Denken seit Jahren beschäftigen. Es ist gut, diese eindringlichen Meditationen zu lesen in einer Zeit, da der Fremdenhaß überbordet. Oder lesen sie am besten gleich alles-

 

und

 

Francis Ponge. Das Notizbuch vom Kiefernwald/La Mounine: In beiden Texten unternimmt es der Autor, einen bestimmten "Gegenstand" - im "Notizbuch" ein bestimmter Kiefernwald, im anderen Fall der Himmel der Provence an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit - mit poetischen Mitteln zu erforschen, ihn in einem Poem zu "erobern", ohne daß das Objekt in seiner Gesetzmäßigkeit zugunsten einer vorgegebenen poetischen Formel verschwindet. Ponges Ziel ist es, die Objekte in der Sprache (v)erstehen zu lassen. Das Resultat dieser Bemühungen kann nicht mehr ein für sich stehendes, von seiner Entstehung losgelöstes Gedicht sein, sondern nur die Gesamtheit des Prozesses, in dem der Autor den Gegenstand in Worten, die für ihn und nur für ihn zutreffen, nachkonstruiert und die Nachkonstruktion dann durch das Objekt korrigieren läßt.

 

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77. Lieblingsbuch: „Es gibt zwei Arten zu erzählen. Eine, die von dem Unsichtbaren und Verborgenen handelt, und eine andere, die etwas aufdecken und das Offenbarte weitergeben möchte. Und ich will sie – in meiner ganz speziellen auf das Physische zielenden Deutung – introvertiert und extrovertiert nennen.“ John Berger, der englische Maler, Kunstkritiker und Schriftsteller, der seit über 40 Jahren in einem französischen Bergdorf lebt, neigt ohne Zweifel der ersten Art zu: Das Geheimnisvolle reizt ihn, nicht das offen Ausgesprochene, das flirrend Atmosphärische, nicht das Dokumentarische.

 

John Berger. Von ihrer Hände Arbeit

Hanser Verlag, gebunden 28.- €

 

"John Bergers literarische Bilder machen neugierig auf die ganze Welt." Carsten Hueck, Neue Zürcher Zeitung
Mit seiner großen Trilogie über die rauhe savoyardische Landschaft und ihrer Menschen hält John Berger die Erinnerung an eine Lebensform wach, für die es in der modernen Welt keinen Raum mehr gibt: Der erste Teil, „Sau-Erde“, spielt vor dem Hintergrund des traditionellen Lebens in einem Dorf des Hochgebirges in Frankreich. Die fünf Liebesgeschichten von „Spiel mir ein Lied“ handeln von der Modernisierung dieses dörflichen Lebens. Der dritte Teil, „Flieder und Flagge“, erzählt die Geschichte eines jungen Liebespaars, das sein Dorf verlässt, ohne in der Metropole eine neue Heimat zu finden. „Eines der selten gewordenen Bücher, die das Herz weiten und die Gedanken fliegen lassen.“ (Die Zeit)

 

John Berger, 1926 in London geboren, war Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker. Bereits 1972 wurde er mit dem Booker Preis ausgezeichnet. John Berger lebte viele Jahre in einem Bergdorf in der Haute Savoie. Er starb 2017 in Paris, nur wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag. Bei Hanser erschienen Essaybände, Gedichte und Romane, zuletzt Gegen die Abwertung der Welt (Essays, 2003), Hier, wo wir uns begegnen (2006), A und X (Eine Liebesgeschichte in Briefen, 2010), Bentos Skizzenbuch (2013), Der Augenblick der Fotografie (Essays, 2016), eine Neuausgabe von Von ihrer Hände Arbeit (Eine Trilogie, 2016) und zuletzt Ein Geschenk für Rosa (2018).

 

“When we read a story, we inhabit it. The covers of the book are like a roof and four walls. What is to happen next will take place within the four walls of the story. And this is possible because the story's voice makes everything its own.”

 

Wem hat er mit einer überraschenden Beobachtung nicht schon einmal die Augen geöffnet. Wie viele hat er berührt und für immer in Bann geschlagen. Und was für grundverschiedene Temperamente berichten, er habe gar ihr Leben verändert. Bergers Plädoyer für die Vielstimmigkeit einer Geschichte von unten ist nie lebendiger geworden als in den Figuren seiner 1979 begonnenen Trilogie „Von ihrer Hände Arbeit“. Mit den Erzählungen von „SauErde“ und „Spiel mir ein Lied“ und dem Roman „Flieder und Flagge“ schrieb er einen Abgesang auf die bäuerliche Welt im französischen Hochsavoyen, wo er in Quincy von 1972 an vier Jahrzehnte lang hauptsächlich lebte.

 

„Von ihrer Hände Arbeit“ war die Chronik einer Epochenschwelle, weg von einer Kultur des Überlebens, hin zu einer Kultur des Überflusses. Die Stadt avancierte zum alles beherrschenden Modell und Versprechen und verweigerte den Arbeitsmigranten, die vom Lande kamen, doch eine neue Heimat. In den tausend Varianten der Leseliebesgeschichten, die sich an seine Bücher knüpfen, lässt sich die Aufforderung zur Polyphonie aber auch auf sein eigenes Werk anwenden. Wer könnte sich nicht daran erinnern, wie er Bergers Ton verfiel, der zwischen den eigentlich unvereinbaren Polen von Poesie und Rhetorik, Leichtigkeit und Strenge, zärtlicher Vorsicht und apodiktischer Entschlossenheit unwiderstehlich vermittelt. Und wer hätte nach Jahren des Lektüreglücks mit dem gravitätischen Schweben seiner Dialoge und der dezenten Didaktik seiner Kunstbetrachtungen nicht auch gelegentlich nach Abstand getrachtet, nach Trennung auf Zeit, um doch wieder zu Bergers Prosa zurückzukehren. Unzählige Bücher über das Sehen, das Betrachten, der Bilder in der Bilderwelt, Romane über Landärzte oder Menschen auf dem Weg zur Hochzeit gilt es zu entdecken. Wenn Sie nur die Hälfte meiner Begeisterung für diesen vielfältigen Autor teilen, sind Sie ein glücklicher Leser.

 

"Wenn die gerechte Sache unterliegt, wenn die Mutigen erniedrigt werden, wenn in Stollen und Schacht erprobte Männer wie der letzte Dreck behandelt werden, wenn auf Hochherzigkeit geschissen wird und die Richter Lügen glauben und Verleumder fürs Verleumden mit Gehältern bezahlt werden, von denen die Familien eines ganzen Dutzends streikender Bergarbeiter ihr Leben fristen könnten, wenn der Goliath der Polizeimacht mit den blutigen Gummiknüppeln sich nicht auf der Anklagebank, sondern auf der Ehrenliste findet, wenn unsere Vergangenheit entehrt wird und man ihre Verheißungen und Opfer mit ignorantem und bösem Lächeln achselzuckend abtut, wenn in ganzen Familien der Argwohn aufkommt, daß jene, die die Macht ausüben, der Vernunft und jeglichem Appell gegenüber taub sind und daß es keine Instanz gibt, an die man sich wenden kann, wenn dir allmählich klar wird, daß, was immer es an Wörtern im Lexikon geben mag, was immer die Königin sagt oder Parlamentskorrespondenten berichten, welche Bezeichnung das System sich selber auch immer gibt, um seine Schamlosigkeit und seinen Egoismus zu maskieren, wenn dir allmählich klar wird, daß SIE darauf aus sind, dich zu brechen, darauf aus sind, alles zu zerbrechen, dein Ererbtes, deine Fähigkeiten, deine Gemeinden, deine Dichtung, deine Klubs, dein Heim und, wo immer möglich, auch deine Knochen, wenn das den Leuten endlich klar wird, dann hören sie vielleicht auch in ihrem Kopf die Stunde der Attentate schlagen, der gerechtfertigten Vergeltung."
Aus: Bergarbeiter. In: Begegnungen und Abschiede. Über Bilder und Menschen. Deutsch neu aufgelegt bei Fischer, Frankfurt/M. 2000

 

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76. Lieblingsbuch: "Man scheut sich durchaus, etwas zu schön zu beginnen. Nicht nur, weil man nichts berufen will, sondern ideale Formen kränkeln. Der erste Streit holt alles wieder auf, was vorher keinen Platz hatte in der edlen stillen Luft. Die Dinge dürfen nicht wie gemalt sein, sonst halten sie im Leben nicht."

 

Ernst Bloch. Spuren

Bibliothek Suhrkamp 54

 

Für den in der Gesamtausgabe erschienenen Band »Spuren« hatte Ernst Bloch 21 Texte neu geschrieben. Diese erweiterte Ausgabe erschien in der Bibliothek Suhrkamp. »Wie nun? Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« Dieser Text aus den »Spuren« steht als Motto über Blochs Gesamtwerk, er ist auch das Thema der »Spuren«. Es sind »Spuren«, die hinführen zu Sinn und Deutung des Daseins, »im Erzählen merkend, im Merken das Erzählte meinend«. Es sind Spuren, die auch von der Geschichte der eigenen Jugend Blochs berichten. Diese Parabeln, die zu den Glücksfällen deutschen Denkens und deutscher Prosa gehören, sind heute so fabelhaft und wahr wie vor neunzig Jahren, als sie gesammelt, gedacht und geschrieben wurden.

 

Diese Texte fordern dazu auf, sich auf sie einzulassen, gleichsam mit auf Spuren-Suche zu gehen. Häufig führt dieser Weg in die Erinnerungsräume der Kindheit und Jugend des 1885 in Ludwigshafen geborenen Philosophen Ernst Bloch. Flüchtige Vorkommnisse und beiläufige Begegnungen werden imaginiert und stets mit größeren Sinnfragen verknüpft. In den Spuren sind es außerdem kuriose, irrationale und unverhoffte Situationen, aus denen heraus Bloch philosophische Gedanken formuliert, die trotz der marxistischen Gesinnung des Autors mehr mit Meditation zu tun haben als mit Umsturz. Auch scheinen die „Spuren“-Texte von der künstlerischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre, also vom Surrealismus, sowie von der Psychoanalyse beeinflusst zu sein. Die Spuren sind zum großen Teil vor 1930 verfasst und bieten somit keine Reflexion über die Zeit des Nationalsozialismus. Noch konnte Bloch vom „großen Reichtum einer brechenden Zeit“ sprechen, bevor er als Jude und Marxist gezwungen war, durch mehrere europäische Länder zu flüchten und letztendlich in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Hier schrieb er bis 1947 an seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“. Im Zentrum des Bloch’schen Denkens steht die Utopie einer besseren Welt.

 

"Im Citoyen steckt der Bourgeois; gnade uns Gott, was im Genossen steckt."

 

Auf den ersten Eindruck mutet das Buch „Spuren“ von Ernst Bloch merkwürdig an: die 90 kurzen Texte mit so sonderbaren Titeln wie „Schüttler für Erdbeeren“, „Einige Schemen linker Hand“ oder „Das genaue Olivenessen“ verbergen zunächst mehr an Bedeutung als sie preisgeben. Und tatsächlich ist der Begriff „merkwürdig“ eines von zahlreichen „Spuren“-Stichwörtern. Der Text mit dem Titel „Das Merke“ hat somit programmatischen Charakter: „Kurz, es ist gut, auch fabelnd zu denken. […]

 

Eine Zwischenbemerkung zur Musik aus dem Buch ZUR PHILOSOPHIE DER MUSIK ist das Beste, was ich bisher über den Begriff des Hörens oder Empfindens gelesen habe: "Wir hören nur uns. Denn wir werden allmählich blind für das Draußen. Was wir sonst auch gestalten, führt wieder um uns herum. Es ist nicht genauso ohne weiteres ichhaft, nicht genauso dunstig, schwebend, warm, dunkel und unkörperlich, wie das Gefühl immer nur bei mir, immer nur bewußt zu sein. Es ist Stoff und fremd gebundenes Erlebnis. Aber wir gehen im Wald und fühlen, wir sind oder könnten sein, was der Wald träumt. Wir gehen zwischen den Pfeilern seiner Stämme, klein, seelenhaft und uns selber unsichtbar, als ihr Ton, als das was nicht wieder Wald werden konnte oder äußerer Tag und Sichtbarkeit. Wir haben es nicht, was dies alles um uns als Moos, sonderbaren Blumen, Wurzeln, Stämmen und Lichtstreifen ist oder bedeutet, weil wir es selbst sind und ihm zu nahe stehen, dem Gespenstischen und doch so Namenlosen des Bewußtseins oder Innerlichwerdens. Aber der T on brennt aus uns heraus, der GEHÖRTE Ton, nicht er selbst oder seine Formen. Dieser aber zeigt uns ohne fremde Mittel unseren Weg, unseren geschichtlich inneren Weg, als ein Feuer, in dem nicht die schwingende Luft, sondern wir selbst anfangen zu zittern und den Mantel abzuwerfen.

 

Seit Bloch in den zwanziger Jahren diese Geschichten im Berliner Tageblatt und in der Frankfurter Zeitung publizierte (Paul Cassirer verlegte 1930 die erste Buchausgabe), haben sie sich fortgesetzt bis zur 1969 erschienenen Buchausgabe, und als Band 1 die Gesamtausgabe seiner Schriften eröffnend. Es ist vielleicht sein schönstes Buch, genau und verspielt zugleich, Phantastik und ernsten Sinn mischend, verzwinkert voll der listigen Grazie eines weisen Rabbiners; also nie "lustig" auf eine Pointe schielend, vielmehr in der kleinsten Etüde noch Bedeutung bergend.

 

"Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe." "Die Sehnsucht scheint mir die einzige ehrliche Eigenschaft des Menschen." "Die Ware will lackiert sein.

 

Blochs „Heimat“, als das, was allen in die Kindheit scheint, erfährt in Harmut Rosas „Resonanz“ einen interpretatorischen Richtungswechsel: „Die Heimat scheint uns in die Kindheit und deshalb nehmen wir als Erwachsene (auf der Suche nach dem Land, in dem noch keiner war) diesen Schein aus der Kindheit wahr.“

 

„Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.“ betont er in seiner Tübinger Einleitung zur Philosophie in der zweiten Fassung von 1923.

Es gibt. Abgründe und Rätsel, Unheimliches und A-Logisches in diesen Miniaturen, mal leise frivol, mal tief-melancholisch: immer ein Geheimnis unserer menschlichen Existenz andeutend, deutend. Bloch webt diesen Flickenteppich der Phantasie mit Meisterhand, und was er aus einem einzigen Satz herausholen kann, grenzt ans Wunder. "Als ein streunender Junge sich besonders gut verstecken wollte, ging er nach Hause. Dort vermutete ihn niemand, er konnte die Jagd auf sich überstehen – so hebt, mit einem dialektischen Splitter, eine Erzählung an, die immer Verblüffenderes über die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit entwickelt.

 

"Nur sanft sein heisst noch nicht gut sein. Und die vielen Schwächlinge, die wir haben, sind noch nicht friedlich. Sie sind es nur im billigen, schlechten Sinn dieses Wortes, sind es allzu leicht. […] Daneben überall die vielen Duckmäuser, sagen nicht so und nicht so, damit es nachher nicht heisst, sie hätten so oder so gesagt. Leicht gibt sich bereits als friedlich, was mehr feig und verkrochen ist." Widerstand und Friede (Beginn des gedruckten Textes der Ansprache anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 15.10.1967)

 

 

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„Ich bin 83“, sagt eine Stickerin, „ich bin zu alt. Ich wäre lieber tot: Niemandem bedeute ich etwas, niemand auf der Welt weiß, daß ich existiere.“ „Du weißt, daß die Vergangenheit alles ist, was dir blieb“, ermahnt sich Bobbio am Schluß seiner Altersreflexionen, „laß nicht ab, deine Grabungen fortzusetzen ... jeder Moment, jede Geste, jedes Wort, die du wiederfindest, die für immer verloren schienen, helfen dir zu überleben.“

 

75. Lieblingsbuch, ein Thema, wie angekündigt: Alter und Abschied

 

Noberto Bobbio. Vom Alter - De senectute

Wagenbach 18.- €

 

Im Titel „De Senectute“ lehnt sich Bobbio an ein Werk Ciceros an, das im Jahre 44 vor Christus entstand. In dialogischer Form preist Cicero das Alter als weise und tugendhafte Lebensphase, dem Tode nahe, der als Befreiung der Seele vom ephemeren Leib verstanden wird. Wer alt ist, hat eine Reife erlangt, die es erlaubt, als Philosoph zu leben und erhabene Werke zu verfassen.

Bobbio hingegen spricht dem Alter keine Erhabenheit und Tugend zu. Er bricht nicht aus Laune, er bricht aus Notwendigkeit mit einer tradierten Auffassung, zu der Individuen und Gesellschaft heute keine Verbindung mehr haben. Bobbios Altersreflexionen tragen einem factum brutum Rechnung, wenn er etwa provozierend wissen will „welche Weisheit?“ man einem Alter bescheinigen soll, das sich am geschichtlichen und technologischen Prozess, der sich zusehends beschleunigt, nicht beteiligen kann

 

Ein leises und weises, verständliches und verständiges Buch darüber, wie wir leben und alt werden. Verfaßt von einem großen Alten, dem bedeutendsten politischen Philosophen des heutigen Italien. Anlaß: die historische Krise der Jahre um 1990, die Bobbio "wie viele meiner Generation fassungslos zurückgelassen" und ihm sein Alter klargemacht habe: die falschen Prognosen, den Reichtum der Erinnerung, die Zufälle des Überlebens. "Ein Text über das Altern von brillanter Klarheit. Er bezeugt zugleich den lebenslangen Prozeß des Umdenkens eines Intellektuellen."

 

 

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Silvia Bovenschen. Älter werden.
S. Fischer Taschenbibliothek, 9.- €

 

Älter werden wir alle, von Anfang an, und es gibt keine Aussicht auf Umkehr. Erst, wir sind noch ein Kind, wollen wir es unbedingt, dann, wir sind erwachsen, widerfährt es uns fast unmerklich, schließlich, die Jahre gehen ins Land, kommen die Tage des Rückblicks, auf die Zeit, in der wir die Zukunft noch vor uns hatten. "Älter werden" gibt persönlich erzählend, räsonierend und kommentierend einen Rückblick auf das gelebte Leben und einen Ausblick auf möglicherweise Kommendes. Diese erzählten Erinnerungen und gedanklichen Spiele fügen sich zu einem poetischen Bericht über eines der zentralen Themen unserer Zeit.

Voller gedanklicher und sprachlicher Eleganz - und vor allem ohne jegliche Alterslitanei - horcht sie prüfend die Begriffe des Älterwerdens ab und spricht furcht- und schnörkellos heikle Themen an: etwa Sexualität im Alter ("Runzelsex") oder (wenn auch sparsam) ihre Erkrankung an Multipler Sklerose. Sehr gefallen hat mir, dass die Autorin Leben und Zeit nicht aus einer quasi jenseitigen, weil von Trauer und dem Gedanken an Versäumnisse behafteten Perspektive betrachtet, sondern dass gerade das Bewusstsein der Vergänglichkeit sie mitten ins Leben und der Freude daran führt. Nichts lässt sie in Larmoyanz verfallen. Es ist die unbestechliche Neugier, die sie leitet. Ein wichtiges Buch, auch für uns junge Menschen.

 

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André Gorz. Brief an D.

Rotpunkt Verlag Zürich 9,90 €

 

'Du wirst zweiundachtzig. Du bist sechs Zentimeter kleiner geworden, du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je.'
So beginnt diese 'Geschichte einer Liebe', verfasst vom 83-jährigen Philosophen und Sozialtheoretiker André Gorz in Form eines langen Briefes. Er rekapituliert die 58 Jahre des Zusammenlebens mit D., einer Engländerin, die er 1947 in Lausanne kennen gelernt hatte und die dann seine Frau wurde. Entstanden ist ein Rückblick der ganz besonderen Art auf ein gutes halbes Jahrhundert philosophisch-politischer und publizistischer Arbeit, bei der D. ihm immer zur Seite stand. Doch ganz am Anfang dieses Rückblicks steht auch die Frage: 'Warum nur bist du in dem, was ich geschrieben habe, so wenig präsent, während unsere Verbindung doch das Wichtigste in meinem Leben gewesen ist?' Dieses Buch ist kurz; es handelt nur von den wichtigsten Dingen. Der Suizid des Ehepaares Ende September 2007 erscheint nach der Lektüre des Buches in völlig anderem Licht. Keiner von beiden möchte den anderen überleben, schreibt Gorz am Schluss seines Briefes. Mit dem gemeinsamen Freitod sind beide der Notwendigkeit entronnen, in dieser Welt ohne den anderen sein zu müssen.

Es ist ein vieles diskret verschweigendes Buch, das das Wunder der über die Zeit anhaltenden Liebe und die existentielle Wichtigkeit dieses einen Menschen für den Sozialphilosophen Gorz beschwört. Der ehemalige Mitarbeiter Jean Paul Sartres schreibt dabei weder über ihre Kinderlosigkeit noch berührt er Themen wie sexuelle Treue - dazu gibt es nichts zu sagen, meint Gorz im Gespräch. Er habe sich jedoch der Frage stellen müssen, warum seine Frau in seinem gedruckten Werk, auch in seiner Autobiografie "Der Verräter", so gar nicht präsent ist. Unbedingt lesen, ebenso wie die beiden folgenden außergewöhnlichen Abschiedsbücher.

 

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Mayröcker. Requiem für Ernst Jandl

Suhrkamp 12,80 €

 

Ein halbes Jahrhundert gemeinsamen Lebens, und das hieß ganz selbstverständlich auch: gemeinsamer literarischer Arbeit, verband und verbindet Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Unmittelbar nach dem Tod des Gefährten im Frühsommer des Jahres 2000 hat Friederike Mayröcker den Schmerz des Verlustes in einer stillen und zugleich leidenschaftlichen Todesklage zu bewältigen versucht, die zu einem Gesang von berückender Intensität wird. In diesem Dokument von tapferster Zartheit ruft sie Erinnerungen an Erlebnisse der gemeinsamen Jahre auf, macht sich Offengebliebenes jäh bewußt, liest Jandls Texte neu. Vor einer plötzlichen und existentiellen Leere erschreckend, fragt sie nach Möglichkeiten und Weisen des Weiterlebens und -arbeitens und hört nicht auf, zu einem Gegenüber zu sprechen. »Der Verlust eines so nahen Menschen, eines HAND- und HERZGEFÄHRTEN ist etwas ganz und gar Erschütterndes, aber vielleicht ist es so, daß man weiter mit diesem HERZ- und LIEBESGEFÄHRTEN sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann und vermutlich Antworten erwarten darf. Einer einstmals so stürmischen Aura, nicht wahr. Jetzt gestammelt gehimmelt, und weltweit.«

 

der Leser soll auch den lebenden Jandl im Gedächtnis behalten, und so lesen wir eine Szene aus dem Winter 88, aus der unbeheizbaren Nordküche von Jandls Wohnung. Beim Suchen nach Manuskripten zieht die Freundin und Kollegin diesen Vierzeiler hervor:

 

In der Küche ist es kalt
ist jetzt strenger winter halt
mütterchen steht nicht am herd
und mich fröstelt wie ein pferd

 

Im Juni 2000, drei Tage vor Jandls Tod, schreibt Mayröcker dazu diese Kontrafaktur:

 

in der Küche stehn wir beide
rühren in dem leeren Topf
schauen aus dem Fenster beide
haben 1 Gedicht im Kopf

 

Dieses eine Gedicht, und die lebenslange Suche danach, ist nicht das einzige, das Ernst Jandl und Friederike Mayröcker verband. Das sie immer noch verbindet.

 

"Ein Zerbrecher und Verstörer ist der Tod"

 

 

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Zum guten Schluss zu einem besonderen Menschen und seinem Abschiedsbuch an seine Frau Dorli. Ihm werden wir sicher noch einmal begegnen.

 

Gerhard Meier. Ob die Granatbäume blühen

Insel Bücherei 14.- €

 

Nach dem Tod seiner Frau Dorli, die ihn und sein Schaffen über sechs Jahrzehnte begleitet hat, findet Gerhard Meier im Schreiben einen Weg aus der Einsamkeit: In atmosphärisch dichter Sprache vergegenwärtigt er sich und dem Leser die gemeinsam erlebte Zeit, die Wanderungen, Reisen und Lektüren. Er führt den Dialog mit seiner Frau über ihren Tod hinaus, und die Grenzen zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem verschwinden, es bleibt die Sehnsucht und das zärtliche Gedenken an den geliebten Menschen: ein Liebesbrief und Epitaph zugleich.

 

„Die du wohnest in den Gärten, lass’ mich deine Stimme hören.“ Mit diesen Worten aus dem Hohelied beginnt der letzte Prosatext des Schweizer Schriftstellers Gerhard Meier (1917 – 2008). Sechs Jahrzehnte lebte der preisgekrönte Schriftsteller zusammen mit seiner Frau Dorli zurückgezogen im Haus seiner Kindheit in Niederbipp, dem Dorf am Südfuß des Jura, das zum poetischen Bezirk Amrain seiner Romane wurde.

 

Dorli war sein Lebensmensch, gemeinsam unternahmen sie Reisen nach Russland und nach Paris, teilten ihre Liebe für die Blumen, die Schmetterlinge und für die Literatur. Nach ihrem Tod blieb der 80-jährige Meier alleine zurück in dem Haus mit Blick über Dorlis Garten zum Jura hin.

In seinem innigen Monolog setzt er das Gespräch mit Dorli über ihren Tod hinaus fort. „Und ich fragte mich, ob man am Ende lebe, um sich erinnern zu können.“ Leicht, schillernd und durchsichtig wie die Seifenblasen, die Meier so mag, schweben noch einmal die Themen seines Werks am Leser vorbei, die Personen und die Schmetterlinge, die Winde, die Blumen, Bäume, Bücher. Und alles leuchtet vieldeutig wie der Titel «Ob die Granatbäume blühen», den Meier kunstvoll zwischen die Frage- und die Aussageform gesetzt hat. «Dorli, wenn wir wieder zusammen sind und die Wildkirschen blühn und es der Natascha, dem Fürsten Andrej und der Lara nicht gerade ungelegen kommt, gleiten du und ich in deinem Schattenboot von Walden her über die Waldenalp hin, Richtung Lehnfluh, eskortiert von Kohlweisslingen, Distelfaltern, Abendpfauenaugen und einem Admiral» - so die letzten Sätze des Buches.

 

„Denn wir müssen sterben, mit kurzem Verzug, und vielleicht brauchen die Leichen keinen so weiten Faltenwurf, den Weg alles Fleisches zu gehen. Der brüderlich innere Reichtum wird nicht minder kurzer Spuk, verwest zu Baumrinde wie Rübezahls falsche Schätze: zeigt sich in ihm keine Kraft, gar den Tod zu bestehen, zu besiegen, mithin nicht nur von unten an hindurch zu gehen, sondern auch an sich selbst ein kräftig oberer Teil zu sein und das Wesenselement des ewigen Lebens.“

sagt ERNST BLOCH, dem wir bald begegnen...

 

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74. Lieblingsbuch: „Bald wurde mir bewusst, dass ich mich auch bei Dingen aufhielt, die nichts mit dem Gegenstand meiner Suche zu tun hatten.“ sagt Robert Bober in 'Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen'. Ein sehr schönes Buch. Da geht es um 'Jules und Jim'. Ich meine aber seinen ersten bei uns veröffentlichten Roman, bei Antje Kunstmann erschienen:

 

"Was gibt's Neues vom Krieg?" Eigentlich nichts, denn er ist zum Glück vorbei. Es ist das Jahr 1946. In der Damen-Konfektions-Schneiderei von Monsieur Albert in Paris sind alle froh, dass Frieden ist und die Deutschen endlich aus Frankreich verschwunden sind. Man kann wieder in Ruhe arbeiten, ja, man kann sogar lachen. Am besten, man fragt einfach: "Was gibt's Neues vom Krieg?", und es kommen die merkwürdigsten Dinge. Einer nach dem anderen füllt diesen Roman mit der Geschichte eines geretteten Lebens: Da sind der Patron und seine Frau, Madame Lea, mit den beiden Kindern Raphael und Betty. Da sind die beiden Näher: Abramowitz, der das Lager überlebt hat und den sie Abramauschwitz nennen, wenn sie besonders gute Laune haben, und Charles, der schweigt und seine Brille putzt. Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Handvoll gezeichneter Menschen. Sie sind glücklich, die eigene Haut gerettet zu haben, benommen von der Katastrophe, deren Ausmaß sie nur erahnen.

 

Robert Bober, geboren 1931 in Berlin, emigrierte 1933 mit seiner Familie nach Frankreich. Er arbeitete als Schneider, Töpfer, Erzieher, wurde Assistent von François Truffaut und drehte über 100 eigene Dokumentarfilme. In Deutschland wurde Robert Bober mit seinen Büchern »Was gibt's Neues vom Krieg« (1995) und »Berg und Beck« (2000) bekannt.

 

Auf dem Umschlagbild sieht man zwei Kinder Reißaus nehmen. Die Kinder lachen, sie sind wohlgekleidet und wohlgenährt, es sind fröhliche Ausreißer. Auch der Titel hat im Zusammenhang des Zitats, dem er entnommen ist, einen fröhlichen Klang. In dem Musical "Anatevka" wird die Frage gestellt: "Wollen wir nicht lieber von etwas Lustigerem reden: Was gibt's Neues vom Krieg?"

Das Buch, das ironisch diesen Titel aufgreift, beginnt nach dem Ende des Krieges und des Holocausts. Während der Zweite Weltkrieg in seinen Ausmaßen und seinen Schrecken die Literatur endgültig hinter sich gelassen hat, haben die Überlebenden des Holocausts liebevoll neu ausgemalt, was die Täter ausradieren wollten: die jüdischen Milieus. Oft schreiben sie weniger aus dem verständlichen Impuls, das ihnen Angetane vor die Weltöffentlichkeit zu bringen, als aus dem Bedürfnis, gegen den industriell betriebenen Tod das glücklich-gemütliche Leben zu stellen, die Idylle, die vorher herrschte, und die Idylle, die sie später wieder einzurichten suchten.

 

Manchmal, so Bober, spricht man auf dem Friedhof zu den Toten. Man sitzt auf einem Klappstuhl und erzählt, wer gestorben ist und wer noch lebt. Aber "auf dem Friedhof von Bagneux steht man. Es gibt Grabsteine und niemanden darunter. Niemand liegt dort begraben. Das ist alles, was man davon sagen kann. Sie sind nicht da, sie sind nie dagewesen. Die Körper der Toten sind unerreichbar, und dieses Unannehmbare bewirkt, daß die in den Stein eingravierten Namen mit lauter Stimme vorgelesen werden."

 

 

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"Wir sollten immer daran denken, dass es auch noch etwas anderes auf der Welt gibt als die Gewöhnlichkeit" sagt der Autor des nächsten Lieblingsbuchs in EIN KIND, Teil seiner autobiographischen Schriften.

 

73. Lieblingsbuch: THOMAS BERNHARD. Die Autobiographie

Residenz-Verlag 25.- €

Thomas Bernhard, geboren am 9. Februar 1931 in Heerlen (Niederlande) und gestorben am 12. Februar 1989 in Gmunden (Österreich), war ein deutschsprachiger österreichischer Schriftsteller, der das literarische Feld der Postmoderne maßgeblich beeinflusste.
Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind

Einzigartig und einmalig: die autobiographischen Erzählungen Thomas Bernhards in einem Band. "Die Ursache" und ihre Folgen: In fünf Erzählungen zwischen Dichtung und Wahrheit legt Thomas Bernhard offen, wie er der Schrifsteller wurde, der er war - von der Kindheit über die Internatszeit in Salzburg, die Lehre und das Studium bis zur Isolation des Achtzehnjährigen in einer Lungenheilstätte. Wer die Welt des Thomas Bernhard vestehen will, findet hier den Schlüssel: "Das ist die Geschichte eines jungen Menschen, auf dem eigentlich nur herumgetrampelt worden ist, sei es von Seiten der Stadt, ihrer Bewohner, der Verwandtschaft, ganz gleich." (Thomas Bernhard).

Die Ursache. Eine Andeutung

Die Ursachen waren verheerend: das Internat ein Kerker, die Stadt eine Todeskrankheit, der Krieg und der Großvater, der ihm nur von Großem sprach, von Mozart, Rembrandt und Beethoven. Die Ursachen waren zerstörerisch, und sie hinterließen unauslöschliche Spuren im Leben und im Werk Thomas Bernhards.

Der Keller. Eine Entziehung

Eines Morgens beschließt der Schüler, sich seinem Leben zu entziehen. Im Keller, am Rande der verhassten Stadt, im Wohngetto der Besitzlosen und Kriminellen, sucht Thomas Bernhard sich eine Lehrstelle in einer Lebensmittelhandlung. Er lernt dort die von der Gesellschaft Ausgestoßenen kennen, und er lernt sich selbst begreifen.

Der Atem. Eine Entscheidung

Durch eine schwere Lungenkrankheit wird Thomas Bernhard, nicht einmal achtzehnjährig, aus seinem Leben gerissen. Sein Körper zwingt ihn in die Isolation der Krankenhaussäle, in die Gesellschaft der gerade noch Lebenden. Seine letzte Station ist das Badezimmer, aus dem nur die Toten wieder herauskommen. Dort weiß er plötzlich, dass er nicht aufhören darf zu atmen, dass er leben will.

Die Kälte. Eine Isolation

Mit der Einweisung in die Lungenheilstätte Grafenhof beginnt ein neues Kapitel in der Leidensgeschichte des jungen Thomas Bernhard. In der Isolation des Sanatoriums ist er den Ärzten, dem Pflegepersonal, den Mitpatienten und nicht zuletzt sich selbst und seinem Willen ausgeliefert. In der Hoffnungslosigkeit übt er die Auflehnung

Ein Kind.

Thomas Bernhards Kindheitsjahre, der Anfang am Ende, ein Martyrium beginnt: die Schande einer unehelichen Geburt und der Vorwurf der Mutter: Du hast mein Leben zerstört! Es sind Jahre des Schreckens und des Krieges. Und es ist eine Zeit fern der Idylle, wenn auch nicht ohne Augenblicke des Hochgefühls.

"Die Stadt ist, von zwei Menschenkategorien bevölkert, von Geschäftemachern und ihren Opfern, dem Lernenden und Studierenden nur auf die schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit verstörende und zerstörende, sehr oft nur auf die heimtückisch-tödliche Weise bewohnbar. Die extremen, den in ihr lebenden Menschen fortwährend irritierenden und enervierenden und in jedem Falle immer krankmachenden Wetterverhältnisse einerseits und die in diesenWetterverhältnissen sich immer verheerender auf die Verfassung dieser Menschen auswirkende Salzburger Architektur andererseits, das allen diesen Erbarmungswürdigen bewußt oder unbewußt, aber im medizinischen Sinne immer schädliche, folgerichtig auf Kopf und Körper und auf das ganze diesen Naturverhältnissen ja vollkommen ausgelieferte Wesen drückende, mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit immer wieder solche irritierende und enervierende und krankmachende und erniedrigende und beleidigende und mit großer Gemeinheit und Niederträchtigkeit begabte Einwohner produzierende Voralpenklima erzeugen immer wieder solche geborene oder hereingezogene Salzburger, die zwischen den, von dem Lernenden und Studierenden, der ich vor dreißig Jahren in dieser Stadt gewesen bin, aus Vorliebe geliebten, aber aus Erfahrung gehaßten kalten und nassen Mauern ihren bornierten Eigensinnigkeiten, Unsinnigkeiten, Stumpfsinnigkeiten, brutalen Geschäften und Melancholien nachgehen und eine unerschöpfliche Einnahmequelle für alle möglichen und unmöglichen Ärzte und Leichenbestattungsunternehmer sind.

 

Als „Seitensprünge“ bezeichnete sein Verleger Unseld die fünf autobiographischen Romane, die Thomas Bernhard von 1975 an eben nicht bei Suhrkamp, sondern im Salzburger Residenz-Verlag erscheinen ließ. Unselds Ärger ist verständlich – diese Bücher gehören zum Besten und Eindringlichsten, was Bernhard geschrieben hat.

 

Thomas Bernhard: „Erinnerung an die tote Mutter“

In der Totenkammer liegt ein weißes Gesicht, du kannst es aufheben

und heimtragen, aber besser, du verscharrst es im Elterngrab,

bevor der Winter hereinbricht und das schöne Lächeln deiner Mutter zuschneit.

 

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72. Lieblingsbuch: "Nirgends ein Tisch, ein Schrank, ein Ofen, der das bunte Einerlei der Regale unterbrochen hätte. Den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek, in der ihn kein überflüssiges Möbelstück, kein überflüssiger Mensch von ernsten Gedanken ablenkte." Sein Herz schlägt nur für Bücher. Professor Peter Kien besitzt und pflegt die bedeutendste Privatbibliothek seiner Stadt. Als ihn seine Haushälterin Therese Krumbholz eines Tags um die Leihgabe eines Buches bittet und dieses dann mit auffallender Sorgfalt behandelt, erregt sie zum ersten Mal Kiens Interesse. Hals über Kopf beschließt er sie zu heiraten. Doch Thereses Bücherliebe ist nicht so ausgeprägt, wie gedacht...

 

Elias Canetti. Die Blendung

 

"Romane sind Keile, die ein schreibender Schauspieler in die geschlossene Person seiner Leser treibt. Je besser er Keil und Widerstand berechnet, um so gespaltener lässt er die Person zurück. Romane müßten von Staats wegen verboten sein."

 

Herr Prof. Kien, seines Zeichens Privatgelehrter und größter lebender Sinologe, wird gleich im Eingangsmonolog – ein Gespräch mit einem Nachbarsjungen, den er nach Jahren das erste Mal wahrnimmt – als in sich verkapseltes Individuum vorgestellt, das seine Außenwelt nur insofern wahrnimmt, als sie ihm sein Ego widerspiegelt. Eine Leibnizsche Monade, jedoch ohne Fenster zur Außenwelt; wen wundert's, dass sein Arbeitszimmer keine Fenster an der Wand, sondern nur an der Decke hat, um so eine vierte Fläche für Bücherregale schaffen zu können. Für Kien sind die Worte “Heimat” und “Bibliothek” gleichbedeutend. Mit der seiner Ansicht nach großherzigen Geste, seine “Wirtschafterin”, Therese Krumbholz, für ihren nun schon acht Jahre währenden, aufopferungsvollen Dienst an seinen Büchern gewissermaßen zu entlohnen, vor allem jedoch, um sie weiter an sich zu binden, heiratet er die 16 Jahre ältere Frau – und gräbt sich damit sein eigenes Grab. Nach und nach nimmt sie die ganze Wohnung Kiens in Beschlag, gibt sein Geld für teure Möbel aus und fordert schließlich mit herausfordernder Geste ein Testament ein. Kien flieht vor dieser Anmaßung, als ziellos umher taumelnde Monade, ohne das Koordinatensystem seiner Bibliothek, geht er denn auch sofort in die Netze des buckligen Gauners Fischerle.

 

"Das herrschende Prinzip im Kosmos ist die Blindheit. Sie ermöglicht ein Nebeneinander von Dingen, die unmöglich wären, wenn sie einander sähen. Sie gestattet das Abreißen von Zeit dort, wo man ihr nicht gewachsen wäre."

 

"Sie sagte nicht > kostet < , sie sagte > Wert < hat. Sie meinte den inneren Wert, nicht den Preis. Und er hatte ihr immer vom Kapital vorgeschwärzt, das in seiner Bibliothek steckte. Diese Frau musste ihn verachten. Sie war eine großartige Seele. Da saß sie nächtelang über alten Flecken und plagte sich mit ihnen ab, statt zu schlafen. Er gab ihr sein lumpigstes, abgegriffenstes, schmierigste Buch, aus Gehässigkeit, sie nahm es in liebevolle Pflege. Sie hatte Erbarmen, nicht mit Menschen, da war es keine Kunst, sondern mit Büchern. Sie ließ die Schwachen und Betrübten zu sich kommen. Des letzten, verlassenen, verlorenen Wesens auf Gottes Erdboden nahm sie sich an."

 

Aus drei Teilen gebaut ist dieser unglaubliche Roman, sie heißen Ein Kopf ohne Welt, Kopflose Welt, Welt im Kopf, entfaltet diese epische Parabel in grotesker Übertreibung den irrsinnigen Kosmos des Gelehrten und dessen Zerstörung durch den Irrsinn der Welt, von der er getrennt ist. Die Blendung, 1930-31 geschrieben und 1935 veröffentlicht, ist ein ungeheuer reichhaltiger Text, der seine Themen aus der Krisenstimmung der zwanziger Jahre schöpft. Nichts läge allerdings ferner als dieses Buch in ein Wiener Lokalkolorit zu pressen oder es auf einen ausschließlich österreichischen Kontext hin zu lesen. Ebensowenig ist es sinnvoll, den Roman seiner zeitgeschichtlichen Bezüge völlig zu entkleiden und ihn als eine pessimistisch-existentialistische Meditation zu lesen. Canettis Werk, das fruhe der Wiener Zeit, wie das späte, das sich dem Exil verdankt, hat seine Wurzeln in der frühen Erfahrung und Beobachtung des Zusammenstoßes von Politik und Tod, von Masse und Tod. Als zentral ist dabei einerseits das Erlebnis der Inflation in Deutschland, andererseits der 15. Juli 1927 in Österreich anzusehen. Beide Erlebnisse, die Inflation in Deutschland, vor allem aber der Brand des Wiener Justizpalastes, der, wie Canetti schreibt, »auf mein späteres Leben den tiefsten Einfluß hatte«, sind ausführlich in seinen autobiographischen Schriften dokumentiert.

 

Wenn Kien seinen täglichen Spaziergängen nachgeht, so führt er ständig ein Notizheft mit Bleistift mit sich, um sich die Dummheiten, die sich auf der Straße, außerhalb seiner Bibliothek, zutragen, zu notieren.
"Es folgte die Begebenheit, welche wieder die Dummheit der Menschen illustrieren sollte. Ein angewandtes Zitat, immer ein neues, bildete den Beschluss. Die gesammelten Dummheiten las er nie; ein Blick auf das Titelblatt genügte. In späteren Jahren dachte er sie herauszugeben, als Spaziergänge eines >Sinologen<"

 

Unbedingt lesen: Diesen gehässigen Zwerg Fischerle, die Zweiwortefrau Therese Krumbholz vergisst man nicht.

 

Erst der Anblick seiner zahlreichen Bücher gibt Peter Kien das Gefühl von Sicherheit:

 

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71. Lieblingsbuch: "Schwarzes Blut" spielt trotz einer schier unübersichtlichen, formal kühn montierten Handlungsfülle an einem einzigen Tag des Jahres 1917 und liefert in seiner Detailbesessenheit ein einzigartiges Panorama der französischen Provinz zur Zeit des Ersten Weltkriegs, während die Söhne im Feld verbluten, berauschen sich deren Väter daheim an einem Hurra-Patriotismus, den Guilloux als Perversität brandmarkt und dem er den großartig geschilderten Ausbruch einer Meuterei von vollkommen desilluisonierten Soldaten gegen ihre barbarisch brutalen Offiziere kontrastierend und gleichsam als Fanal seiner eigenen Hoffnungen entgegensetzt.

 

Louis Guilloux: "Schwarzes Blut", Roman, aus dem Französischen von Karl Heinrich; Wilhelm Heyne, München, 1981; 590 S., nur noch antiquarisch

 

Louis Guilloux (* 15. Januar 1899 in Saint-Brieuc; † 14. Oktober 1980 ebenda) war ein französischer Schriftsteller, der wie André Malraux und Albert Camus eine Literatur des sozialen Engagements vertrat – entsprechend zählte er während der Besatzungszeit zur Résistance. Neben Romanen und journalistischen Arbeiten verfasste der Englischlehrer auch Übersetzungen. Seit 1983 ist nach Guilloux, der selbst einige Auszeichnungen erhielt, der Prix Louis Guilloux benannt.

 

1924 verheiratete sich Guilloux mit Renée Tricoire. Er war mit den Schriftstellern Max Jacob und André Chamson befreundet; dieser verschaffte ihm Zugang zum Verlag Grasset, in dem 1927 sein erster Roman erscheinen konnte. Nun legte Guilloux in geringen Abständen etliche weitere Romane vor, von denen Le sang noir (Schwarzes Blut) aus dem Jahr 1935 hervorzuheben ist. Vor der Folie des Ersten Weltkrieges handelt dieses Buch vom Niedergang eines gehänselten und geschnittenen kleinstädtischen Philosophielehrers, aber auch von der Verheizung der Jugend im Militarismus. Sein „Held“ ist an Guillouxs frühen, anarchistisch gesinnten Philosophielehrer Georges Palante gelehnt, den er verehrte.

 

 

Als einen großen Geduldigen hat ihn einst Joseph Breitbach gerühmt: "Guilloux hetzt den Leser nicht; er zwingt ihn, vor Menschen, Dingen und Zuständen stillzustehn, vor dem, was ist, vor der Wirklichkeit, die nie beschönigt wird." Und Camus, der bekannte, er habe Guilloux immer wieder gelesen und dabei vor allem an ihm bewundert, daß er nie "die Stimme erhebe", hat sein Besonderes, sein Bewundernswertes so gesehen: "Guilloux denkt fast immer an den Schmerz bei den andern, und deshalb ist er vor allem der Romancier des Schmerzes; in den Augen ihres Schöpfers haben noch die verächtlichsten Kreaturen von Schwarzes Blut‘ eine Entschuldigung im Leid des Daseins."

 

Aus dem Schmerz, aus der Wahrnehmung der Leiden, denen die Menschen ausgeliefert sind, gewinnt er, bei aller Farbigkeit, den Ernst, die unerbittliche Nüchternheit und Genauigkeit, doch auch die Zärtlichkeit und Scham seines Erzählens.

 

 

Der Schuhmachersohn Guilloux verstand sich zeitlebens als sozialistischer Schriftsteller, wenn er sich auch nie einer Parteidoktrin beugte. 1936, als er André Gide auf seiner Reise in die Sowjetunion begleitete, brach er diese, enttäuscht, vorzeitig ab. Nach dem Franco-Sieg öffnete er sein Haus in Saint-Brieuc den spanischen Flüchtlingen. Er selbst mußte während der Okkupation vor der Gestapo nach Toulouse fliehen, von wo aus er für die Résistance arbeitete. Der literarische Betrieb wußte nie viel mit ihm anzufangen, auch wenn Guilloux dem französischen Nationalpreis nicht entging.

 

In Deutschland ist dieses Buch merkwürdigerweise nicht zu einem Begriff geworden. Kindlers Literatur-Lexikon vermeldet von diesem mit Jean Grenier und Georges PERROS (Lieblingsbuch No. 2) befreundeten bretonischen Schriftsteller, immerhin, wenn auch ohne Emphase, ein Buch: den 1935 erschienenen Roman "Schwarzes Blut", den Aragon neben den "Don Quijote" und Camus neben Tolstoij stellte, während ihn etwa Gaëton Picon zwischen Célines "Reise ans Ende der Nacht" und Sartres "Ekel" ansiedelte. Walter Heist, der hierzulande früh für den bis dahin nur in der DDR erschienenen Guilloux warb, bemühte als vergleichbare Größen sogar Dickens und Balzac; mit dem gleichen Recht hätte er Guilloux freilich auch als einen Nachfolger des Flaubert von "Bouvard et Pécuchet" ausmachen können.

 

Im Mittelpunkt dieses Buches steht eine meiner liebsten literarischen Figuren, die Gestalt des Philosophieprofessors Merlin, dem seine Schüler den Spitznamen Cripure geben, weil er sich so gerne auf Kants KRITIK DER REINEN VERNUNFT (Critique de la Raison pure) beruft. Einen nahen Bekannten oder Verwandten haben wir in PNIN schon kennengelernt, einen weiteren treffen wir im 72. Lieblingsbuch: KIEN.

 

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INTERMEZZO

 

GERTRUDE STEIN

 

As a wife has a cow - A love story

As a Wife Has a Cow A Love Story

Nearly all of it to be as a wife has a cow, a love story. All of it to be as a wife has a cow, all of it to be as a wife has a cow, a love story.
As to be all of it as to be a wife as a wife has a cow, a love story, all of it as to be all of it as a wife all of it as to be as a wife has a cow a love story, all of it as a wife has a cow as a wife has a cow a love story.

As a Wife Has a Cow A Love Story

Has made, as it has made as it has made, has made has to be as a wife has a cow, a love story. Has made as to be as a wife has a cow a love story. As a wife has a cow, as a wife has a cow a love story. Has to be as a wife has a cow a love story. Has made as to be as a wife has a cow a love story.
When he can, and for that when he can, for that. When he can and for that when he can. For that. When he can. For that when he can. For that. And when he can and for that. Or that, and when he can. For that and when he can.
And to in six and another. And to and in and six and another. And to and in and six and another. And to in six and and to and in and six and another. And to and in and six and another. And to and six and in and another and and to and six and another and and to and in and six and and to and six and in and another.
In came in there, came in there come out of there. In came in come out of there. Come out there in came in there. Come out of there and in and come out of there. Came in there. Come out of there.
Feeling or for it, as feeling or for it, came in or come in, or come out of there or feeling as feeling or feeling as for it.
As a wife has a cow.
Came in and come out.
As a wife has a cow a love story.
As a love story, as a wife has a cow, a love story.
Not and now, now and not, not and now, by and by not and now, as not, as soon as not not and now, now as soon now, now as soon, and now as soon as soon as now. Just as soon just now just now just as soon just as soon as now. Just as soon as now.
And in that, as and in that, in that and and in that, so that, so that and in that, and in that and so that and as for that and as for that and that. In that. In that and and for that as for that and in that. Just as soon and in that. In that as that and just as soon. Just as soon as that.
Even now, now and even now and now and even now. Not as even now, therefor, even now and therefor, therefor and even now and even now and therefor even now. So not to and moreover and even now and therefor and moreover and even now and so and even now and therefor even now.
Do they as they do so. And do they do so.
We feel we feel. We feel or if we feel if we feel or if we feel. We feel or if we feel. As it is made made a day made a day or two made a day, as it is made a day or two, as it is made a day. Made a day. Made a day. Not away a day. By day. As it is made a day.
On the fifteenth of October as they say, said any way, what is it as they expect, as they expect it or as they expected it, as they expect it and as they expected it, expect it or for it, expected it and it is expected of it. As they say said anyway. What is it as they expect for it, what is it and it is as they expect of it. What is it. What is it the fifteenth of October as they say as they expect or as they expected as they expect for it. What is it as they say the fifteenth of October as they say and as expected of it, the fifteenth of October as they say, what is it as expected of it. What is it and the fifteenth of October as they say and expected of it.
And prepare and prepare so prepare to prepare and prepare to prepare and prepare so as to prepare, so to prepare and prepare to prepare to prepare for and to prepare for it to prepare, to prepare for it, in preparation, as preparation in preparation by preparation. They will be too busy afterwards to prepare. As preparation prepare, to prepare, as to preparation and to prepare. Out there.
Have it as having having it as happening, happening to have it as having, having to have it as happening. Happening and have it as happening and having it happen as happening and having to have it happen as happening, and my wife has a cow as now, my wife having a cow as now, my wife having a cow as now and having a cow as now and having a cow and having a cow now, my wife has a cow and now. My wife has a cow.

Gertrude Stein zählt wie Virginia Woolf zu den ersten Frauen der klassischen literarischen Moderne. Sie schrieb experimentelle Romane, Novellen, Essays, Gedichte, literarische Porträts und Bühnenwerke, in denen sie sich über sprachliche und literarische Konventionen hinwegsetzte, sodass viele Kritiker und Leser ihr Werk als zu schwierig empfanden, sich darüber belustigten oder es ignorierten. Erst ihr mehr im konventionellen Stil verfasstes Buch The Autobiography of Alice B. Toklas, 1933 in New York veröffentlicht, erreichte einen hohen Bekanntheitsgrad und machte sie zu einer literarischen Berühmtheit. Stein prägte den häufig in Abwandlungen zitierten Satz „Rose is a rose is a rose is a rose“, der aus dem Gedicht Sacred Emily in dem 1922 veröffentlichten Buch Geography and Plays stammt.

Diese „Rückführung und Rückbesinnung der Sprache auf sich selbst“ bei Gertrude Stein interessiert 1955 Heißenbüttel in seinem Aufsatz. Er analysiert für ihre Texte vor der Autobiography (1932) eine „Opposition gegen die Kategorie des Inhaltlichen“ und verzichtet seinerseits für das von ihm besprochene Stück, As a wife has a cow (1926), auf eine Interpretation inhaltlicher Aspekte. (Immerhin ist diese „love story“ das zweite Portrait von Alice B. Toklas, Steins Lebensgefährtin; und „cow“ ist Steins Chiffre für Orgasmus.) Statt dessen kommentiert er die Textbeschaffenheit, beschreibt gramma - tische Indifferenz, Kombinationen, Variations- und Formelketten, Muster, rhythmische Komplexe. Zugleich bleibt aber nicht unbeachtet, dass mittels bestimmter Wörter und Formulierungen „Erinnerung an Zusammenhänge, die nicht nachvollzogen werden können“, angelockt wird. „Also doch ein Inhalt, doch eine Geschichte? Dies sowenig wie eine rein abstrakte Komposition. Sondern von beidem etwas.“ Im Begriff der allgemeinen „Aussage“, die einen Zustand bezeugt, findet Heißenbüttel die Synthese. Beachtenswert an diesem Hegel folgenden Begriff ist auch, dass Heißenbüttel das mit der „Aussage“ realisierte existentielle sich „vor sich selbst“-Bringen des Menschen in der Korrespondenz mit Eugen Gomringer gegen eine mögliche Leere und Sinnlosigkeit der „Konstellation“ stark gemacht hatte: Erst die Erfahrung unserer Welt verleihe dem Spiel und dem absoluten Wort Sinn. (Gomringers wichtiger Aufsatz vom vers zur konstellation war 1955 ebenfalls im Augenblick erschienen.) Heißenbüttel fährt fort, dass der meditative Charakter des Textes As a wife sich im Nachdenken der bedeutungsmäßig nicht auflösbaren Wortkombinationen einlöst. Fazit: Sprache ist der Kommunikationssphäre zu entziehen, statt dessen müssen autonome Wörter und Formulierungen „wie Erinnerungsdinge“ gesehen werden: „Hierin liegt gleichzeitig der unermüdliche Anreiz zur Reflexion. Reflexion und Meditation werden geradezu provoziert. Eine gewisse Einübung ist dabei notwendig. Neue Aspekte ergeben sich, wenn sie geleistet ist.“ 

Helmut Heissenbüttel. Über Literatur. Stuttgart 1966

 

Gertrude Stein Wife Has a Cow

 

 

 

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70. Lieblingsbuch: Wie der nächste Autor schon zum Auftakt des Buches in einem Satz, der sich sich über zwei Seiten erstreckt, die "eigentümlichen Wirklichkeit" dieses Romans in atemberaubender stilistischer Virtuosität entwirft, ist außerordentlich.

Laszlo Krasznahorkai.

Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss

Roman

Cover: Im Norden ein Berg, im S&uuml;den ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss

Ammann Verlag, Zürich 2005
ISBN 9783250600800
Gebunden, 154 Seiten, 18,90 EUR

 

"Japanischer als das Original" kommt Hans-Peter Kunisch, Rezensent in der Süddeutschen Zeitung, diese Erzählung von Laszlo Krasznahorkai über die Suche des Genji-Enkels nach dem perfekten Garten vor, und das meint er durchaus anerkennend. Wie ein Haiku sei das Werk "auf beeindruckende Weise" konzentriert, trotzdem komme wie in einem Epos alles zur Sprache, von der Entstehung eines Erdbebens bis zur unaufgeräumten Kammer eines nachlässigen Abts. Der Enkel des mythischen Helden Prinz Genji, ein "schöner, schwacher Spätling", sucht in einem Kloster nach dem vollendeten Naturerlebnis. Neben einer "überzeugenden Dramaturgie", die sich aus der Anordnung des in Ruinen versunkenen Klosters speist, schafft es Krasznahorkai, die Schönheit der Natur nicht nur zu beschreiben, sondern sie in "weit ausgreifenden, Jahrhunderte umfassenden Sätzen" geradezu Wirklichkeit werden zu lassen, berichtet der Rezensent ergriffen. Ein lohnendes Leseerlebnis offenbar, abgerundet mit einer Prise "spielerischer Ironie" und verfeinert durch die "wunderbar rhythmische" Übersetzung von Christina Viragh.

 

Laszlo Krasznahorkai, 1954 in Gyula/Ungarn geboren, studierte Philosophie an der Budapester Universität. Für sein literarisches Schaffen erhielt er zahlreiche Preise. 1996 war er Gast des Wissenschaftskollegs, 2008 S.Fischer Gastprofessor an der FU Berlin. Bela Tarr verfilmte einige von Krasznahorkais Büchern, darunter "Satanstango" und die "Melancholie des Widerstands" als "Werckmeisters Harmonien". Laszlo Krasznahorkai lebt heute als freier Autor in Berlin und ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.

 

Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Im Süden Kyotos, an der einschienigen Schnellbahn der Kaihan-Linie gelegen, nur eine Haltestelle außerhalb der Stadt, ist ein Kloster. Eine labyrinthische Steigung führt den Enkel des Prinzen von Genji an diesen abgelegenen Ort. Irgendwo hier müßte er sein, der schönste Garten der Welt. Wie von selbst werden seine Schritte durch die Klosteranlage gelenkt. Eine ausgeklügelte Bauweise hat die Natur in Form gebracht, jedes Ding hat seinen Platz und seine wohlgeformte Gestalt eine Bedeutung an sich. Und so eröffnet sich ein feiner, minutiöser Blick auf die Natur, auf Pflanzen, Wind und Vögel, wie auch auf die Architektur, auf Pagoden, Höfe, Terrassen.Das Kleine groß werden zu lassen, Unauffälliges in den Mittelpunkt zu rücken, die Bedeutung zu erkennen, die selbst dem scheinbar Zufälligen innewohnt, Schönheit im Alltäglichen aufzuspüren und das ordnende Prinzip im angeblichen Chaos zu benennen, all das leistet Laszlo Krasznahorkai bei seinem Ausflug in die japanische Landschaft und in Japans Ideen- und Gedankenwelt.

 

Im S. Fischer Verlag sind die Bücher von Krasznahorkai nach dem Ende des besten deutschsprachigen Verlages und Verlegers Egon Ammann erschienen und alle sind sie sehr lesenswert. DIE WELT VORAN. ERZÄHLUNGEN: Dem Zauber des Beginns ist immer schon der Schrecken des Endes eingeschrieben. Von den europäischen Schriftstellern seiner Generation hat keiner dies so deutlich erfahren wie der ungarische Autor und europäische Weltbürger László Krasznahorkai. In seinem Werk wird eine so betörend luzide wie düstere Karte unserer Gegenwart gezeichnet. KRIEG UND KRIEG: Die Geschichte des eigenbrötlerischen und einsamen Korim, eines Archivars und Privatgelehrten aus einer ungarischen Provinzstadt, der einen radikalen Entschluss gefasst hat: Von einem Tag auf den anderen begibt er sich auf eine Reise nach USA, genauer New York City, um dort zu sterben. Seine Reise führt ihn über imaginäre oder auch real besuchte "Leidensstationen" in Budapest, New York, Kreta, Köln, Venedig, Rom. Es ist eine Reise durch die Vergangenheit des Abendlandes. DIE MELANCHOLIE DES WIDERSTANDS: Eine kleine Stadt in Südostungarn wird durch die Ankunft eines ominösen Zirkus aus seiner Lethargie gerissen. Hauptattraktion ist ein Herzog mit drei Augen und kaum zehn Kilogramm schwer. Er ist gekommen, um alle zu richten. Die Bewohner der Stadt sind in Aufruhr und versuchen sich vergeblich der Bedrohung zu wiedersetzen. László Krasznahorkai, der Meister der Apokalypse, hat eine schwarze Parabel auf Osteuropa geschrieben.   und...und...und...

 

In seinem 10. Roman, BARON WENCKHEIMS RÜCKKEHR, entwirft Krasznahorkai eine morbide Welt. Die Menschen in ihr kreisen verloren und irrlichternd um ihr eignes Schicksal. Sie alle erzählen die Geschehnisse aus ihrer ganz subjektiven Perspektive: der ehrgeizige Polizeipräsident, der autoritäre Chefredakteur, der überforderte Bürgermeister, skrupellose Geschäftemacher, gewaltbereite Halbstarke, die enttäuschte Geliebte oder der vor der Welt in eine Waldhütte entflohene berühmte Professor.

 

Es ist ein disharmonischer Trauerchor, dessen absurder Sound in dem entstandenen Chaos die nahende Katastrophe verkündet. László Krasznahorkai: "Das Chaos ist nicht der Endzustand, sondern der natürliche Zustand der Welt."

 

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69. Lieblingsbuch
alphabet (6) [den fischreiher gibt es]

den fischreiher gibt es, mit seinem graublau gewölbten
rücken gibt es ihn, mit seinem federschopf schwarz
und seinen schwanzfedern hell gibt es ihn; in kolonien
gibt es ihn; in der sogenannten Alten Welt;
gibt es auch die fische; und den fischadler, das schneehuhn
den falken; das mariengras und die farben der schafe;
die spaltprodukte gibt es und den feigenbaum gibt es;
die fehler gibt es, die groben, die systematischen,
die zufälligen; die fernlenkung gibt es und die vögel;
und die obstbäume gibt es und das obst im obstgarten wo
es die aprikosenbäume gibt, die aprikosenbäume gibt,
in ländern wo die wärme genau die farbe im fleisch
erzeugen wird die aprikosenfrüchte haben

 

Aus: alfabet / alphabet. (3. korrigierte Auflage)
Münster: Kleinheinrich Verlag, 2001

 

* 16.01.1935, Veije / Jütland , Dänemark
† 02.01.2009, Kopenhagen, Dänemark

Inger Christensen wurde 1935 in Veije an der Ostküste von Jütland in Dänemark geboren. Sie legte die Lehrerprüfung ab und arbeitete an einer Kunsthochschule. Seit 1962 lebte sie als freie Autorin in Kopenhagen. Inger Christensen verstarb am 2. Januar 2009.

Christensen veröffentlichte zwei Romane, Erzähltexte und Hörspiele, ein Theaterstück, ein Opernlibretto und Essays, vor allem aber Gedichte. Sie galt bereits zu Lebzeiten als eine der wichtigsten Lyrikerin Europas. Zahlreiche Texte liegen, meist in der souveränen Übertragung durch Hanns Grössel, auf Deutsch vor.

 

Inger Christensen.

Das Schmetterlingstal. Ein Requiem
Sommerfugledalen. Et requiem. Dänisch und deutsch

Bibliothek Suhrkamp Band 3003, 11.- €

 

Das Schmetterlingstal ist ein Meisterwerk europäischer Poesie. Es enthält einen klassischen Sonettenkranz mit vierzehn Sonetten und dem abschließenden Meistersonett. Christensens Requiem führt zurück in ein »Kindheitsland «, entfaltet in einem Spiel von kindlichen Verwandlungen eine »Symmetrie der Trauer«, »die von meinem Leben überholte Trauer«, es versucht, »die Schmetterlinge Seelen und / Sommergesichte verschwundener Toter zu nennen«. Hier wie in allen Texten der Dichterin läßt sich nicht auseinanderhalten, was uns die Wirklichkeit – aber welche Wirklichkeit? – auseinanderzuhalten gelehrt hat: Realität und Imagination, Faktum und Fiktion, Wachen und Traum, Chronik und Märchen.

Worte könnten es sein
die der Welt
Gnade brächten
die Angst formulierten
so daß jeder einzelne
in seiner Angst
wüßte daß er zwar
allein in der Welt ist
zwar allein ist
mit seiner Angst
aber nie allein
mit seinem eignen Bewußtsein
von der Angst
von der Welt
Worte könnten es sein
der Stoff den wir ohnehin
miteinander teilen
der Stoff der das Gemüt
und die Sinne
erweitern kann
könnten Worte sein.

Inger Christensens Werk, der streng-klassische Sonettenkranz Das Schmetterlingstal, ist eine von Staunen und auratischer Erfahrung beseelte Schöpfungsgeschichte. Die Regel des Sonettenkranzes will es, daß die ersten vierzehn Sonette die Schlußzeile des vorangehenden Sonetts als Anfangszeile aufnehmen – so daß eine Ringkomposition entsteht. Das 15. und letzte Sonett, das sogenannte „Meistersonett“, zieht die lyrische Summa des ganzen Zyklus – und resümiert im vorliegenden Fall das Werden und Vergehen kreatürlichen Lebens.
In einem südlichen Tal, dem Brajcinotal, erscheinen die einzelnen Schmetterlingsarten, und werden in elegischer Beschwörung als Verkörperungen von Leben und Tod angerufen. Das Gedicht selbst wird zum Abwehrzauber gegen den Tod. Im poetischen Schmetterlingstal kommen die Phänomene der Natur und die Sprache noch einmal zusammen – in einem Requiem, einem Abschied.

Die Tore zum Paradies scheinen wieder offen – und die Sehnsucht, die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen, scheint sich zu erfüllen. Aber das poetisch heraufgerufene Paradies ähnelt am Ende nicht mehr dem Garten Eden, sondern dem Garten eines Friedhofs:

 

Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
wie Farbenstaub vom warmen Körper der Erde,
Zinnober, Ocker, Gold und Phosphorgelb,
ein Schwarm von chemischem Grundstoff hochgehoben.

Dieses Flügelflimmern – ist es nur eine Schar
von Lichtteilchen in einem Gesicht der Einbildung?
Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit,
zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?

Nein, es ist der Engel des Lichts, der sich selbst
als schwarzen Apollo mnemosyne malen kann,
als Feuervogel, Pappelvogel und Schwalbenschwanz.

Mit meiner umschleierten Vernunft sehe ich sie
wie leichte Federn im Pfühl des Hitzedunstes
in der mittagsheißen Luft des Brajcinotals.

(…)

Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
in der mittagsheißen Luft des Brajcinotals,
aus der unterirdisch bitteren Höhle herauf,
die das Berggebüsch mit seinem Duft verdeckt.

Als Bläuling, Admiral und Trauermantel,
als Pfauenauge flattern sie umher
und gaukeln dem Toren des Universums ein Leben
vor, das nicht wie nichts stirbt.

Wer ist es, der diese Begegnung verzaubert
mit Anflügen von Seelenfrieden und süßen Lügen
und Sommergeschichten verschwundener Toter?

Mein Ohr antwortet mit seinem tauben Klingen:
Es ist der Tod, der dich mit eigenen Augen
vom Schmetterlingsflügel aus anblickt.

 

Michael Braun, die horen, Heft 189,

 

Lange, sehr lange hat es gedauert, bis die einzigartige Dichtung der Inger Christensen den deutschsprachigen Raum erreicht hat. Bis vor wenigen Jahren war die  Autorin außerhalb Dänemarks nur einem kleinen Kreis von Skandinavisten bekannt; eine Folge vielleicht auch einer Befangenheit vor dem Dänischen, dem selbst ein Hans Magnus Enzensberger schon Unübersetzbarkeit attestiert hat. Um so höher ist die Übersetzungsleistung von Hanns Grössel zu bewerten, der schon seit dreißig Jahren das Oeuvre Inger Christensens begleitet und für den Münsteraner Lyrik-Verlag Josef Kleinheinrich ihre Hauptwerke in absolut verläßliche Versionen übertragen hat. Seit 1988 erschienen im Kleinheinrich Verlag sechs zentrale Werke Inger Christensens, vom Opus magnum „alphabet“ bis hin zum jüngsten Buch der Autorin, dem Sonettenkranz „Das Schmetterlingstal“. Dank der vorbildlichen Editionspraxis des Kleinheinrich Verlags, und dank einiger kundiger Essays in der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ hat das Werk der Autorin den Weg aus den elitären Lyrik-Zirkeln heraus ins Freie einer zunehmend begeisterten Öffentlichkeit gefunden. Und wer sich wirklich darauf einlässt, der wird begeistert sein.

 

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68. Lieblingsbuch: »In diesem Buch will ich Kindern einiges aus meiner Kindheit erzählen. Nur einiges, nicht alles. Sonst würde es eines der dicken Bücher, die ich nicht mag, schwer wie ein Ziegelstein, und mein Schreibtisch ist schließlich keine Ziegelei.« Erich Kästner hält, was er verspricht: Er erzählt von alltäglichen, lustigen, aber auch nachdenklich stimmenden Erlebnissen aus seiner Zeit als Großstadtjunge.

Erich Kästner. Als ich ein kleiner Junge war
Atrium Verlag 9783855356119 14.- €

In seinen Kindheitserinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ zeigt er auf, daß die Mutter die wichtigste Person in seinem Leben ist. Und sie bleibt es. Keine Frau kann je auch nur annäherungsweise an die Mutter heranreichen, der er Briefe und seine schmutzige Wäsche schickt, der er von jedem Liebesabenteuer haarklein berichtet.

„Meine Mutter war kein Engel und sie wollte auch keiner sein. Ihr Ideal war handgreiflicher. Ihr Ziel lag in der Ferne, doch nicht in den Wolken. Es war erreichbar. Und weil sie energisch war wie niemand sonst und sich von niemandem reinreden ließ, erreichte sie es. Ida Kästner wollte die vollkommene Mutter ihres Jungen werden und weil sie das werden wollte, nahm sie auf niemanden Rücksicht – auch auf sich selber nicht und wurde die vollkommene Mutter. All ihre Liebe und Phantasie, ihren ganzen Fleiß, jede Minute und jeden Gedanken, ihre gesamte Existenz setzte sie fanatisch wie ein besessener Spieler auf eine einzige Karte: auf mich. Ihr Einsatz hieß: Ihr Leben mit Haut und Haar, die Spielkarte war ich. Deshalb mußte ich gewinnen. Deshalb durfte ich sie nicht enttäuschen. Deshalb wurde ich der beste Schüler und der bravste Sohn. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie ihr großes Spiel verloren hätte. Da sie die vollkommene Mutter sein wollte und war, gab es für mich, die Spielkarte, keinen Zweifel, ich mußte der vollkommene Sohn sein.“

Als die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 Bücher und Bilder unliebsamer Künstler verbrannten, waren auch Werke von Erich Kästner darunter. Seine zeitkritischen und satirischen Texte hatten ihn in Ungnade fallen lassen. Der am 23. Februar 1899 in Dresden geborene Journalist und Schriftsteller lebte und arbeitete weiter in Berlin und publizierte im Ausland. Die Gedichtbände "Herz auf Taille" und "Lärm im Spiegel" erschienen 1928 und 1929, ebenso sein bekanntestes Kinderbuch "Emil und die Detektive". Nach dem Krieg lebte Kästner in München und rechnete als Mitglied der "Schaubude" sowie in seinen Hörspielen und Liedern mit den Nazis ab. Er starb am 29. Juli 1974 in München. Warum ist Kästner nicht emigriert? Warum bleibt er in Berlin und hält sich mit seichten Publikationen über Wasser? Die Biographen sind sich einig: der Mutter wegen. Sie hat ihren Sohn im Krieg ein Jahr nicht gesehen und nichts von ihm gehört. Das ist schlimmer für sie als Hunger und Kälte, als die Angst vor den Bomben und dem Tod. Wäre Kästner emigriert, sie hätte es nicht überlebt.

In Als ich ein kleiner Junge war wird deutlich, dass auch Kästners andere Kinderbücher teilweise starke autobiografische Züge tragen. So haben zum Beispiel sowohl Anton aus Pünktchen und Anton als auch Emil aus Emil und die Detektive eine ähnlich enge Beziehung zu ihrer Mutter wie Kästner zu seiner eigenen Mutter, die wie Emils Mutter ein Friseurgeschäft betrieb. Die Gewohnheit seiner Mutter, ihn auf dem Schulweg heimlich zu verfolgen, um sicher zu sein, dass er unversehrt in der Schule ankam, griff Erich Kästner in der Geschichte Frau Hebestreit spioniert auf, die 1962 in Das Schwein beim Friseur erschien. Seine Zeit als externer Schüler eines Internats verarbeitete er unter anderem in Das fliegende Klassenzimmer. Auch die Namen seiner Romanfiguren sind teilweise von Personen seiner Kindheit entlehnt. So ist zum Beispiel Gustav, wie Kästner eine zentrale Figur in Emil und die Detektive nannte, der Name eines seiner besten Freunde aus Kindertagen, und sein Volksschullehrer Herr Bremser taucht als Antons verständnisvoller Klassenlehrer in Pünktchen und Anton auf.

»Die Monate haben es eilig. Die Jahre haben es eiliger. Und die Jahrzehnte haben es am eiligsten. Nur die Erinnerungen haben Geduld mit uns. Besonders dann, wenn wir mit ihnen Geduld haben«, schreibt Erich Kästner in seinem Nachwort zu seinen Kindheitserinnerungen ›Als ich ein kleiner Junge war‹. Kästner, 1899 in Dresden geboren, erzählt von den Jahren 1907 bis 1914 in seiner Heimatstadt, aber auch sehr anschaulich von der Kindheit seiner Eltern und seiner Großeltern. Er beschreibt das Alltagsleben seiner Familie, die gesellschaftlichen Zwänge und Konventionen, das Treiben auf den Straßen und Plätzen Dresdens.

 

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67. Lieblingsbuch: Bei manchen Autoren hat man beim Wiederlesen das Gefühl auf etwas Vertrautes zu stoßen, aber nichts vertrautes, das man im Lesen erinnert: es ist so, als wären es die eigenen Gedanken, die einem zum wiederholten Male begegnen. Ich lese gerade wieder die Erzählung NATALIE von Iwan Alexejewitsch Bunin und man fragt sich nach Ende der Lektüre, warum andere Autoren auch nur den Versuch unternehmen, Texte zu verfassen, die mit denen Bunins standhalten können.

Iwan Bunin. Frühling
9783596906383 Fischer Klassik, 14.- €

14 Erzählungen vom ersten russischen Literaturnobelpreisträger auf der Höhe seines Schaffens. 1913 ist eines der produktivsten Jahre in Iwan Bunins Schriftstellerleben. In den Erzählungen dieses Jahres nimmt er voller Empathie die"russische Seele"in den Blick. Mit seiner ganzen Erzählgewalt zeichnet Iwan Bunin präzise, anrührende Skizzen einer Welt, die zwischen boomenden Großstädten und den Strapazen der aufbegehrenden Landbevölkerung zu zerreißen droht. Klarheit und nebliges Verwischen, Zuneigung und Befremden lösen sich ab, und am Horizont beginnt die Ankündigung existentieller Umbrüche heraufzuziehen.

Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Grob. 1913 - das Jahr vor der Weltkriegskatastrophe - fiel in die Zeit boomender russischer Großstädte und der unge­lösten Fragen in der russischen Provinz. Russlands Weiten sind geprägt von Niedergang und diffuser Erwartung. Auf der Höhe seiner Erzählgewalt verfolgt Iwan Bunin sein li­terarisches Großprojekt, das Bild dieser Welt zu zeichnen. Der Bauer, der zur Unzeit sein Getreide verkaufen sollte, oder derjenige, der seinem Herrn Geschichten von Gewalt gegen Gutsbesitzer erzählt, der Seminarist, der sich für et­was Besseres hält, die brutal verprügelte Kupplerin, der in alle Geheimnisse eingeweihte Pferdedoktor, der missrate­ne, gequälte Sohn, die Frau, die ihr Leben in der Erinnerung an einen jugendlichen Sommer voller Liebe verbringt, und nicht zuletzt der Städter, der kurz in seinem provinziellen Kindheitsort Halt macht - in all diesen und anderen Fi­guren, in jeder dieser präzisen wie poetischen, anrührenden Skizzen, findet sich ein Stück dieser Welt wieder.

Seit dem Dörlemann Verlag mit Iwan Bunins kurzer Brief-Erzählung „Ein unbekannter Freund“ ein glanzvolles Debüt gelang, gehört der russische Schriftsteller zu den Hausgöttern und Glücksbringern des kleinen Zürcher Literaturverlags. Inzwischen wartet Dörlemann mit einer viel beachteten Werkausgabe auf.

Iwan Alexejewitsch Bunin wurde 1870 als Sohn eines Gutsbesitzers in Woronesch geboren. Er war mit Tschechow befreundet und Mitglied der Znanie-Gruppe um Gorki. 1920 emigrierte er nach Frankreich. Bunin war der bedeutendste Dichter der russischen Emigranten. Seine Prosa war vom Realismus Puschkins, Gontscharows und Turgenjews beeinflusst. 1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb 1953 in Paris.
Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Novellen "Der Herr aus San Francisco", 1916; "Mitjas Liebe", 1925; Das Leben Arsenjews", 1930 und der Roman "Suchodol", 1912.

Völlig hingerissen zeigt sich Ilma Rakusa von diesen frühen Erzählungen Iwan Bunins. Sie würdigt den Autor, der 1933 in der Emigration ging als den bedeutendsten Prosastilisten". Großartig findet sie, wie in den vorliegenden Erzählungen Sprache und Stoff zueinander finden. Ebenso suggestiv wie sublim erzählen die Texte für sie von den Leiden und Freuden eines Kindes, vom Leben des Landadels, von Bauern, Bettlern, porträtieren ironisch Städter, die es sich auf dem Land gut gehen lassen, und stimmen gelegentlich auch einen ergreifenden melancholischen Ton an. Rakusa schwärmt vom Talent des Autors, poetisch zu verdichten, Momente so zu beschreiben, dass sie "Tiefe und Weite entfalten und zauberisch zu leuchten beginnen". Auch Bunins Beschwörungen der Natur, die in den Erzählungen als "grandios schöner oder schrecklicher Begleiter menschlichen Tuns" erscheint, haben sie zutiefst beeindruckt und bewegt. Fazit: Meisterhaft.

Iwan Bunin tastet die Würde seiner Protagonisten nicht an, allen zollt er den schuldigen Respekt. Auch dem Verwerflichsten begegnet er, ohne zu urteilen oder gar zu verurteilen. Darin folgt er seinem Mentor und väterlichen Freund Anton Tschechow, der seine Helden mit großer Gerechtigkeit zeichnete und das Urteilen dem Leser überließ.

Maxim Gorki schrieb über ihn: „Nehmen Sie Bunin aus der russischen Literatur heraus und sie wird glanzlos, verliert ihren Regenbogenschein und das Sternenlicht seiner einsamen Wandererseele.“

"Hinter dem Garten zog eine Wolke herauf, die Luft wurde trübe und immer breiter und näher zog über den Garten weiches sommerliches Geräusch, sanft wehte von den Feldern her ein regenfeuchter Wind, und ich...“

 

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66. Lieblingsbuch:

"Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren"
Novalis

 

 

Jeden Morgen und jeden Abend sitzt Julien Green an seinem Schreibtisch in der Rue Vaneau und schreibt. Die letzte Eintragung in sein Tagebuch, das er seit dem 9. April 1926 führt, macht er am 1. Juli 1998. Der letzte Satz lautet: "Die Ereignisse sind im Innern." Am 13. August stirbt er, ohne ein weiteres Wort geschrieben zu haben. Der letzte Name, den er nennt, ist der des Dichters Novalis. Der letzte Satz, den er spricht, heißt: "Ich bin sehr zufrieden." Die letzten Töne, die er vernimmt, sind die der Arietta von Beethoven.

 

Julien Green. Leviathan
Dtv München 1997, 320 Seiten

 

Guéret, Hauslehrer in einem französischen Provinznest, ist vom Leben enttäuscht. Auch die Leidenschaft zu Angèle scheint ihm aussichtslos. Als er begreift, daß die »Liebe« des Mädchens durchaus zu erlangen ist und daß zahlreiche Männer von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, gerät er außer sich.

 

„Ich will, dass heute der erste Tag eines neuen Lebens ist“

 

Julien Green wurde am 6. September 1900 als Sohn amerikanischer Eltern in Paris geboren, er wuchs zweisprachig auf und wurde protestantisch erzogen. 1916 konvertierte er zum Katholizismus. 1919 bis 1922 studierte er in Charlottesville/Virginia unter anderem Geschichte und Griechisch. Ab 1922 wieder in Paris. Bereits mit seinem dritten Roman, ›Leviathan‹ (1929), erlangte er Weltruhm. 1940-45 Emigrant in Amerika. 1971 Mitglied der Académie française. Green starb am 13. August 1998 in Paris.

 

„Ich bin Katholik und ich bin Schriftsteller. Ich bin kein katholischer Schriftsteller“

 

Der Name Leviathan bedeutet auf Hebräisch "der sich Windende". Dieses Wesen gilt im Judentum wie im Christentum als Ungeheuer, das im Wasser lebt und von der Form einer Schlange oder einem Drachen ähnelt. Der Leviathan ist riesig, trägt feste Schuppen und kann Feuer speien. Laut der Tora hat Gott ihn erschaffen, um mit ihm zu spielen. Der Leviathan wird auch oft mit dem Teufel in Verbindung gebracht und steht für Chaos, Gefahr und Sünde.

Gerne wird wiederholt, was Julien Green über das Geheimnis seines Schreibens berichtet hat: daß nicht er selbst es sei, der die Feder führe, sondern ein "anderer". Vor allem der Roman "Adrienne Mesurat" und der zwei Jahre darauf veröffentlichte "Leviathan" haben sich - so Julien Green - diesem Unbekannten zu verdanken. Green hörte gerne, was Breton sagte: Er sei ein hervorragendes Beispiel für die von den Surrealisten hochgeschätzte "écriture automatique": Schreiben ohne Selbstzensur. Auch die Psychoanalyse - käme sie zu Wort, das ihr Green verbietet - würde Kräfte aufstöbern, die zum Fabulieren drängen. Offen zutage liegt erst einmal ein Muster.

 

„Man macht einen Roman aus der Sünde, so wie man einen Tisch aus Holz macht“

 

Lesen Sie, wenn Ihnen dieser dunkle Stil gefällt, unbedingt auch „Jeder Mensch in seiner Nacht“ und „Moira“ und „Adrienne Mesurat“ und...

Wenn Sie nicht genug kriegen lesen Sie die Tagebücher: Erstaunlich ist der Gegensatz, den die "human gefilterten" Tagebücher des sehr zurückgezogen lebenden Green bilden zu den finsteren Leidenschaften, die seine Romane beherrschen. Hier gruselt sich Green, bei aller Gottesgewissheit, die ihn als zum Katholizismus Konvertierten auszeichnete, vor der Welt der Politik, vor Atomkraftwerken und Kinderarbeit, Schändung jüdischer Friedhöfe und kalten Kameraaufnahmen von sterbenden Kindern.

 

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65. Lieblingsbuch: Ein ganzer Autor und alle seine Bücher als Lieblingsbuch - eigentlich ist das ein bißchen viel - aber nicht in diesem Fall... Schmeißt euern Fontane in die Tonne und lest Keyserling.

Eduard von Keyserling.

Feiertagskinder. Späte Romane. Schwabinger Ausgabe, Band 2

Manesse Verlag, Zürich 2019
ISBN 9783717524984
Gebunden, 720 Seiten, 28,00 EUR

 

"Glauben Sie, 'schön sein' sei bequem? Schönheit kompliziert das Schicksal, legt Verantwortungen auf, und vor allem: Es stört unsere Abgeschlossenheit. Denken Sie sich [...], Sie wären sehr schön. Mit jedem Menschen, der ihnen begegnet, bindet ihr Gesicht an, wirkt auf ihn, drängt sich ihm auf, spricht zu ihm, ob Sie wollen oder nicht. Schönheit ist eine ständige Indiskretion."

 

Längst ist Eduard von Keyserling in aller Munde – als bemerkenswerteste Wiederentdeckung der modernen deutschsprachigen Literatur. Keiner beschreibt das Farbenspiel der Natur sinnlicher, suggestiver, keiner geht jedoch auch raffinierter mit seinen Figuren ins Gericht. Die Renaissance des genialen Seelenzeichners und Stimmungskünstlers verdankt sich ganz entscheidend dem Engagement des Manesse Verlags, zuletzt mit «Landpartie», dem vielbeachteten Jubiläumsband 2018. Nach den gesammelten Erzählungen folgt nun der nächste Streich: die späten Romane in einer umfassend kommentierten Edition. Sie enthält die glänzenden Höhepunkte aus dem letzten Lebensjahrzehnt Keyserlings, neben «Wellen» (1911) noch «Abendliche Häuser» (1914), «Fürstinnen» (1917) und «Feiertagskinder» (1918/19).

 

„Die Männer neigen sowieso zu Unregelmäßigkeiten, wir Frauen müssen daher streng auf Ordnung halten.“ Will sagen: Sie garantieren den Zusammenhalt der Gesellschaft.

 

z.B. WELLEN: Keyserling erzählt die Geschichte einer verheirateten Adeligen, die mit einem Maler durchgebrannt ist und jetzt unter den Augen einer gehässigen Dienerin und der naserümpfenden feinen Gesellschaft mit diesem in einer Fischerhütte an der Ostsee lebt. Der Alltag der beiden scheint sich recht prosaisch zu gestalten. Man ist hin und weg von der Einfühlungs- und Beschreibungskunst Keyserlings, der uns hier eine ganze Welt eröffnet: von der guten Gesellschaft bis zu den einfachen Fischern. Ein großer Wurf, wie alles andere auch.

 

»So unglücklich die Figuren, die dieser Autor erfindet, ..., auch sein mögen – so glücklich macht die Lektüre dieser Romane die Leser. ... Es gibt nichts, was Eduard von Keyserling nicht beherrscht. ... Die Romane scheinen gradlinig erzählt, sind aber tatsächlich durchkomponiert und bereiten Ereignisse und Umschwünge anhand von exakt gesetzten Leitmotiven vor. Jedes Detail sitzt, jeder Dialog ist mit Bedeutung aufgeladen, jede Beschreibung ist motiviert.« Deutschlandfunk

 

»Keyserling versteht einen Sommerabend so zu beschreiben, dass man während seines Glühens und Verdämmerns das Gefühl des ganzen Lebens hat.« – Was Hermann Hesse über Keyserlings Prosa schreibt, gilt für alle hier versammelten Texte in besonderem Maße, die wahre Meisterwerke atmosphärischer Naturbeschreibungen sind. Zugleich aber sind diese Texte – und das macht sie so beunruhigend modern – auch Meisterwerke einer sprachkritischen Ironie, die sich gegen unsere hohlen Sommerklischees richtet.

Eduard Graf von Keyserling, geboren 1855 auf Schloss Paddern bei Hasenpoth (Aizpute) in Kurland, wuchs als zehntes von zwölf Geschwistern in der patriarchalischen Adelsgesellschaft der elterlichen Güter auf. Das 1874 begonnene Studium (Jura, Philosophie und Kunstgeschichte) in Dorpat musste er 1877 wegen einer Inkorrektheit abbrechen und war damit in seiner Gesellschaft geächtet. Er setzte sein Studium in Wien fort, wo er den Schriftsteller Ludwig Anzengruber kennenlernte und seinen ersten Roman schrieb. Nach dem Studium verwaltete er die mütterlichen Güter Paddern und Telsen. Nach dem Tod der Mutter 1894 zog er mit zwei Schwestern nach München, wo er in der Schwabinger Boheme verkehrte und sich zum impressionistischen Erzähler entwickelte. Durch eine Syphilisinfektion erkrankte er 1897 an einem Rückenmarksleiden und erblindete mit 45 Jahren. Keyserling starb 1918 in München.

"Er trat auf die Veranda hinaus und blickte über die Kieswege und Blumenbeete hin. Die heiße Luft zitterte und flimmerte. Der Buchsbaum glänzte wie grünes Leder. Hinter dem Garten dehnte sich Wiesenland aus, dann niedrige Hügel, an denen die Äcker wie regelmäßige Seidenstreifen niederhingen. Unten, von der Buchsbaumhecke sah Günther seine Frau auf das Haus zulaufen. Die eine Hand hielt die Schleppe des weißen Kleides, die andere einen bunten Strauß Erbsenblüten. Ein wenig atemlos blieb Beate vor Günther stehen und lächelte. Die Gestalt schwankte leicht, wie zu biegsam." In: Beate und Mareile, 1. Kapitel

Lest auch KLAUS MODICK. KEYSERLINGS GEHEIMNIS. Es ist ein großer Genuss, von Modick mit anspielungsreicher Erzählkunst in die Welt dieses Grafen Keyserling entführt zu werden. Mit zarter Melancholie geht es von München und vom Starnberger See aus in weiten Erinnerungsbögen zurück in Keyserlings Vergangenheit, seine Zeit in Wien, seine daran anschließenden Jahre daheim auf Schloss Tels-Paddern, schließlich seine Studienzeit in Dorpat.

 

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64. Lieblingsbuch:

 

"...am besten du gehst einfach. Geh. Geh zurück in deine Wohnung da mit dem Finnen und den Musikern gegenüber. zurück in den dritten Stock und zu dem indonesischen Restaurant, das ich jedenfalls nie mehr betreten werde. Hörst du...?"

 

 

Oivind Hanes: Amerikanische Landmaschinen. Eine Liebesgeschichte

Luchterhand, antiquarisch

 

 

"Als ich zum letzten Mal geflogen bin, hätte ich fast den Verstand verloren. Nichts bringt mich dazu, noch einmal in ein Flugzeug zu steigen!' Was bleibt einem Osloer Landwirtschaftsexperten, der zu einem Fachkongress nach Osnabrück will, angesichts seiner panischen Flugangst anderes übrig, als sich per Schiff und Bahn auf den Weg zu machen? Gar nichts. Und so sitzt er abends im Kopenhagener Bahnhof auf einer Bank und wartet auf den Zug nach Hamburg. Bis SIE vorbeikommt, wie der Zufall es will, und ihn fragt, ob vielleicht auf der Bank noch ein Platz ...Eigentlich nicht, aber der höfliche Landwirtschaftsexperte nickt mit dem Kopf und verflucht gleichzeitig seine verdammte Unfähigkeit, das zu tun, was er wirklich möchte. Die Frau übernimmt das Kommando, und die Ereignisse überschlagen sich.

Das deutsche Debüt des Norwegers Oivind Hanes ist die Geschichte einer verfehlten Liebe und eine kluge Meditation über das Böse. "Er" ist Landwirtschaftsexperte, ein Rationalisierungsfanatiker, dessen Blut nur dann in Wallung gerät, wenn jemand unnötig Energie beim Treppensteigen verschwendet. "Sie" ist eine Aussteigerin, noch jung, trotz Drogenkarriere und einer Scheidung vom Leben zwar gebeutelt, aber nicht gebrochen. Er hat Angst vor dem Fliegen, sie vor dem Alleinsein. Am Bahnhof von Kopenhagen lernen sich die beiden kennen

Keiner entkommt dem Gefängnis der eigenen Haut, so die nüchterne Botschaft dieser na ja, nennen wir sie mal Liebesgeschichte. Das ist nicht neu, aber wie neu erzählt. Oivind Hanes, im Hauptberuf professioneller Jazzmusiker, hat eine gelungene Variation über ein altes Thema geschrieben.

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.

Wenn Ihnen das Buch gefallen hat und ich bin überzeugt, es wird Ihnen gefallen...:

Oivind Hanes: Permafrost. Roman
Kiepenheuer & Witsch, antiquarisch, wie wir alle...

Als Jonas` Mutter stirbt, findet er in ihren Unterlagen einen Brief, der ihn in tiefe Verwirrung stürzt: Sein Vater, von dem er nur wusste, dass er tot ist, floh in den siebziger Jahren aus einem russischen Arbeitslager und kam wahrscheinlich auf der Flucht ums Leben. Jonas macht sich auf den Weg in die Taiga, um dort nach Spuren seines Vaters und somit nach der Geschichte seiner Familie zu suchen. Irgendwo dort im Permafrost muss es ein Grab des Vaters geben. Russland verändert Jonas - er wird konfrontiert mit den Greueltaten der stalinistischen Gewaltherrschaft, trifft aber gleichzeitig auf eine faszinierend schöne Landschaft und warmherzige Bewohner, allen voran den Priester Adarin und die Lehrerin Oksana, bei der Jonas wohnt und für die er bald mehr als freundschaftliche Nähe empfindet.

Øivind Hånes (* 5. Januar 1960 in Drammen) ist ein norwegischer Musiker, Komponist, Produzent und Schriftsteller. Bisher veröffentlichte er fünf CDs, zwei Erzählbände, zwei Gedichtsammlungen und zehn Romane, von denen nur zwei auf deutsch erschienen sind. Seit 1998 lebt Hanes in Köln. 2005 war er mit dem Roman „Pirolene i Benidorm“ für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert.

 

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63. Lieblingsbuch: Wollen Sie Nagel kennenlernen, diesen unglaublichen Johan Nilsen Nagel, der eines Tages am Kai stand, gelbe Sachen trug wie Werther und eine ganze Küstenstadt aufmischte? Irgendwie war der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun ja auch wie dieser Johan Nilsen Nagel. Er führte Gift und Geigenkasten mit sich, er war voller Liebe, Ironie und Verzweiflung, er war ein Ärgernis und wollte ein Ärgernis sein, und am Ende sprang er ins Meer, mit Anlauf, bis bloß noch Blasen aufstiegen und sonst nichts.

 

Knut Hamsun. Mysterien

List-Ullstein 9.95 €

 

In der kleinen norwegischen Hafenstadt war Johan Nilsen Nagel vom ersten Tage an eine exotische Figur. Er war gekommen und geblieben, niemand wußte warum. Er trug knallgelbe Anzüge, schickte sich selbst Telegramme und hatte in seinem Hotelzimmer einen geheimnisvollen Geigenkasten, der dann doch nur schmutzige Wäsche enthielt. Aber nicht nur durch solche Äußerlichkeiten verblüfft und irritiert er die Einheimischen. Dieser Ausländer des Daseins, wie er sich apostrophiert, verteidigt leidenschaftlich einen lahmen alten Mann, den er nie zuvor gesehen hat, betätigt sich zum Schein als Detektiv, spricht voller Engagement über Literatur, ist ein charmanter Unterhalter und setzt sich mit nervöser Souveränität über die Regeln des Kleinstadtlebens hinweg. Er wirbt um eine nicht mehr junge Frau und verliebt sich gleichzeitig in die schöne Tochter des Pfarrers. Und beide weisen ihn ab. Seine Handlungen, die undurchdringlich und geheimnisvoll sind, erwachsen aus dem mystischen Gefühl des Sicheinswissens mit der Natur. Man hat diesen Roman, der viele autobiographische Elemente enthält, einen Schneesturm von unbändiger Kraft genannt.

 

„Ich bin ein Fremdling, vergeben Sie mir.“ Das war es. Das ist es, was Knut Hamsuns Roman „Mysterien“, veröffentlicht 1892 und damit im Geburtsjahrzehnt der Psychoanalyse, noch heute zu einer atemberaubenden Lektüre macht. Denn Nagel, der Protagonist, ist ja nicht bloß einer der vielen Fremden der Literaturgeschichte. Nagel will ein Fremder bleiben. Er will ein „Ausländer des Daseins“ sein, ein Dissident, ein Terrorist der Kommunikation. Er ist angewidert vom Konsens-Brei, mit der sich die bürgerliche Gesellschaft zufrieden gibt, abgestoßen von ihrer ach so aufgeklärten Selbstgerechtigkeit:

„'Ein Liberaler! [...] Er konnte nicht begreifen, welcher Gewinn es für den Menschen war, dass man das Leben aller Symbole, aller Poesie beraubte. [...]. Nein, dauernd bekam er Recht, überall nur Läuse, Stinkkäse und Luthers Katechismus. [...] Ja, her mit einer einzigen handfesten Ausnahme, lass sehen, ob sich das machen lässt! Her mit zum Beispiel einem ausgereiften Verbrechen, einer hervorragenden Sünde! Aber nicht diese lächerliche und bürgerliche Abc-Verirrung [...] Nein, das ganze war kleinlich. [...] Hehe, da saßen sie und blähten sich voreinander auf. [...] Zwei und zwei ist vier, die Wahrheit hat gesiegt, die Ehre gebührt Gott! [...] In mir ist eine Stimme, die verlangt: Erhebe dich, erhebe dich gegen dieses Wie-geschmiert-Recht!‘“

 

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Lieblingsbuch No. 62: Der zerstreute Professor Timofey Pnin ist ein einsamer Individualist, den der American Way of Life tief verstört. Der Immigrant wirkt auf seine Umwelt wie ein komischer Versager. Aber seine Würde, sein Ernst, seine Persönlichkeit lassen eben diese Umwelt lächerlich erscheinen: Sie versagt an ihm. Alles, was Pnin widerfährt, macht uns diesen altmodischen russischen Gelehrten liebenswert.

 

Vladimir Nabokov. Pnin

Rowohlt Taschenbuch, 12.- €, übersetzt von Dieter E. Zimmer

Die Originalausgabe erschien 1957 unter dem Titel «Pnin» bei Doubleday & Company, Inc., Garden City, New York.

 

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete. In den USA begann er seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichtewurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte. Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 5. Juli 1977 starb.

 

"Hier muss nun ein Geheimnis verraten werden. Professor Pnin befand sich im falschen Zug. Er wusste es nicht, und ahnungslos war auch der Schaffner, der den Zug entlang Pnins Wagen bereits näher und näher kam. Pnin war im Moment sogar durchaus mit sich zufrieden. Als sie ihn eingeladen hatte, in Cremona – etwa zweihundert Werst westlich von Waindell, Pnins universitärem Unterschlupf seit 1945 – einen Freitagabend-Vortrag zu halten, hatte die stellvertretende Vorsitzende des Frauenclubs von Cremona, eine gewisse Miss Judith Clyde, unseren Freund darauf aufmerksam gemacht, dass der günstigste Zug in Waindell um 13 Uhr 52 abfuhr und um 16 Uhr 17 in Cremona eintraf; doch Pnin – der wie so viele Russen eine ungemeine Schwäche für Fahrpläne, Landkarten, Kataloge hatte, sie sammelte, sie in dem erhebenden Gefühl, etwas umsonst zu bekommen, reichlich an sich nahm und besonders stolz darauf war, selber Verbindungen zusammenzupuzzeln – hatte nach einigem Studium einen unauffälligen Hinweis auf einen noch günstigeren Zug entdeckt (ab Waindell 14.19 Uhr, an Cremona 16.32 Uhr); die Fußnote tat kund, dass der um vierzehn neunzehn auf dem Weg in eine ferne und sehr viel größere Stadt, die ebenfalls von einem weichen italienischen Namen geschmückt war, freitags, und nur freitags, in Cremona hielt. Zu Pnins Pech war sein Fahrplan fünf Jahre alt und in Teilen seit langem überholt."

 

"Mit Pnin habe ich eine völlig neue Figur geschaffen ... ein Mensch von großem moralischen Mut, ein reiner Mensch, ein Gelehrter und unbeirrbarer Freund, auf heitere Art weise... Aber behindert und gehemmt von seiner Unfähigkeit, eine Fremdsprache zu lernen, erscheint er manchem durchschnittlichen Intellektuellen als eine Witzfigur."

 

Der Zusammenprall des alten Europa mit einer amerikanischen Kultur, die seither die Welt erobert hat in immer neuen Schüben, ist hier vorweggenommen. Mitten im kältesten Krieg (in den USA ist McCarthy-Zeit) gibt Väterchen Rußland eine Abschiedsvorstellung: Pnin steht da auf wunderbar verlorenem Posten.

 

„Pnin schlenderte langsam unter den friedlich-stillen Kiefern hin. Der Himmel lag im Sterben. Er glaubte nicht an einen autokratischen Gott. Er hatte eine unbestimmte Vorstellung von einer Demokratie der Geister. Vielleicht bildeten die Seelen der Toten Komitees, und diese widmeten sich in fortlaufenden Sitzungen dem Geschick der Lebenden“ (133).

 

„‚Sie mögen lachen, aber ich behaupte, der einzige Weg, dem Chaos zu entrinnen (…) besteht darin, daß man den Student in eine schalldichte Zelle sperrt und den Hörsaal schließt (… Schallplatten über jedes erdenkliche Thema werden dem Studenten zur Verfügung stehen (…)‘ – ‚Und die Persönlichkeit des Dozenten‘, fragte Margaret Thayer. ‚Zählt die denn gar nichts?‘ – ‚Nein!‘ schrie Hagen. Das ist ja die Tragödie! Wer zum Beispiel will ihn?‘ Dabei deutete er auf den strahlenden Pnin: ‚(…) Die Welt will eine Maschine, keinen Timofej.“ (157f)

 

„‚Und nun‘, sagte er, ‚werde ich ihnen die Geschichte erzählen, wie Pnin zu einem Vortrag im Cremoneser Frauenclub das Podium besteigt und feststellt, daß er das falsche Manuskript mitgebracht hat.“ (188). Hören Sie sich diese Geschichte an. noch besser, lesen Sie sie.

 

Einzigartig.

 

61. Lieblingsbuch: „Heute hinauszuschreien, dass die Utopie gescheitert ist, ist etwa so klug, wie im Spätherbst, wenn die Blätter fallen, zu dem Schluss zu kommen, dass die Idee des Frühlings gescheitert ist. Nieder mit dem Frühling!“, schrieb er in dem 1993 erschienenen Band „Die verleugnete Utopie“

 

 

Lothar Baier. Jahresfrist. Erzählung

Collection S. Fischer, 1985

 

In Südfrankreich – eine gute Autostunde von Avignon entfernt in einem Rhône-Seitental gelegen – hat ein Deutscher ein verfallenes Bauernhaus gekauft, das er allein und mühsam bewohnbar macht. Er hat sich die Frist von einem Jahr gegeben, um das nötige Handwerk zu erlernen und die wichtigsten Arbeiten zu bewältigen. Daheim vor allem mit Büchern beschäftigt, lernt er hier das Wetter und die Natur beobachten und, am Rande der Zivilisation, mit der Einsamkeit fertig zu werden.

 

Manchmal müsse man souverän die Augen schließen, um noch etwas zu sehen, was angeschaut zu werden verdiene: das schrieb Rene Char, der bedeutende französische Lyriker, in seinem Resistance-Poem "Hypnos". Einer, der früh vor der heraufziehenden grünen Romantik warnte und gegen die idyllischen Mythologien polemisierte, ist der Essayist und Kritiker Lothar Baier, einer der zuverlässigsten seiner Zunft, der vom Augenverschließen nie viel gehalten hat. Jeder Stein, jeder Baum, jeder Vogelschrei oder Lichtfall wirkten in den ersten Tagen wie ein Versprechen, die Grenze zum Geheimnis des Lebens durchstoßen zu können.

 

In einem langen Nachtgespräch mit Paul Nizan, das zu einer Abrechnung mit der eigenen 68er-Vergangenheit gerät, erfahren wir endlich die Motive dieser Flucht aufs Land: Da ist einer vor seinen einstigen Hoffnungen davongelaufen, er ist geflohen vor den einstigen Freunden und Genossen, die - wie er - die eigenen Väter, die nur in einem verbrecherischen Krieg, nicht aber in den Kampf für eine bessere Welt gezogen waren, vertauschten mit jenen Übervätern vom Schlage Paul Nizans, die einst in den großen historischen Auseinandersetzungen ob französische Volksfront oder Spanischer Bürgerkrieg - standen.

 

"Käme es nicht darauf an, alle Hoffnung und Erwartung aus dem Blick zu verbannen, der auf die Umgebung fällt, damit sie sich endlich zeigen kann, wie sie ist, im Rohzustand, nicht in die Hülle unserer Wünsche eingepackt?..."

 

Viele aus jener Zeit, als die Illusionen noch geholfen haben, werden sich in Lothar Baiers Buch wiedererkennen.

 

"Okzitanien. Es ist eine karge und raue Landschaft, der Sonne und dem Mistral ausgesetzt, der häufig viele Tage lang aus Norden bläst und die Erde ausdörrt. Nur in den Tälern und Senken, wo sich Kalkerde zwischen Erosionsbrüchen halten kann, gibt es Landwirtschaft. Tatsächlich wurde dort schon vor zweitausend Jahren Wein angebaut, und griechische Kaufleute aus Marsaille ließen sich hier Landhäuser bauen, aus denen im Lauf der Jahrhunderte Weiler und Dörfer entstanden. (...) Man kann stundenlang über die versteppten Hügel gehen, ohne einem Menschen zu begegnen. Aber man kaum ein paar Schritte tun, ohne auf die Spuren menschlicher Arbeit zu stoßen. Dort, wo sich ein kleiner Pinienwald den Hügel hinaufzieht, wurden vor einem halben Jahrhundert vielleicht noch Reben geschnitten und wurde Lavendel geerntet; die Terrassierung ist noch deutlich zu erkennen. (...) Manchmal ist der Anblick der verlassenen, versteppten Hügel für mich nicht leicht zu ertragen; er stellt eine Herausforderung dar, die ich nur in Umrissen erkennen, der ich mich aber nicht entziehen kann."

 

Beim Lesen und Wiederlesen der Bücher von Baier merken wir aber plötzlich, wieviel Zeit wir haben, und vor allem, dass diese Lektüre-Zeit erfüllt ist. Bei der Lesung in Saarbrücken durfte ich einen ungewöhnlichen Menschen kennenlernen, der sich selbst nicht so wichtig nahm. Der Schriftsteller Lothar Baier ist tot.

 

"Er war bis zu jenem Grad der Einsamkeit gelangt, an dem die Bande so endgültig zerschnitten sind, dass es nicht mehr möglich ist, unter den Menschen Fuß zu fassen." (Zitat Paul Nizan)

 

 

Intermezzo

 

Marcel Proust. Tage des Lesens

 

"Morgens nach der Rückkehr aus dem Park, wenn alle zu einem Spaziergang aufgebrochen waren, schlüpfte ich in das Esszimmer, das bis zu der noch fernen Stunde des Mittagessens niemand, bis auf die alte, verhältnismäßig stille Félice [das Dienstmädchen] betreten würde, und wo ich als dem Lesen besonderes gewogene Gefährten nur die an der Wand hängenden bemalten Teller hatte, den Kalender, dessen vortägiges Blatt frisch abgerissen worden war, die Standuhr und das Feuer, die beide sprechen, ohne zu erwarten, dass man ihnen antwortet, und deren sanfte, sinnlose nicht wie die Worte der Menschen einen anderen Sinn an die Stelle der Wörter setzte, die man liest. [...] Bis zum Mittagessen, das leider dem Lesen ein Ende setzen würde, waren es noch zwei volle Stunden..."

„(...) wenn wir heute manchmal in diesen Büchern von einst blättern“, so sind sie „nur noch wie die einzigen aufbewahrten Kalender der entflohenen Tage“, und man greift zu ihnen mit der Hoffnung, „auf ihren Seiten die nicht mehr existierenden Wohnstätten und Teiche sich widerspiegeln zu sehen.“ 

Der Volkskundler Rudolf Schenda bringt den Stand allgemeiner Lesefähigkeit im 18. und noch im 19. Jahrhundert so auf den Punkt: Lesen ist alt, aber es ist immer eine Kunst gewesen, ein Können, das jeder einzelne Kopf, zumeist mit Hilfestellung von anderen Personen, mühsam hat erwerben müssen. Menschen, die sich mit dem Lesen beschäftigten, fielen einst den anderen so ins Auge, wie wir heute etwa einen Stelzenläufer betrachten, der quer durch die Stadt stakt und den Lauf der Dinge, sprich den fliessenden Verkehr, behindert. (Schenda 2000, 1)

"Trotz der Gefahr einer Strafe, wenn ich entdeckt würde und trotz der Schlaflosigkeit, die sich nach Beendigung des Buches vielleicht über die ganze Nacht ziehen würde, zündete ich dann, nachdem meine Eltern schlafen gegangen waren, meine Kerze wieder an."

"Dann war die letzte Seite gelesen, das Buch war beendet. Ich musste den eiligen Lauf der Augen anhalten und den der ihnen lautlos folgenden Stimme, die nur abbrach, um in einem tiefen Seufzer Atem zu schöpfen. [...]Aber wie? Das Buch war nicht mehr als das? Diese Wesen, denen man mehr von seiner Aufmerksamkeit und seiner Zärtlichkeit geschenkt hatte als den Menschen des wirklichen Lebens, ohne es immer zu wagen, sich einzugestehen, in welchem Masse man sie liebte, und sogar, wenn unsere Eltern uns beim Lesen antrafen und es aussah, als ob sie unsere Erregung belächelten, mit betonter Gleichgültigkeit oder gespielter Langeweil das Buch schließend; diese Wesen, für die man außer Atem geraten war und für die man geschluchzt hatte, würde man niemals wiedersehen, man würde nichts weiter über sie erfahren.”

Marcel Proust. Sur la lecture/Tage des Lesens

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004
ISBN 9783518415863
Gebunden, 200 Seiten, 114,00 EUR

Faksimile und Begleitband. 

Herausgegeben von Jürgen Ritte und Reiner Speck. Limitierte Auflage von 1300 Exemplaren. Zwei Bände in Schmuckkassette. Eine Handschrift von Marcel Proust zu besitzen, davon träumen nicht nur begeisterte Proustianer. Selten erscheint uns ein Kunstwerk so zugänglich, sein Gehalt so zum Greifen nahe wie im Prozeß seiner Entstehung. Mit diesem Faksimile legt der Suhrkamp Verlag eine Rarität vor: Es handelt sich um ein 48 Seiten umfassendes Schulheft, eines von Prousts berühmten "cahiers".
Der Autor hat dieses Heft in jeder erdenklichen Weise vollgeschrieben, er hat jeden freien Raum mit Notizen und Zeichnungen ausgefüllt. Entstanden ist dabei der Entwurf zu einem seiner bedeutendsten Essays: "Sur la lecture - Tage des Lesens". In diesem Aufsatz sucht Proust Geheimnis und Faszination des Lesens - "dieses fruchtbaren Wunders einer Kommunikation im Herzen der Einsamkeit" - zu entschlüsseln und setzt sich mit der Frage auseinander, ob und wie aus dem Umgang mit Literatur Literatur entstehen kann.
Proust veröffentlichte den Essay in seiner endgültigen Form erstmals 1906 als Vorwort zu seiner Übersetzung von Ruskins "Sesame and Lilies". Die Handschrift des Entwurfs befindet sich heute im Besitz des Sammlers und Vorsitzenden der Marcel Proust Gesellschaft Reiner Speck. Diese Urfassung wurde bislang, auch in Frankreich, noch nicht publiziert.

Marcel Proust. Sur la Lecture. Faksimile der Originalhandschrift.

 

60. Wenn wir schon einmal dabei sind, Existentialismus und so, dann komme ich um den folgenden Autor, der mich seit Ende der Jugendzeit mit seinen Texten "begleitet", nicht rum:

 

 

Jean Paul Sartre. Der Ekel

 

Antoine Roquentin widerfährt etwas Unglaubliches: Sein normales, belangloses Leben plätschert plötzlich nicht mehr so dahin wie vorher, sondern wird für ihn zur Belastung, zur Qual. Ein Stück Papier, ein Kieselstein, selbst seine eigene Hand erregen in ihm ein diffuses Unbehagen: den Ekel. Dieser Zustand verschlimmert sich zusehends. Die Menschen in der Bibliothek, seine verflossene Geliebte, seine Tischgenossen – alle rufen in ihm den Ekel hervor. Es ist die schiere Existenz – und ihre Sinnlosigkeit. Angesichts einer Welt, in der alles ziel- und sinnlos existiert, muss sich der Mensch selbst sinnlos vorkommen. Mit Der Ekel stellte Sartre schon Jahre vor seinem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts die Kernfragen des Existenzialismus vor. Fasziniert hat mich an diesem Buch auch die Figur des Autodidakten, der lexikalisches Wissen sammelt und feststellt, dass es nicht das geringste bedeutet.

 

„Wenn man lebt, passiert nichts. Die Szenerie wechselt, Leute kommen und gehen, das ist alles. Es gibt nie Anfänge. Ein Tag folgt dem anderen, ohne Sinn und Verstand, ein unaufhörliches, eintöniges Aneinanderreihen. (...) Das heißt leben. Aber wenn man das Leben erzählt, verändert sich alles; bloß ist es eine Veränderung, die niemand bemerkt: der Beweis ist, daß man von wahren Geschichten spricht. Als ob es wahre Geschichten geben könnte; die Ereignisse entwickeln in einer Richtung, und wir erzählen sie in umgekehrter Richtung. Man tut so, als finge man mit dem Anfang an: ‚Es war ein schönem Abend im Herbst 1922. Ich war Schreiber bei einem Notar in Marommes.‘ Und in Wirklichkeit hat man mit dem Ende angefangen. Es ist da, unsichtbar und gegenwärtig, es ist das Ende, das diesen wenigen Worten den Pomp und den Wert eines Anfangs verleiht. ‚Ich ging spazieren, ich war aus dem Dorf gegangen, ohne es zu bemerken, ich dachte an meine Geldsorgen.‘ Dieser Satz, einfach als das aufgefaßt, was er ist, will sagen, daß der Typ gedankenverloren, verdrießlich, meilenweit von einem Abenteuer entfernt war, genau in jener Stimmung, in der man die Ereignisse unbeachtet verstreichen läßt. Aber das Ende ist da, das alles verwandelt. Für uns ist der Typ schon der Held der Geschichte. Seine Verdrießlichkeit, seine Geldsorgen sind viel kostbarer als unsere eigenen, sie sind ganz vergoldet vom Licht künftiger Leidenschaften. Und die Erzählung geht verkehrt herum weiter: die Augenblicke stapeln sich nicht länger auf gut Glück übereinander, sie werden vom Ende der Geschichte weggeschnappt, das sie ansaugt, und jeder von ihnen saugt seinerseits den vorangehenden Augenblick an."

 

 

 

Sartre, geboren am 21.06.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931-1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937-1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut Français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte.
Am 02.09.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus» zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab.

 

 

"Der Mensch kann nichts wollen, wenn er nicht zunächst begriffen hat, daß er auf nichts anderes als auf sich selber zählen kann, daß er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner unendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfe noch Beistand, ohne ein anderes Ziel als das, das er sich selbst geben wird, ohne ein anderes Schicksal als das, das er sich auf dieser Erde schmieden wird." - Zum Existentialismus. Eine Klarstellung, in Der Existentialismus ist ein Humanismus. und andere philosophische Essays, Jean-Paul Sartre, Hg. Vincent von Wroblewski, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 6. Auflage August 2012, S. 118
("L'homme ne peut vouloir que s'il a d'abord compris qu'il ne peut compter sur rien d'autre que sur lui-même; qu'il est seul, délaissé sur la terre au milieu de ses responsabilités infinies, sans aide ni secours, sans autre but que celui qu'il se donnera à lui-même, sans autre destin que celui qu'il se forgera sur cette terre." - A propos de l'existentialisme - Mise au point. Action, no. 17, 29 décembre 1944.)

 

Lesen Sie unbedingt auch den ersten Teil der WEGE DER FREIHEIT: Zeit der Reife: Jean-Paul Sartre läßt seine Romanfiguren seine eigene Erfahrung erleben: ein kleiner Kreis Pariser Freunde auf dem Weg der Selbstverwirklichung wird jäh und unvorbereitet in den Zweiten Weltkrieg gestürzt. Oder die außerordentliche Autobiographie DIE WÖRTER: Sartre erzählt hier mit der Ironie eines Mannes, der alle Lügen seines Zeitalters und alle Illusionen, auch die eigenen, durchschaut hat, die Geschichte seiner Jugend. Eine faszinierende Studie über die kindliche Psyche, ein brillant geschriebenes Selbstbekenntnis, das die Tradition der großen französischen Moralisten für unsere Zeit erneuert. DAS SPIEL IST AUS: Pierre, der Revolutionär, und Eve, eine Dame der Gesellschaft, sterben zu gleicher Stunde durch Gewalt, begegnen sich in einer Welt der Schatten und verlieben sich leidenschaftlich ineinander: "Ich gäbe meine Seele, wenn ich deinetwillen noch einmal leben dürfte." Der Wunsch wird Realität und die Uhr des Schicksals zurückgedreht. Aber die Vergangenheit stellt ihre Forderungen ... - Jetzt sind Sie drin im System Sartre - tut mir leid, da kommt keiner mehr raus.

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59. Lieblingsbuch: „ (…) überleben letztlich bedeutet, daß man unaufhörlich wieder mit dem Leben beginnt.“

 

Simone de Beauvoir. Die Mandarins von Paris

rororo, 978-3-499-10761-0, 795 S., 15.- €

 

Mit diesem Werk, dem die höchste literarische Auszeichnung Frankreichs, der Prix Goncourt, zugesprochen wurde, schrieb Simone de Beauvoir den Schlüsselroman der französischen Links-Intellektuellen. Er ist zugleich politisches Tagebuch und faszinierender Frauenroman, der private Schicksale und Zeitgeschichte in konfliktreiche Beziehungen setzt, Chronik des Verfalls einer engagierten Intellektuellenschicht, die sich nach ihrem Widerstandskampf unter Einsatz des persönlichen Lebens nun nicht mehr gefordert fühlt.

 

Simone de Beauvoir hat diesen Roman Nelson Algren gewidmet. Als sie 1986 neben Sartre bestattet wurde, trug sie am Finger einen Ring. Den billigen Kupferring, der Anne von Lewis bei ihrer ersten Begegnung in den USA über den Finger gestreift wurde.

 

„Die Literatur ist für die Menschen gemacht, nicht die Menschen für die Literatur“ – und dies aus dem Munde Robert Dubreuilhs, der ganz offensichtlich nach dem Vorbild Jean-Paul Sartres gezeichnet ist. Im Roman wie im Leben kreist das Buch um Männer, deren Leben dem Schreiben und der Politik untergeordnet ist. Ihre Lebenswelt, vor allem die der beiden zentralen Figuren Robert und Henri, der intellektuell kühl strategisch denkende Robert einerseits, der lebenshungrige, von hohen moralischen Werten geprägte Henri, unschwer als Camus zu entziffern, andererseits, ist im Frankreich der Nachkriegszeit geprägt von Worten: Alles, was man schreibt und sagt, hat eine mehrdimensionale Bedeutung – zumindest in den Kreisen der „Mandarins“.

 

„Ich nehme an, Sie haben diesen Krieg zu sehr aus der Nähe erlebt, um ihn richtig verstehen zu können. Das ist etwas ganz anderes als ein Krieg: es ist die Liquidierung einer Gesellschaft, ja, sogar einer Welt. Der Beginn der Liquidierung. Fortschritt von Wissenschaft und Technik, ökonomische Veränderungen werden die Erde derartig erschüttern, daß auch unsere Art zu denken und zu fühlen davon revolutioniert sein wird: ungern werden wir uns daran erinnern, wer wir gewesen sind. Kunst und Literatur werden uns wie manches andere nur noch wie unzeitgemäße Zerstreuungen erscheinen.“

 

Als Dreijährige besaß die Tochter der französischen Bourgeoisie eine eigene Visitenkarte. Als Einundzwanzigjährige schloss sie einen radikal antibürgerlichen Liebespakt mit dem Philosophiestudenten Jean-Paul Sartre. Als Vierzigjährige verfasste sie das Buch "Das andere Geschlecht", das zur Bibel des Feminismus und zum Skandalwerk avancierte: Simone de Beauvoir gilt als Ikone moderner, intellektueller Weiblichkeit des 20. Jahrhunderts.

 

 

 

„Ich muß zugeben, daß es mir an Geduld fehlt: die Revolution marschiert, aber sie marschiert so langsam, mit kleinen und so ungewissen Schritten. Für Robert ist eine Lösung, die besser als die andere ist, gut, ein verringertes Übel hält er für etwas Gutes. Sicherlich hat er recht. Aber offenbar habe ich meine alten Träume vom Absoluten nicht ganz ausgerottet, denn mich befriedigt das nicht. Und außerdem scheint mir die Zukunft in weiter Ferne zu liegen, es fällt mir schwer, mich für Menschen, die noch nicht geboren sind, zu interessieren, ich mag viel lieber denen helfen, die ich gerade jetzt lebendig vor mir habe.“

 

 

Ein wichtiges und gutes Buch zur Erklärung der Zusammenhänge zwischen den fiktiven Mandarins liefert Sarah Bakewell. Das Café der Existentialisten: Paris 1932, im Café Bec-de-Gaz sagt Raymond Aron zu seinem Freund Sartre: "Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail sprechen, und das ist dann Philosophie!" Der einfache Satz war die Geburtsstunde einer neuen Bewegung, die sich in Jazz-Clubs und Cafés verbreitete. Sie inspirierte Musiker und Schriftsteller, erregte Abscheu im Bürgertum und befruchtete Feminismus, Antikolonialismus und 68er-Revolte. Im Mittelpunkt stehen die Antipoden Heidegger und Sartre, der eine in seiner Hütte im Schwarzwald dem Sein nachsinnend, der andere in Pariser Cafés wie besessen schreibend. Aber es geht auch um Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Iris Murdoch und viele andere.

 

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58. Lieblingsbuch: Komm ins offene Freund

 

 

Friedrich Hölderlin. Sämtliche Gedichte

Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 4, Taschenbuch, 1152 Seiten
ISBN: 978-3-618-68004-8, 22.- €

 

Diese Ausgabe ordnet Hölderlins Gedichte chronologisch und unterzieht sie einer textkritischen Revision. Alle Abweichungen gegenüber der Großen Stuttgarter Ausgabe werden in den Kommentaren erläutert. Aufgrund ihres Schwierigkeitsgrades und ihres Voraussetzungsreichtums bedarf Hölderlins Lyrik einer intensiven Erschließung.
Die Ausgabe bietet daher Erläuterungen, die weit über das Bisherige hinausgehen. Den bedeutenden und komplexen Gedichten gelten umfassende Überblickskommentare. Sie sollen zu einem ganzheitlichen Verständnis hinführen. Aber auch für die Einzelerläuterungen wurden ganze Bereiche erstmals erschlossen, so daß nun viele Texte besser verständlich oder überhaupt erst zugänglich geworden sind.

Nach dem Ende seiner Tätigkeit als Hauslehrer in Frankfurt am Main im September 1798 hielt sich Hölderlin zunächst im nahen Homburg auf. Mitte Juni 1800 wanderte er über Nürtingen, wo die Mutter und die Schwester lebten, nach Stuttgart. Dort wohnte er bei dem gebildeten, liberalen Tuchhändler Christian Landauer (1769–1845). Ihm widmete er – zu dessen Geburtstag am 11. Dezember 1800 – auch das gereimte Lied An Landauer: „Sei froh! Du hast das gute Loos erkoren, / Denn tief und treu ward eine Seele dir; / Der Freunde Freund zu seyn, bist du geboren, / Diß zeugen dir am Feste wir.

 

Vermutlich im Frühjahr 1801 nach seiner Rückkehr aus Hauptwil in der Schweiz verfasst Hölderlin den gewaltigen Entwurf eines "vaterländischen Gesanges", den "Gang aufs Land". Allerdings bleibt dieser Gesang ein Entwurf. Von den vermutlich geplanten vier Strophen bleiben die dritte und vierte Strophe nur Fragmente.

 

Der 'Gang aufs Land' ist für mich persönlich das schönste Gedicht deutscher Sprache:

 

 

Der Gang aufs Land.

An Landauer

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer
Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.
Denn nicht wenig erfreut, was wir vom Himmel gewonnen,
Wenn ers weigert und doch gönnet den Kindern zulezt.
Nur daß solcher Reden und auch der Schritt und der Mühe
Werth der Gewinn und ganz wahr das Ergözliche sei.
Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte
Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,
Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist,
Und von trunkener Stirn’ höher Besinnen entspringt,
Mit der unsern zugleich des Himmels Blüthe beginnen,
Und dem offenen Blik offen der Leuchtende seyn.

Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es,
Was wir wollen, und scheint schiklich und freudig zugleich.
Aber kommen doch auch der seegenbringenden Schwalben
Immer einige noch, ehe der Sommer ins Land.
Nemlich droben zu weihn bei guter Rede den Boden,
Wo den Gästen das Haus baut der verständige Wirth;
Daß sie kosten und schaun das Schönste, die Fülle des Landes,
Daß, wie das Herz es wünscht, offen, dem Geiste gemäß
Mahl und Tanz und Gesang und Stutgards Freude gekrönt sei,
Deßhalb wollen wir heut wünschend den Hügel hinauf.
Mög’ ein Besseres noch das menschenfreundliche Mailicht
Drüber sprechen, von selbst bildsamen Gästen erklärt,
Oder, wie sonst, wenns andern gefällt, denn alt ist die Sitte,
Und es schauen so oft lächelnd die Götter auf uns,
Möge der Zimmermann vom Gipfel des Daches den Spruch thun,
Wir, so gut es gelang, haben dass Unsre gethan.

Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings
Aufgegangen das Thal, wenn mit dem Nekar herab
Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume
Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft
Aber mit Wölkchen bedekt an Bergen herunter der Weinstock
Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft

Das Offene ist nicht nur der schwäbische Ausduck für die freie Natur, das 'Land'. Der Dichter ruft ja im Gesang auf zum "Gang aufs Land", ins Offene. Das Offene ist die freie offene Weite, das Losgelöst-Sein von aller Bedrückung und Beschränkung.

 

Als großer Lyriker wurde Hölderlin erst im 20. Jahrhundert entdeckt. Die Intensität eines von allem Dekorativen befreiten Sagens, die kühne Metaphorik und die Sprengung konventioneller Normen, insbesondere in den Gedichten nach 1800, ließ Hölderlin als Vorboten und zugleich schon frühen Vollender moderner Ausdruckskunst erscheinen. Dennoch stehen Hölderlins Gedichte im geistigen Horizont der Zeit: Empfindsamkeit, Deutscher Idealismus, Französische Revolution, Philhellenismus, Rousseaus Wendung zur ›Natur‹, die hyperbolische Steigerung des ›Dichterischen‹ - sie verleihen seiner Poesie ihre geschichtliche Kontur.

Lesen sie unbedingt auch den HYPERION: In Briefen an seinen Freund Bellarmin schildert Hyperion sein auf den ersten Blick gescheitertes Leben. Im Mittelpunkt dabei stehen zwei Themen: die – auf die Französische Revolution und den Freiheitskampf der Griechen zurückgehende – Utopie einer neuen Gesellschaft und seine Liebe zur "schönen Seele", Diotima.: "So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. [...] Barbaren von Alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark [...], in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit belaidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes - das, mein Bellarmin, waren meine Tröster.

Am 20. März 1770 wurde er geboren. Zu Lebzeiten blieb ihm die Anerkennung versagt – heute gilt Friedrich Hölderlin als einer der größten Lyriker deutscher Sprache, eine singuläre und rätselhafte Gestalt unter den Dichtern

Am 7. Juni 1843, nachts um 11 Uhr, stirbt Friedrich Hölderlin und wird drei Tage später auf dem Tübinger Friedhof bestattet. Etwa hundert Studenten folgen dem Sarg, von der Professorenschaft ist niemand anwesend. Christoph Schwab hält die Trauerrede. Ein Jahr später lässt sein Halbbruder Karl Gok einen Grabstein setzen, der als Inschrift die Schlussstrophe des Gedichts Das Schicksal trägt, das Hölderlin bereits in jungen Jahren geschrieben hatte:

 

 

Im heiligsten der Stürme falle
Zusammen meine Kerkerwand,
Und herrlicher und freier walle
Mein Geist ins unbekannte Land.
Hier blutet oft der Adler Schwinge.
Auch drüben wartet Kampf und Schmerz.
Bis an der Sonnen letzte ringe,
Genährt vom Siege dieses Herz.

Statt Deutschlandfahne - ein Hölderlingedicht an der Hauswand:
Immer die bessere Alternative

 

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"Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie fragen!" Diesen ungeheuer scharfen, ungeheuer klaren Satz schrieb Kertész in seinem 1975 erschienenen Buch "Roman eines Schicksallosen". Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagte er 1996: "Ich will meine Leser verletzen."

 

 

 

57. Lieblingsbuch: Imre Kertész war ein Holocaust-Überlebender. Im Sommer 1944 wurde er 14-jährig festgenommen und nach Auschwitz gebracht, später kam er nach Buchenwald. Bei seiner Gefangennahme habe er auf dem Hof einer Budapester Polizeikaserne eine halbe Stunde in den Lauf eines Maschinengewehrs geblickt, erzählte er hinterher. In dem Buch "Roman eines Schicksallosen" ließ er seinen 14-jährigen Protagonisten mit naiver Bewunderung die kalte Funktionalität der Lager bestaunen. Am Ende schreibt er vom "Glück der Konzentrationslager". Ein Ungeheuer von einem Gedanken.

 

Imre Kertész. Roman eines Schicksallosen

Rowohlt Taschenbuch 10.- €

 

Imre Kertész ist etwas Skandalöses gelungen: die Entmystifizierung von Auschwitz. Es gibt kein literarisches Werk, das in dieser Konsequenz, ohne zu deuten, ohne zu werten, der Perspektive eines staunenden Kindes treu geblieben ist. Wohl nie zuvor hat ein Autor seine Figur Schritt für Schritt bis an jene Grenze hinab begleitet, wo das nackte Leben zur hemmungslosen, glücksüchtigen, obszönen Angelegenheit wird.

 

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem "Roman eines Schicksallosen" hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück. Er starb am 31. März 2016.

 

"Ich war ganz einfach ein anderer Junge. Diesen jungen Mann habe ich nicht deshalb zum Erzähler gemacht, weil ich dieses Schicksal durchlitten hätte, sondern aus einer sozusagen strategischen Überlegung heraus: Typisch für totalitäre Regime wie den Nazismus oder den Stalinismus ist doch, daß man auf ein gewisses Niveau herabgedrückt wird. Der Mensch lebt in einer Art Infantilismus, er wird gebraucht und funktioniert, mehr nicht. Die Naivität des Erzählers entspricht diesem Niveau, er weiß noch nichts von all den Schrecken."

 

 

Auf die Frage WARUM SCHICKSALLOS antwortete Kertész in einem Interview des Spiegel:

"Weil er sehr jung ist, weil er das alles nicht begreifen kann. Der Knabe hat diese fremde, ihm aufgezwungene Biographie durchlitten - und nun plötzlich, mit seiner Heimkehr aus dem Konzentrationslager, geht das alles zu Ende. Auf einmal gilt die ihm seit seiner Kindheit vertraute Bestimmung nicht mehr, daß er als Jude dazu da ist, ausgerottet zu werden. Nun ist er frei und weiß überhaupt nicht mehr, was er mit den ersten 15 Jahren seines Lebens anfangen, wie er sie akzeptieren soll...Nein, ich habe mein Schicksal akzeptiert. Ich bin, wenn Sie so wollen, mit Auschwitz und meinem Schicksal im Konzentrationslager identisch. Ich betrachte mich nicht einmal nur als Opfer. Um überleben zu können, mußte man durch die Hölle gehen - und in der Hölle wird man schmutzig. Die Unschuldigen sind die, die gestorben sind. Aber einer, der das durchlebt hat, kann einfach nicht ganz ohne diese allgemeine menschliche Beschmutzung sein. Das muß man für sich akzeptieren."

 

"Ich habe das so erlebt. Rimbaud hat einmal gesagt, das Verhängnis aller Wesen sei das Glück. Mit anderen Worten: Das Glück ist eine Falle für die Menschen, sie verlockt uns weiterzuleben. Selbst in der größten Verzweiflung empfinden wir immer auch Momente des Glücks, der Hoffnung. Nur wenn ich nicht mehr an die Zukunft glaube, hänge ich mich auf."

 

"Ach wissen Sie: Vor 50 Jahren hat man mich hierhergebracht, man hat mich geschlagen und getreten. Jetzt komme ich wieder hierher, ich lese den Menschen aus meinem Buch vor, und man hört mir freundlich zu, man applaudiert. Die Welt ist absurd, einfach nur absurd."

 

«Auch nicht eine unserer Taten vergeht spurlos. Ich habe Angst …» Lesen sie auch, um zu begreifen, seine Aufzeichnungen 1991-2001 DER BETRACHTER.

 

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56. Lieblingsbuch."Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden." - 109, Beim Bau der chinesischen Mauer

 

Franz Kafka. Die Erzählungen

S. Fischer 14.- €

 

In seiner Miniatur Das nächste Dorf von 1919 schrieb Kafka: "Mein Großvater pflegte zu sagen: 'Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, dass ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, dass — von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen — schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.'

 

Die Lesung in München im November 1916 – seine einzige Lesung außerhalb Prags – machte Kafka bewusst, wie sehr er in den beiden Jahren zuvor das eigene schöpferische Potenzial vernachlässigt hatte. Sofort nach der Rückkehr machte er sich auf die Suche nach einer ruhigeren Wohnung; als Provisorium bot ihm Ottla ein winziges Häuschen auf dem Hradschin an (Alchimistengasse 22), das sie zunächst für sich selbst angemietet hatte. Der karge Raum (heute eine Attraktion für Touristen) diente Kafka bis Mai 1917 als »Arbeitswohnung«. Während Prag zunehmend von Kohlennot und Hunger beherrscht war, verfasste Kafka in rascher Folge fast alle Texte, die später unter dem Titel Ein Landarzt zusammengefasst wurden.

 

"Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt einZiel, aber keinenWeg; was wir Weg nennen, ist Zögern ." - 26*, 229 Beim Bau der chinesischen Mauer

 

Kafka selbst sorgte dafür, dass die in der Alchimistengasse entstandenen Werke schon ab 1917 in Zeitschriften und Almanachen erschienen. Auch eine Aufforderung Kurt Wolffs beantwortete er ohne zu zögern und sandte dem Verleger dreizehn »kleine Erzählungen«. Von diesen Werken war der Verleger derart angetan, dass er nicht nur die baldige Veröffentlichung des Sammelbandes Ein Landarzt versprach, sondern Kafka für die Zeit nach dem Krieg eine »fortlaufende materielle Förderung« in Aussicht stellte.

 

"Es ist sehr gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft." - Tagebücher, 18. Oktober 1921.

 

Franz Kafka hat Max Brod mit Leidenschaft Texte von Robert Walser vorgetragen. Als der Fischer-Verlag 1962 den Roman Der Gehülfe neu herausgibt, steht auf dem Deckel: „Kafka liebte dieses Buch.“ Noch heute nutzen ihn viele Klappentexte als Verkaufsargument. Als hingegen der Rowohlt-Verlag 1912 Kafkas erstes Buch lanciert, vergleicht er den Debütanten mit dem damals etablierten Schweizer. Die ungleichen Zeitgenossen, die sich nie persönlich begegnet sind, teilen die Erfahrung der Bürokratie (als Angestellte) und beschreiben die Abgründe der modernen Existenz labyrinthisch. Als ihn aber sein Freund Carl Seelig auf den prominenten Fan anspricht, meint Walser lapidar, „in Prag gebe es doch Aufregenderes zu lesen als Walsereien“.

 

 

55. Lieblingsbuch

 

Schubertiana (Auszug)

Im Abenddunkel auf einem Platz außerhalb von New York, ein Aussichtspunkt, von dem aus
man mit einem einzigen Blick die Wohnungen von acht Millionen Menschen umfassen kann.
Die Riesenstadt in der Ferne dort ist eine lange glitzernde Wehe, ein seitlich gesehener
Spiralnebel.
Drinnen im Spiralnebel werden Kaffeetassen über die Theke geschoben, die Schaufenster
betteln die Vorbeigehenden an, ein Gewimmel von Schuhen, die keinerlei Spuren
hinterlassen.
Die kletternden Feuerleitern, die Fahrstuhltüren, die zusammengeleiten, hinter Türen mit
Sicherheitsschlössern ein ständiger Stimmenschwall.
Zusammengesunkene Leiber dösen in den Wagen der Untergrundbahn, den vorwärts
rasenden Katakomben.
Ich weiß auch – ohne jede Statistik –, daß jetzt in irgendeinem Zimmer in der Ferne dort
Schubert gespielt wird und daß für jemanden diese Töne wirklicher sind als all das andere.
(aus: Tomas Tranströmer. Sämtliche Gedichte. Edition Akzente, München 1997, aus dem
Schwedischen von Hanns Grössel © Carl Hanser Verlag)

 

in

Tomas Tranströmer. Sämtliche Gedichte

Hanser Verlag ISBN: 978‐3‐446‐18961‐4, 23.- €

übersetzt aus dem Schwedischen von Hanns Grössel

 

"Ich sehe ein Gedicht", so sagte er auf eine Frage von Walter Höllerer, "als eine neue Perzeptions- Kommunikationsweise. Wie an einem Bahnknotenpunkt, wo sich die Züge aus allen Richtungen treffen, gibt ein Gedicht plötzlich einen neuen Kommunikationsknotenpunkt von dem aus die Wirklichkeit zwar nicht erklärt, aber in einer neuen Beobachtung gezeigt wird. Die Metapher dient dazu, diese neue Beobachtungsweise zu etablieren, und hat damit eine ungeheuer wichtige Rolle in dem gesamten Prozeß."

Mit der Umgebung zu kommunizieren, in der Menge aufzugehen, ist eine Vorstellung, die bei Tranströmer bald als wünschbar, bald als furchtbar erscheint: Er hat zum Kollektiv jenes ambivalente Verhältnis, das Elias Canetti im ersten Abschnitt von "Masse und Macht" auf so eindringliche Weise beschrieben und analysiert hat. Deshalb kann in den Gedichten die Bedrohung mühsam aufgebauter Individuation durch massenhafte Einbrüche des Außen derart beklemmende Gestalt annehmen wie in dem Gedicht "Der Name", worin ein parkender Autofahrer, der aus dem Tiefschlaf erwacht, für fünfzehn Sekunden seinen Namen vergißt: fünfzehn Sekunden Kampf in der Hölle des Vergessens".

 

Die Steine
Die Steine, die wir geworfen, höre ich
fallen, glasklar durch die Jahre. Im Tal
fliegen die verworrenen Handlungen
des Augenblicks schreiend von
Wipfel zu Wipfel, verstummen
in Luft, dünner als die des Jetzt, gleiten
wie Schwalben von Gipfel
zu Gipfel, bis sie
die äußersten Plateaus erreicht haben
längs der Grenze des Seins. Dort fallen
all unsre Taten
glasklar
auf keinen andern Boden
als uns selbst.

 

Tomas Gösta Tranströmer wurde am 15. April 1931 in Stockholm geboren. Nach seinem Studium der Psychologie, Literatur und Geschichte arbeitete er mehrere Jahre an der Universität und als Psychologe in einer Jugendstrafanstalt. 1954 debütierte er dreiundzwanzigjährig mit dem Gedichtband "17 dikter (dt. "17 Gedichte"). Neben vielen internationalen Preisen erhielt Tomas Tranströmer 1981 den Petrarca-Preis, 2011 wurde sein Werk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Tomas Tranströmer starb am 26. März 2015 in Stockholm. Bei Hanser erschien zuletzt 2018 das letzte Buch des Schriftstellers: Randgebiete der Arbeit

 

 

"Die Erinnerungen sehen mich", schrieb Tomas Tranströmer. Im Jahr 1990, tragische Ironie, verstummte Tomas Tranströmer in Folge eines Schlaganfalls. Seine Gedichte, bei deren Verschriftlichung ihm fortan seine Frau Monica half, wurden noch kürzer. "Von nun an ist es spät", schrieb er damals. Seine Lebenserinnerungen "Minnena ser mig" ("Die Erinnerungen sehen mich", 1993) sind gerade einmal achtzig Seiten lang, und zwar nicht, weil es nichts zu sagen gegeben hätte, sondern weil sich das, was zu sagen war, so verdichten ließ, bis eine jede Erinnerung die Qualität eines kleinformatigen Bildes annahm, in dem eine ganze Lebenslage zusammengefasst erscheint.

 

"Morgenvögel" (1966):

 

Phantastisch zu spüren, wie mein Gedicht wächst,

während ich selber schrumpfe.

Es wächst, nimmt meinen Platz ein.

Es verdrängt mich.

 

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54. Lieblingsbuch: "Er reiste. Er lernte die Melancholie der großen Schiffe kennen, das kalte Erwachen im Zelt, den Rausch von Landschaften und Ruinen, die Bitterkeit abgebrochener Freundschaften. Er kehrte zurück. Er ging unter Menschen, hatte noch andere Liebeserlebnisse ... Jahre vergingen; und er litt unter der Untätigkeit seines Verstandes und der Trägheit seines Herzens."

 

 

Gustave Flaubert. Lehrjahre des Gefühls

9783458348375, Insel Taschenbuch 18.- €

 

L’Éducation sentimentale, Histoire d’un jeune homme, ist der letzte vollendete Roman Flauberts (1821–1880). Er erschien 1869 und gilt heute als einer der einflussreichsten Romane des 19. Jahrhunderts. Es liegen mehrere Übersetzungen ins Deutsche vor, unter anderem erschien das Werk unter den Titeln Die Erziehung der Gefühle, Die Erziehung des Herzens, Die Erziehung des Gefühls, Lehrjahre des Gefühls, Lehrjahre des Herzens, Die Schule der Empfindsamkeit und Der Roman eines jungen Mannes. Eine großartige Vorstufe des Romans ist in den 90er Jahren in der Anderen Bibliothek erschienen. Sie heißt "Jules und Henri". Auch die habe ich mit Begeisterung gelesen.

 

Gustave Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 in Rouen als Sohn eines Chirurgen geboren. Bereits im Kindesalter unternahm er erste Schreibversuche. Eine wichtige Inspirationsquelle seiner Kreativität war eine jahrelang unerfüllte Liebe zu einer älteren Frau, Elisa Schlesinger, die er 1836 kennenlernte. Sein Vater drängte ihn 1840 zum Jurastudium, das er 1844 nach einem epileptischen Anfall aber abbrach. Fortan widmete er sein Leben nur noch dem Schreiben. Nach einigen Reisen in den Vorderen Orient, u.a. nach Ägypten, kehrte Flaubert wieder auf den Familiensitz in Croisset nach Rouen zurück, wohin er sich, abgesehen von einem regen Briefwechsel mit seiner Geliebten, der Schriftstellerin Louise Colet, und vereinzelten Reisen nach Paris, in die Isolation zurückzog. Flaubert war ein unverbesserlicher Perfektionist im Umgang mit Sprache und hegte eine jahrelange Zurückhaltung, was eine Veröffentlichung seiner Manuskripte anbelangte. Madame Bovary war der erste Roman Flauberts, er erschien 1856. Der Roman zog unmittelbar einen Prozess wegen Sittenlosigkeit nach sich, Flaubert wurde aber 1857 von den Vorwürfen freigesprochen. Flaubert gilt als einer der großen europäischen Romanciers und gehört neben Stendhal und Balzac zu den großen realistischen Erzählern der französischen Literatur. Flaubert starb am 8. Mai 1880.

 

Frédéric Moreau, Student aus der Provinz, verliebt sich in Madame Arnoux, die Frau eines Pariser Kunsthändlers, und hofft mithilfe einer Erbschaft Karriere in der Hauptstadt machen zu können. Mit diesem einen Satz sind die drei Säulen benannt, zwischen denen sich das Leben des unheroischen Helden bewegt: Liebe, Geld, Kunst. Aber Frédéric ist ein ganz und gar unentschlossener, wankelmütiger Mensch. Bevor sich seine Wünsche noch erfüllen können, lässt er sie fallen und versinkt in Müßiggang und Träumerei. Indem Flaubert eine ganz und gar mittelmäßige Hauptfigur wählt ("Mittelmäßige Leute" hätte er das Buch fast genannt), schreibt er den am wenigsten mittelmäßigen Roman, der sich denken lässt.

 

"Ich möchte die geistige Entwicklung der Männer meiner Generation darstellen, die gefühlsmäßige Entwicklung, müsste man genauer sagen ... Es ist ein Buch von Liebe und Leidenschaft, aber von heutiger, also passiver Leidenschaft", schreibt Flaubert an seine Brieffreundin Marie-Sophie Leroyer de Chantepie.

 

Frédéric ist von allem ein bisschen, nichts richtig, und manchmal auch das Gegenteil. Während seine republikanischen Freunde über Politik und Kunst debattieren, schaut er aus dem Fenster. Wo ein anderer eine Niederlage zum Ansporn nimmt, will er sich umbringen; und kann sich doch auch dazu - "aus Erschöpfung" - nicht wirklich entschließen.

 

Die L'Éducation sentimentale bezeichnet zugleich den Höhe- und Endpunkt des bürgerlichen Romans. Danach, nein, mit diesem Buch beginnt die Moderne. Hier, sagt Marcel Proust in seinem Aufsatz von 1921, ist "die Revolution vollendet; was bis zu Flaubert Aktion war, wird Impression". Kaum je zuvor und selten danach ist so gründlich eine Erfahrung beschrieben worden, die man später als Entfremdung bezeichnet hat. Aber Flaubert beklagt sie nicht, er zeigt sie, indem er sie in seine Schreibweise transportiert. Bei ihm sind es nicht die Figuren, die handeln, sondern die Dinge. Die Menschen, während sie noch glauben, Herren ihres Schicksals zu sein, werden gehandelt.

 

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53. Lieblingsbuch: Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können.

 

W.G. Sebald. Die Ringe des Saturn

Fischer 978-3-596-13655-1, 13.- €

 

Ein Reisebericht besonderer Art. Zu Fuß ist Sebald in der englischen Grafschaft Suffolk unterwegs, einem nur dünn besiedelten Landstrich an der englischen Ostküste. Im August, ein Monat, der seit altersher unter dem Einfluß des Saturn stehen soll, wandert Sebald durch die violette Heidelandschaft, besichtigt verfallene Landschlösser, spricht mit alten Gutsbesitzern und stößt auf seinem Weg immer wieder auf die Spuren oft wundersamer Geschichten. So erzählt er von den Glanzzeiten viktorianischer Schlösser, berichtet aus dem Leben Joseph Conrads, erinnert an die unglaubliche Liebe des Vicomte de Chateaubriand oder spürt dem europäischen Seidenhandel bis China nach. Mit klarer und präziser Sprache protokolliert er jedoch auch die stillen Katastrophen, die sich mit dem gewaltsamen Eingriff der Menschen in diesen abgelegenen Landstrich vollzogen. So verwandelt sich der Fußmarsch letztlich in einen Gang durch eine Verfallsgeschichte von Kultur und Natur, die Sebald mit einer faszinierenden Wahrnehmungsfähigkeit nachzeichnet. Und ganz nebenbei entsteht eine liebevolle Hommage an den Typus des englischen Exzentrikers. Der gesamte Text samt Illustrationen bildet eine Einheit, sowohl nach dem Sinngehalt der Worte (z. B. Ringe), als auch des Themas: Reisen als Wallfahrt.

 

Die umständliche und altertümliche Diktion, die dem Buch den sanft mäandernden Lauf der Sätze diktiert, der ruhige Wellenschlag dieser Sätze: all das ist die passende Form für den melancholischen Gang durch die europäischen Zivilisationsruinen. Der Erzähler in Wanderschuhen wählt in seiner Sprechweise die Gemächlichkeit, die Diktion im Gehrock. Die Darstellung assimiliert den Modus der Wanderschaft, die nie der direkten Peilung von A nach B folgt, sondern immer auf Ab- und Seitenwege gerät und Entlegenes, scheinbar Heterogenes entdeckt, zu neuen überraschenden Zusammenhängen gelangt. Raum, Zeit und Handlung sind in engen Bezug zueinander gesetzt, eine vierte Dimension entsteht, die erwanderten und beschriebenen Orte sind Knotenpunkte, an denen Disparates zusammenwächst. Die Schrift ist der Weg der Reise, sie ahmt die Wahrnehmung des Pilgers im Spannungsfeld von Zufall und Plan nach.

 

W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach im Allgäu, lebte seit 1970 im ostenglischen Norwich, wo er als Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität lehrte. Er starb 2001 bei einem Autounfall. Zu seinen Werken gehören die Prosabände ›Schwindel. Gefühle‹, ›Die Ringe des Saturn‹, ›Die Ausgewanderten‹ und ›Austerlitz‹ sowie der Nachlassband ›Campo Santo‹; weiterhin die Essaybände ›Logis in einem Landhaus‹ und ›Luftkrieg und Literatur‹ sowie die beiden Bände zur österreichischen Literatur ›Unheimliche Heimat‹ und ›Die Beschreibung des Unglücks‹. Das lyrische Werk liegt vor in den beiden Bänden ›Nach der Natur. Ein Elementargedicht‹ und ›Über das Land und das Wasser‹. Zudem ist lieferbar der Interviewband ››Auf ungeheuer dünnem Eis.‹ Gespräche 1971 bis 2001‹, herausgegeben von Torsten Hoffmann. W. G. Sebald wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Mörike-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis.

Ich saß an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür, hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehören schienen.

Aus: Schwindel. Gefühle 1990

Nicht die „reale“, durchwanderte Landschaft Ostenglands ist der zentrale Erzählort, sondern der Schriftraum. Sebalds Text gleicht nicht nur dem Labyrinth und der Bibliothek als symbolischem Raum des Dialogs mit der Vergangenheit, sondern auch dem Mausoleum, das nur seine Fassade, seine Oberfläche preisgibt. Was aber im Inneren steckt, bleibt geheimnisvoll und dem Zugriff des Verstandes entzogen. Der Seidenwurm hat auch einen besonderen Platz in der Geschichte, die W. G. Sebald in seinem Buch "Die Ringe des Saturn" erzählt. Von einem Bericht über eine Wanderung, die der Verfasser im August 1992 durch die Grafschaft Suffolk unternommen hat, wird kein Leser die Wunder der Metamorphosen erwarten. Und doch kommt die Rede auf Wucherungen, Mißgeburten und Prodigien. Der Erzähler schweift ab; ein Exkurs gebiert den nächsten. Die Menschen, denen der Wanderer begegnet, verwandeln sich in mythologische Gestalten. Aus Dingen werden Zeichen. Sie verweisen zunächst aufeinander und zuletzt auf etwas Abwesendes, von dem nur in der kunstvollen Verhüllung indirektester Rede gesprochen werden kann. Einer der Fäden in diesem Gewebe ist das Seidenmotiv. Ein großes Buch und die anderen Bücher von diesem viel zu früh Verstorbenen auch.

 

„Die Kunst des Schreibens ist der Versuch, das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit.“ Das schrieb Sebald in einem Essay über Gottfried Keller. Da es bei ihm keine festen Grenzen zwischen den Genres gibt, darf man annehmen, dass dieser Satz auch autobiografische Züge trägt.

Ein weiteres, wie alle Bücher dieses früh verstorbenen Autors, sehr lesenswertes Buch: AUSTERLITZ:

"Ich sah wieder die mächtigen Quader zu meinen Füßen, den Glimmer im Stein, das graubraue Wasser im Hafenbecken, die schräg aufwärts laufenden Taue und Ankerketten, den mehr als haushohen Bug des Schiffes, die Möwen, die wild kreischend über unseren Köpfen herumflatterten, die durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen und das rothaarige Mädchen mit dem Schottencape und dem Samtbarett, das sich während der Fahrt durch das dunkle Land um die kleineren Kinder gekümmert hatte in unserem Abteil, dieses Mädchen, von dem ich Jahre später noch, wie ich mich jetzt entsann, wiederholt träumte, daß es für mich in einer von einem bläulichen Nachtlicht erleucheten Kammer ein lustiges Lied spielte auf einer Art von Bandoneon." (S. 208 f.)

 

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Die Grande Beune ist ein gerade mal 23 Kilometer langes, teils pfützenhaftes Flüsschen in der Dordogne. Jetzt ist sie etwas anderes geworden, ausgelöst durch den erotisch aufgeladenen Text des Autors meines 52. Lieblingsbuches:

 

Pierre Michon. Die Grande Beune

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
ISBN 9783518224632
Gebunden, 102 Seiten, 12,90 EUR

 

Der Erzähler dieser packenden, knappen Geschichte erinnert sich an die erste Stelle als Lehrer, die er 1961 in einem Dorf in Frankreichs Südwesten antrat. Er begegnet zwei Frauen, die ihn faszinieren, der älteren Helene und der jungen Yvonne. Yvonne ist die, von der er dann Tag und Nacht träumt, der er nachstellt. Pierre Michon, ein Meister unter den Autoren der französischen Gegenwartsliteratur, hat "Der Ursprung der Welt" in einer unerhört sinnlichen und kunstvollen, einer hoch aufgeladenen und verdichteten Sprache geschrieben. Der Titel spielt an auf die Region, in der die Geschichte situiert ist, nahe den Höhlen von Lascaux mit den weltberühmten paläolithischen Malereien aber zugleich auch auf Gustave Courbets Bild einer Vulva aus dem Jahr 1866, das diesen Titel trägt.

 

Yvonne, die Verkäuferin des Tabakladens, zwischen dreißig und vierzig, sei, so sagt der Protagonist des kleinen Meisterstücks von einem Roman ein "Prachtweib" mit neunjährigem Sohn. Sie ist der Fluchtpunkt aller erotischen Fantasien des jungen Mannes, den Michon als Mischung aus sensiblem Eigenbrötler und kraftstrotzendem Naivling zeichnet.

 

" ihre Bewegung war so unbestimmt, daß sie ebensogut den Nebel hätte meinen können. Sie lächelte. Ein wunderbares Muster bildeten in diesem Lächeln ihre Fältchen. Sie schloß die Tür, drückte an einigen Schaltern herum, alles verlosch, ich schlief schon, als ich vom Stuhl aufstand, ich war irgendwo, in Ländern,wo die Füchse im Traum vorbeilaufen und im dichten Nebel unsichtbare Fische aus dem Wasser springen, mit einem dumpfen Klatschen wieder zurückfallen; in der tiefsten Dordogne, das heißt nirgendwo..."

 

" Denn man ist nur ein paar Schritte von Lascaux entfernt, die Große Beune mündet in die alte Vézère, der Boden ist gespickt voll mit diesem Schlachterwerkzeug; diese inzwischen veralteten, für immer entsicherten Granaten rollen durch die Bäche, frieren im Eis fest, verfangen sich in entwurzelten Bäumen und springen aus den Äckern, die Kinder sammeln sie am Weg auf, bringen sie unter dem Mantel zur Schule; und mit einem liebenswerten Lächeln unter ihren kleinen walachischen Mützen halten sie dem Lehrer, der sich damit auskennt und sich dafür interessiert, in ihrer schwächlichen Hand dieses Stück Finsternis hin..."

 

 

Klar, man muss alles lesen von einem der größten gegenwärtigen franzöischen Schriftsteller:

In "Leben der kleinen Toten" (2004, Suhrkamp) erzählt Pierre Michon von Menschen, die ohne ihn wohl kaum einen Biografen gefunden hätten und die mit dem Ende ihres Daseins sang- und klanglos verschwunden wären. Dichte Texte, wie man sie in der Literatur kaum noch einmal finden wird. Im Original bereits 1984 erschienen, hat dieses Buch in Frankreich bereits 'Kultstatus' erlangt.

In 'Körper des Königs' Essays, die 2015 im Suhrkamp Verlag erschienen, liegt Pierre Michons Mutter im Sterben, der Sohn "betet" für sie: ein Villon-Gedicht, die "Ballade der Gehenkten". Auch nach der Geburt seines Kindes hat er "gebetet": ein Gedicht von Victor Hugo. Auch in den weiteren Essays des Bandes geht es um nichts anderes als die ebenso erhabene wie lächerliche Berufung der Kunst. Michon schreibt über Samuel Beckett, Gustave Flaubert, Ibn Magalî, William Faulkner und eben über sich selbst - so pathetisch und sarkastisch, resolut und poetisch, wie nur er das kann.

 

 

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51. Lieblingsbuch: In keinem Buch der letzten Zeit befinden sich so viele Zettel, Anmerkungen, Protestbekundungen, Ausrufezeichen... Es ging aus dem Leim, ich habe es mir noch einmal gekauft und wieder von vorn angefangen. die Auseinandersetzung mit der Literatur, dem Schreiben, dem Lesen, dem Leben ging weiter, hört nicht auf...

 

 

Undine Gruenter. Der Autor als Souffleur

Journal 1986-1992. edition suhrkamp 1949, 978-3-518-11949-5, 18,- €

 

Undine Gruenter hat in ihrem Journal während der Jahre 1986 bis 1992 ihre Erzählungen und Romane begleitet. Sie hat Arbeitstagebücher geschrieben, in denen sie sich Rechenschaft ablegt: über grundsätzliche Fragen ihres Literaturverständnisses oder Probleme der bildenden Kunst. Ihre literarischen Introspektionen und Lektürenotizen präludieren das eigene Schreiben.

Undine Gruenters Arbeitsjournal und Künstler-Tagebuch verbindet sich auch mit einem Alltagsjournal: das einer aus Deutschland stammenden, aber seit Jahren in Paris lebenden Autorin, die diese Hauptstadt für sich historisch und literarisch erkundet.

Der Autor als Souffleur verspricht keine nur dem Tag gehörenden und seine Abläufe detailliert begleitenden intim-diskreten Blicke. Aber trotz aller notwendigerweise Fragment bleibenden Form, die einem Journal eignet, auch für Undine Gruenters Aufzeichnungen über die Jahre gilt, was Elias Canetti den seinen voranstellte: »Das Unsichere, vielleicht das Flüchtige, hat durch sein Fehlendes Bestand.«

 

«Es gibt zwei verschiedene Sorten von Schriftstellern: für die einen hat ihre Literatur die Funktion der Selbstausstellung, für die anderen die der Selbstmaskierung. Zu den letzteren gehöre ich.» Die das in ihr Tagebuch schrieb, unterhielt auch sonst zu ihrem Ich ein fragiles Verhältnis; Undine Gruenter, geboren 1952 in Köln, seit 1987 in Paris lebend, war eine der begabtesten und verborgensten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Von der Kritik hoch geachtet, hat sie sich konsequent wie kein anderer Autor dem Medienbetrieb ganz verweigert - um den Preis, dass ihre Bücher weniger Aufmerksamkeit bekamen, als sie verdienten.

 

Paris - die Architektur von Passage und Perspektive, der Flaneur als intellektueller Nomade, der Schock als Wahrnehmungsform –, diese Stadt der Künste hat ihre utopische Ausstrahlung in dem Maß eingebüßt, in dem die "Kultur" zum Behälter für Erlebnisinhalte, für versöhnliche Erbauung und naive Unmittelbarkeit wurde. Wer sich aber, wie Undine Gruenter, an Proust, Breton und Bataille, Simon und Duras orientiert, wem zum Zeitgeist nur einfällt, es sei "nichts wichtiger, als sich von ihm fernzuhalten", wie es in ihrem Arbeitsjournal Der Autor als Souffleur heißt – der mag dort auch noch im 21. Jahrhundert zu Hause sein, und sei’s, weil das Schreiben kein Zuhause kennt. Für Gruenter garantierte der Ort zudem die (durchaus wechselseitige) Distanz zum heimischen Literaturbetrieb. (Dorothee Dieckmann)

 

Undine Gruenter wurde 1952 geboren und studierte Jura, Literaturwissenschaft und Philosophie. Seit Ende der achtziger Jahre lebte sie in Paris und starb dort im Alter von 50 Jahren. Lesen Sie ihre Bücher. Es gibt in der deutschen Literatur noch etwas zu entdecken: zB in:

 

Epiphanien, abgeblendet. 56 Prosastücke. btv
Eine Epiphanie ist eine plötzliche Erscheinung Gottes, eine Offenbarung. Zwei Menschen stehen sich in der Mitte eines Zimmers gegenüber, liegen im Bett, sie reden, sie streiten oder halten Vorträge. Und die poetisch-prosaischen Stillleben verweben sich zu Kleinstgeschichten.

oder in: Pariser Libertinagen. Hanser 2005

Sie folgt in ihren Erzählungen den Menschen in Restaurants und Cafes, in Metrostationen und Hotelzimmer und beobachtet ihre erotischen Verwicklungen, ihre Trennungen und Versöhnungen. Geschichten voller Atmosphäre und Poesie

oder in: Sommergäste in Trouville. Hanser 2003

Undine Gruenter erzählt vom Meer und den Sommergästen, von den Hotels und denen, die dort ihre Ferien verbringen, aber auch von jenen, die in den verlassenen Orten bleiben, wenn der Trubel der Hochsaison vorbei ist und im Herbst nur die immer gleichen Dauergäste bleiben. So war es in der Belle Epoque, und so ist es heute noch: Wer im Sommer von Paris ans Meer will, der fährt an die bretonische oder normannische Küste. Doch die Zeiten und die Moden ändern sich, und der Glanz der großen Zeiten von Flaubert bis Proust ist verblasst auf den Promenaden und den Stränden, unter den Markisen der Cafes und in den Gärten der Ferienvillen.

 

In einer ihrer Erzählungen entdeckt die Protagonistin nicht den Eros, sondern – in der Glastür, die ihr Profil mit dem ältlichen Haarknoten spiegelt – den Tod: "Und da – fallen zwei Nadeln zu Boden. Ich stehe am Fenster, Windstille, nichts rührt sich", lautet das Ende. "Sie fallen zu Boden und bleiben liegen."

 

Intermezzo:

Alberto Manguel. Die verborgene Bibliothek

S. Fischer. 18.- €

Meine letzte Bibliothek befand sich in Frankreich, in einem alten steinernen Pfarrhaus im Süden desLoiretals, in einem kleinen Dörfchen mit weniger als zehnHäusern. Mein Partner und ich wählten diesen Ort, weildirekt neben dem Haus eine uralte, teilweise abgetrageneScheune stand, groß genug, um meine Bibliothek zu beherbergen, welche zu dieser Zeit auf etwa 35 000 Bücherangewachsen war. Ich dachte, sobald die Bücher ihrenPlatz gefunden hätten, würde ich auch den meinen finden.Doch es sollte anders kommen.Als ich zum ersten Mal das zweiflügelige schwereEichentor aufschob, das hinaus in den Garten führte,wusste ich: In diesem Haus will ich leben. Der von einemsteinernen Torbogen gefasste Blick fiel von hier auf zwei uralte Japanische Schnurbäume, die ihren Schatten aufeine blühende Wiese warfen, deren sattes Grün sich bis zu einer in einiger Entfernung noch erkennbaren Mauererstreckte. Man erzählte uns, während der Bauernkriege seien Korridore unter der Erde gegraben worden, die vom Haupthaus zu einem entlegenen, nunmehr langsam in sich zusammensackenden Wehrturm führten. Mein Partnner verbrachte Jahre damit, den Garten wieder instand zusetzen. Er pflanzte Rosenbüsche, legte einen kleinen Gemüsegarten an und kümmerte sich um die sträflich vernachlässigten Bäume, deren hohle Stämme die vormaligenBesitzer mit Abfällen vollgestopft hatten und deren Kronen stark ausgedünnt waren. Wenn wir durch den Garten gingen, sprachen wir darüber, dass wir uns als seine Hüter und nicht als Besitzer sahen, denn der Ort (wie wohl jederGarten) war erfüllt von einem eigenen Geist, den die Alten das Numinose nannten. Plinius erklärt, das Gefühl des Numinosen, das uns zuweilen in einem Garten überfällt,komme daher, dass in früheren Zeiten die Bäume Tempelder Götter waren – und die Götter haben das nicht vergessen. In der hintersten Ecke des Gartens standen zwischenden Überresten eines aufgegebenen Friedhofs aus demneunten Jahrhundert einige Obstbäume, auch hier hättensich die antiken Götter wohl heimisch gefühlt. Die alte Scheune, deren Steine noch das Siegel desMaurers trugen, der sie im 14. Jahrhundert erbaut hatte, beherbergte meine Bücher fünfzehn Jahre lang. Unterdiesem von verwitterten Balken getragenen Dach versammelte ich die Überlebenden aus den vielen vorangegangenen Bibliotheken, die ich seit meiner Kindheit zusammengetragen hatte. Ein professioneller Sammler hätte wohlnur eine Handvoll dieser Bücher für wertvoll befunden:Eine Bibel mit herrlichen Illuminationen, angefertigt im13. Jahrhundert in einem deutschen Skriptorium (ein Geschenk des Romanciers Yehuda Elberg), ein Handbuchder Inquisition aus dem 16. Jahrhundert, ein paar illustrierte Bücher von zeitgenössischen Künstlern, dazu eineMenge Sonderdrucke und signierte Ausgaben. Aber mir fehlte (und fehlt bis heute) das Geld und das Expertenwissen, um ein echter professioneller Sammler zu werden. Inmeiner Bibliothek saßen Frischlinge aus der Penguin-Taschenbuchreihe einträchtig neben würdevollen, in Leder gebundenen Patriarchen. Die in meinen Augen wertvollsten Bücher waren diejenigen, mit denen ich eine private Erinnerung verband, wie meine Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen gedruckt in düsteren gotischen Lettern – eines der ersten Bücher, das ich gelesen habe. Auch viele Jahrzehnte später treiben Erinnerungsfetzen aus meiner Kindheit anmir vorbei, wann immer ich die vergilbten Seiten dieses Buches aufschlage.

 

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„Fernsehen bildet. Immer, wenn der Fernseher an ist, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese.“

Groucho Marx

50. Lieblingsbuch, kein einzelnes, wieder ein Thema: Bücher über Bücher

 

"Gott steh' ihr bei - der Klerikei - die Laien lernen lesen." - Karl Julius Weber. Democritos

 

a. Sylvia Beach, „Shakespeare and Company“,

Es gibt eine Frau, die wesentlich zum Erfolg des „Ulysses“ beigetragen hat: Die Buchhändlerin Sylvia Beach. 1917 kommt die Amerikanerin, 1887 in Baltimore geboren, nach Paris – wie viele andere dieser Generation kommt sie, liebt sie, bleibt sie. Und verwirklicht ihren Traum, einen Buchladen zu gründen, eine amerikanische Buchhandlung mit Leihbücherei an der Seine. 1919 wird „Shakespeare and Company“ eröffnet und zu einem Treffpunkt der amerikanischen und französischen Literaturszene.

Sie wird zur Verlegerin des ULYSSES. Joyce wäre ohne sie verloren gewesen. Anekdote an Anekdote reiht sich in Sylvia Beachs 1956 erstmals erschienenen Erinnerungen „Shakespeare and Company“: Alles, was damals Rang und Namen hat, findet sich früher oder später in der Rue de l`Odéon ein oder wird zum Kunden: Ezra Pound, Sherwood Anderson, André Gide, Hemingway, Gertrude Stein, Scott F. Fitzgerald, Paul Valéry… Verwechseln Sie bitte nicht den Ramschladen SHAKESPEARE & COMPANY, den Sie heute in Paris vorfinden mit dieser innovativen Buchhandlung, die mit der deutschen Besatzung schließen musste. Direkt gegenüber existierte bereits ein Buchladen:

 

b. Adrienne Monnier. Aufzeichnungen aus der Rue l'Odeon.

 

Als 1919 Sylvia Beach ihren Buchladen "Shakespeare & Company" in der Rue de l'Odéon eröffnete, gab es dort bereits seit fünf Jahren einen literarischen Treffpunkt: das "Maison des Amis des Livres", dessen Besitzerin die Buchhändlerin, Verlegerin und Schriftstellerin Adrienne Monnier war. Mit den "Aufzeichnungen aus der Rue de l'Odéon nehmen wir teil an ihrer Reise durch die Welt der Literatur. Mit ihren Erinnerungen an Walter Benjamin, Sylvia Beach, Bryher, Colette, Hemingway, Saint-Exupéry, Gisèle Freund und anderen lernen wir sie als große Porträtistin kennen.

Was Beach für die englischsprachige Literatur wurde, war Monnier für die zeitgenössische französische. »Ihre Stimme klang laut – Adrienne stammte von Bergbewohnern ab, die wahrscheinlich gewöhnt waren, sich von Gipfel zu Gipfel zu begrüßen«, sagte Sylvia Beach über ihren ersten Besuch bei ihrer späteren Lebensgefährtin. 38 Jahre lang, bis zum Tod der Monnier, verband die beiden Frauen eine große Freundschaft und Liebe.

Sie selbst hat im Laufe ihres Lebens drei Literaturzeitschriften herausgegeben, hat mit und in diesen die wichtigsten französischen Autoren ihrer Zeit vorgestellt: Jules Romain, Jean Cocteau, André Breton, André Gide und Paul Valéry. Sie organisierte Lesungen in ihrer Buchhandlung, und eines ihrer größten verlegerischen Verdienste ist sicher die Publikation von James Joyce' Ulysses in französischer Sprache.

Sie publizierte auch eigenes: Ihre literarischen Porträts sind von hoher Qualität. Sie schrieb auch Gedichte und unter dem Pseudonym Sollier Prosatexte. Einige davon hat Walter Benjamin, der mit ihr befreundet war, übersetzt. Bis 1951 war ihr Buchladen Treffpunkt der literarischen Avantgarde. Die Lektüre dieses Buches ist eine große Bereicherung.

 

c. Alberto Manguel. Eine Geschichte des Lesens

 

 

»Ein Liebesbrief an das Lesen« schrieb der New Yorker zum Erscheinen von Alberto Manguels »Eine Geschichte des Lesens«, die sich bald zum Standardwerk entwickelte. Alberto Manguel erzählt Geschichten von Leserinnen und Lesern, die berühren und erstaunen. Wir begegnen Aristoteles, Mark Aurel und Thomas von Aquin ebenso wie Henry Miller, Oscar Wilde und Dorothy Parker. Wir erfahren von Büchernarren wie jenem persischen Großfürsten, der in einer Karawane alle seine Bücher bei sich führte und die Kamele alphabetisch ordnete, oder dem Grafen Libri, der sich eine kostbare Bibliothek zusammenstahl.

„Geh raus und lebe, sagte meine Mutter immer, wenn sie mich lesend fand, als hätte meine stille Beschäftigung ihrer Vorstellung vom Leben widersprochen.“

Damals war Alberto noch nicht belesen genug, um mit dem Satz des französischen Autors Gustave Flaubert zu kontern: „Lies, um zu leben!“ Diesen Konter liefert er jetzt nach, mit einigen Jahrzehnten Verspätung, dafür aber um so gründlicher und auf mehr als 400 Seiten. Sein Buch „Eine Geschichte des Lesens“ ist eine Liebeserklärung an das Lesen als Lebensform. Flauberts Satz steht als Motto vorne an, nebst anderen Motti anderer Lese-Enthusiasten, und im Innern seines Buches findet sich eine Fülle schwärmerischer Sätze über den Zauber, der von den schwarzen Zeichen ausgeht.

„Wir können gar nicht anders: Das Lesen ist wie das Atmen eine essentielle Lebensfunktion“

 

„Niemand würde nach mir rufen und irgend etwas von mir verlangen; mein Körper brauchte nichts, er lag unbeweglich unter der Decke. Alles was geschah, geschah im Buch, und der Erzähler der Geschichte war ich. Das Leben vollzog sich, weil ich die Seiten umblätterte. Ich kann mich wohl kaum an eine tiefere, allumfassendere Freude erinnern als den Augenblick, wenn ich kurz vor dem Ende des Buches angelangt war: Ich legte das Buch weg, um mir den Schluß für den nächsten Tag aufzuheben, ich schloß die Augen mit dem Gefühl, die Zeit angehalten zu haben.“

 

d. Rolf Vollmann. Die wunderbaren Falschmünzer

Sonderband der anderen Bibliothek, 2020

 

Eine Gartenparty der Weltliteratur, bei der jeder auf seine Kosten kommt. Eine fesselnde Chronik der Romanliteratur, mit über 300 biographischen Skizzen, unterbrochen von Warnhinweisen vor Langweilern und überschätzten Romanciers: Vergessen sie alles, was sie über Literaturwissenschaft, Nachschlagewerke und Deutschunterricht wissen. "Der Roman-Verführer" von Rolf Vollmann ist eine herrlich freche, frappierend kluge und ungemein unterhaltsame Widerrede gegen falsches Pathos, blinde Dichterverehrung und einfallsloses Gelehrtentum. Vollmann öffnet die Schatztruhe europäischer und amerikanischer Romane aus der Zeit von 1800 bis 1930. Tausende Romane hat er für uns gelesen. Und nun erzählt er von ihnen - überzeugt davon, daß große Romane bis heute von der Mund-zu-Mund-Propaganda ihrer Liebhaber leben.

Zu Beginn jedes Jahres berichtet der Verfasser über literarische Todesfälle bzw. bemerkt lapidar "Keine Toten dieses Jahr". Bei diesen "Grabschriften" (insgesamt 194) handelt es sich um pointierte Nachrufe. Einmal bekommt ein Verstorbener nur einen Satz, ein andermal eine Seite oder mehr. Im Anschluß daran widmet sich Vollmann den Romanen des Jahres. Auch dabei ist seine Vorgehensweise höchst abwechslungsreich. Man stößt bei der Lektüre auf sanftes Lob und milden Tadel, auf hemmungsloses Schwärmen und böse Verrisse, auf knappe Inhaltsangaben und persönliche Leseeindrücke, auf literarischen Klatsch und sarkastische Bemerkungen. Am Ende jedes Jahres folgen dann noch - analog den Todesmeldungen - Geburtsanzeigen bedeutender Romanciers. Angereichert wird das ganze noch durch eine große Anzahl wunderbarer Fußnoten zu allen möglichen Themen sowie regelmäßigen biographischen Exkursen über die wichtigsten Autoren. Daß dies alles brillant und fesselnd geschrieben ist, dürfte sich nach dem bisher Gesagten beinahe von selbst verstehen. So bedient sich der Verfasser eines subtilen Systems der Vor- und Rückgriffe, die für einen inneren Zusammenhalt seines Roman-Verführers sorgen. Er wendet also selbst "romanhafte" Techniken an.

 

e. Gustave Flaubert. Bücherwahn, antiquarisch

 

Der sonderbare Buchhändler Giacomo lebt in einer Gasse in Barcelona. Sein Gesicht ist bleich, sein Blick leer – ein Wesen wie aus Poes Spuknovellen entsprungen. Er lebt zurückgezogen, ist schweigsam und begibt sich nur selten nach draußen. Denn nur ein Gedanke besitzt ihn: Bücher. Er träumt nur von Büchern, er denkt nur an Bücher, er vergisst zu essen, vergisst zu schlafen. All sein Geld verwahrt er für seine Bücher, denn sein großer Traum ist es, eine Bibliothek aufzubauen. Bücher, so heißt es, »verbrannten ihn innerlich, machten seine Tage kaputt und fraßen sein Dasein auf«. Doch immer dann, wenn seltene und einzigartige Exemplare versteigert werden, wirkt er wie verwandelt. Seine Augen glänzen. Freude, Angst und Unruhe befallen ihn abwechselnd, bis er mit dem Buch in der Hand nach Hause kehrt. Der Clou dabei: Es geht dem Sonderling nicht um die Ideen und Gedankenwelten, die die Bücher bergen, es geht ihm nicht um ihren literarischen Wert, denn das Lesen fällt ihm schwer. Er vergöttert das Buch als Objekt. Er ergötzt sich an der äußeren Gestalt des Buches, an goldenen Buchstaben, an zerlesenen Seiten, an dem Einband, am staubigen Geruch.

 

f. Enrique Vila-Matas. Dublinesk. Andere Bibliothek

 

Also noch einer, der von Joyce, Bloom und Dublin nicht lassen kann. Enrique Vila-Matas erzählt von einem alternden Verleger, aus dem Literaturgeschäft ausgestiegen, dem Alkohol entsagt, in der Ehe fremdelnd, den wenigen Freunden entfremdet, in den Weiten des Internet verloren. Eine Reise nach Dublin soll eine Wende bringen – zum Guten oder zum Schlechten. Auf den Spuren von Joyce und Bloom soll die Literatur zu Grabe getragen werden. Die Reise wird dublinesk, grotesk.

Mit Samuel Riba, genannt: Riba, geht eine Ära dem Ende entgegen. Sein Leben war die Literatur, seine Biographie bestand aus Büchern. Dieser obsessive, in die Jahre und vom Alkohol gerade weggekommene Mann in Barcelona, ist melancholisches Opfer der eigenen Literaturverrücktheit: Er träumt von Dublin, dort will er den Feiertag »Bloomsday« bege­hen, den 16. Juni –, den Tag, der mit James Joyce in die Weltlite­ratur eingegangen ist. Dessen Roman Ulysses ist zum dublinesken Roman schlechthin geworden. Für Riba, den sympathischen Verwandten von Leopold Bloom, ist Ulysses der leuchtende Stern in der Gutenberg-Galaxie. Ein tragi- komischer Verleger phantasiert sein Ende, die Bestattung von Buch und Literatur im digitalen Zeitalter – und findet, in Dublin angekommen, eine Lebenszukunft.

Dublinesk ist ein wundersames Romankaleidoskop, eine inspirie­rende Reise durch die Literatur mit der Verbeugung des brillant-witzigen Sprachspielers Vila-Matas vor den Autoren, die er verehrt. Dublinesk birgt einen Schatz an literarischen Anspielungen – und ist ebenso eine große Hommage an James Joyce und Dublin.

 

g. Annie Dillard: "Ich schreibe". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Henning Ahrens. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1998. 200 S.

 

"One of the few things I know about writing is this: spend it all, shoot it, play it, lose it, all, right away, every time. Do not hoard what seems good for a later place in the book, or for another book; give it, give it all, give it now. The impulse to save something good for a better place later is the signal to spend it now. Something more will arise for later, something better. These things fill from behind, from beneath, like well water. Similarly, the impulse to keep to yourself what you have learned is not only shameful, it is destructive. Anything you do not give freely and abundantly becomes lost to you. You open your safe and find ashes."

 

h. Klaus Reichert. Lesenlernen. Über moderne Literatur und das Menschenrecht auf Poesie. Hanser, Edition Akzente 2006

 

Mit dem Staunen des Kindes über Wörter und Worte beginnt dieses Buch, es folgt die Lese-Autobiographie des Heranwachsenden:"Jeder Autor war ein Abenteuer, das bestanden werden wollte", bekennt Klaus Reichert. Im zweiten Teil widmet er sich den größten Abenteuern, Schriftstellern, die gemeinhin als schwierig gelten, wie James Joyce, Gertrude Stein, Paul Celan oder Wolfgang Hildesheimer - und kommt zu dem Ergebnis, dass sie durch verborgene Netze miteinander verbunden sind. Ein Buch über moderne Literatur und wie sie einem zugänglicher werden kann

 

i. Ulrich Johannes Schneider. Der Finger im Buch

Die unterbrochene Lektüre im Bild

Piet Meyer Verlag, Bern - Wien 2020
ISBN 9783905799576
Broschiert, 175 Seiten, 28,40 EUR

Wir folgen einem Finger - einem kleinen, langen, krummen, gichtigen, eleganten oder schönen Finger, der zwischen den Seiten eines Buches steckt. Wir sehen dabei eine Person, die liest. Ihr Blick zeigt tiefe innere Bewegung an. Diese intime Verbindung zwischen Buch und Lesergestalt ist in der Kunst selten, doch die Künstlerinnen und Künstler sind durchaus prominent: Tizian, Raffael und Rubens gehören ebenso dazu wie Angelika Kauffmann oder Bassano. In dreißig Gemälden, Skulpturen und Fotografien erkundet Ulrich Johannes Schneider dieses eine, vermeintlich kleine ikonografische Detail westlicher Bild- und Buchgeschichte: den Finger im Buch. Allerdings tauchen allgemeinere Fragen auf. Was bedeutet Lesen überhaupt? Was lernen wir aus diesen stummen Zeugen der Buchkultur? Und wie sehr gleichen wir selbst den dargestellten Frauen und Männern?

 

 

 

Ansonsten können wir uns jederzeit in der Buchhandlung über diese und andere Bücher, die das Lesen und Sammeln und Horten betrifft, unterhalten. Hesses Bibliothek der Weltliteratur z.B - überhaupt war dieser Mann ein großer Förderer der Literatur -, Walter Muschgs Tragische Literaturgeschichte, Prousts Tage des Lesens "Das Lesen liegt an der Schwelle des geistigen Lebens; es kann uns darin einführen, aber es ist nicht dieses Leben." in Marcel Proust. Tage des Lesens. "Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn" erzahlt der große Jorge Luis Borges in : Borges, J.L. und Osvaldo Ferrari 1990. "Ja, das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer. Für mich begann es, als ich zum erstenmal ein eigenes Buch bekam und mich da hineinschnupperte. In diesem Augenblick erwachte mein Lesehunger, und ein besseres Geschenk hat das Leben mir nicht beschert." - Astrid Lindgren- Das entschwundene Land.. Inge Thöns und Herbert Blank haben ein Buch herausgegeben über die Librairie Au Pont de l'Europe, die erste Exilbuchhandlung in Paris. Es gibt unzählige ansprechende Empfehlungen mehr.

 

Auch das schlechteste Buch hat seine gute Seite: die letzte! sagt John Osborne

 

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49. Lieblingsbuch: "Durch die Stadt streifte der unbehauste Mond. Und ich ging mit ihm und wärmte unerfüllbare Träume in mir auf und misstönende Lieder“ (aus der Erzählung „Pan Apolek“)

 

Isaak Babel. Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban.

2014 · 864 Seiten · 39,90 Euro
978-3-446-24345-3

 

Isaak Babels Erzählungen sind ein Jahrhundertwerk […] Größtenteils neu übersetzt, sorgfältig editiert und kommentiert, liegen sie nun in einer gültigen deutschen Ausgabe vor. […] Der kürzlich im Hanser Verlag von Bettina Kaibach und Urs Heftrich herausgegebene Band »Mein Taubenschlag« enthält sämtliche Erzählungen Babels sowie einen umfangreichen Anhang, in dem die Texte detailliert mit politischen, kulturgeschichtlichen und historischen Realien kommentiert werden, sowie ein hervorragendes, äußerst aufschlussreiches Nachwort […]. Eine editorische Mammutaufgabe. […] Das Allerwichtigste ist aber sicherlich, dass Bettina Kaibach alle Erzählungen, an deren Übersetzung in der bisher vorliegenden deutschen Ausgabe 16 ganz unterschiedliche Übersetzer beteiligt waren, einheitlich neu übertragen hat. Nur die »Reiterarmee« wurde in der bewährten, Maßstäbe setzenden Übertragung von Peter Urban übernommen. Und eine adäquate Übersetzung von Babels beispielloser Sprache […] stellt eine enorme Herausforderung dar. Das Ergebnis der Arbeit, das all diese Nuancen zu berücksichtigen versucht, ist beeindruckend. […] Isaak Babels Prosa stellt ein Jahrhundertwerk dar und mit »Mein Taubenschlag« liegt nun die verlässliche, gültige deutsche Ausgabe seiner Erzählungen vor, eine eminent gewichtige editorische Leistung.

 

Isaak Babel wurde 1894 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Odessa geboren. Er lernte Hebräisch, studierte die Bibel und den Talmud. Über sein Schulfranzösisch fand er zu Guy de Maupassant und mit fünfzehn Jahren zu ersten literarischen Versuchen in französischer Sprache. Doch sein CEuvre blieb schmal, umfaßt außer den erwähnten Prosazyklen nur die Stücke „Sonnenuntergang“ (1928) und „Maria“ (1935), verstreute Erzählungen, Drehbücher und verschiedene Entwürfe. Im Mai
1939 wurde Babel verhaftet, vor ein Militärgericht gestellt und am 27.Januar 1940 erschossen. Seine Rehabilitierung verlief zögerlich. Selbst Antonina Piroshkowa, die Witwe des Autors, wurde mit der Floskel vom „Herzversagen am 17 März 1941“, die in alle Nachschlagewerke Einzug hielt, bis in die Zeit der Perestroika hinters Licht geführt.

 

Er habe auf Romane spekuliert, „was herauskam, waren Erzählungen, kürzer als ein Sperlingsschwanz“, schrieb Babel 1929 an den Chefredakteur der Zeitschrift „Nowy mir“ In seinen Notizen und Entwürfen ist immer wieder die Rede von der Absicht, „Gedichte in Prosa“ zu schaffen. Das bezog sich auf den Zyklus „Die Reiterarmee“, der 1926 in seiner endgültigen Gestalt vorlag, und auf die „Geschichten aus Odessa“, die in Arbeit waren und 1931 publiziert wurden.

1930 wertete Ilja Ehrenburg in seinen „Randbemerkungen zur heutigen russischen Literatur“ die Gedichte Pasternaks und die Prosa Babels als Beweis dafür, daß die russische Kunst in Europa vom Nachzügler zur Avantgarde geworden sei. Er hat recht behalten, auch wenn er zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte, wie schnell die von Stalin proklamierte „Rekonstruktionsperiode“ Babels Schreibintentionen brechen und das Ende der russischen Avantgarde herbeiführen würde.

„Es finden sich genug Menschen, die so erzogen sind, daß ihnen der Gedanke, sich auf Kosten anderer zu bereichern, keineswegs verbrecherisch erscheint, im Gegenteil, es ist ihr geheimer Lieblingstraum.“

Isaak Emmanuilowitsch Babel

Ein solches Buch bei sich zu haben, ist etwas ganz Besonderes: Isaak Babel in der frischesten Übersetzung, all seine Erzählungen ausgiebig kommentiert. Der Hanser Verlag hat das Seine getan. Werden wir aber, lesend, Isaak Babel genügen?

 

 

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48. Lieblingsbuch: „Jedem sei seine eigene Interpretation gestattet, für mich aber ist es eine Geschichte über den Tod, ganz einfach. Ein Mann stirbt in Amsterdam und sieht sein ganzes Leben in wenigen Sekunden an sich vorüberziehen. Das ist der Grundgedanke.“ sagt Cees Nooteboom.

Cees Nooteboom. Die folgende Geschichte
Suhrkamp BasisBibliothek 139
978-3-518-18939-9, 9.- €

Cornelis Johannes Jacobus Maria (Cees) Nooteboom, geb. 1933 ist ein niederländischer Schriftsteller. Sein Werk umfasst Romane, Novellen, Reiseberichte und Gedichte; er war auch als Journalist und Literaturkritiker tätig. In den Niederlanden wurde bereits sein Debütroman Philip und die anderen von 1955 breit rezipiert und mit dem Anne-Frank-Preis ausgezeichnet (In "Philip und die anderen", Cees Nootebooms vor gut fünfzig Jahren geschriebener Erstling, erzählt der Autor die Geschichte eines jungen Mannes, der, einem traumhaften chinesischen Mädchen auf der Spur, quer durch Europa trampt, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft eilt und in den Jugendherbergen und auf den Straßen seine "Schule des Lebens" besucht.); internationale Aufmerksamkeit erregte jedoch erst der Roman Rituale von 1980 (Das Amsterdam der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre erscheint hier in der Perspektive von Inni Wintrop. Dieser will Selbstmord begehen in seinem WC, »weil er in seinem Horoskop für ›Het Parool‹ prophezeit hatte, seine Frau werde mit einem anderen durchbrennen und er, der ja ein Löwe war, würde dann Selbstmord begehen.). In Deutschland erreicht der Autor seit der Veröffentlichung seiner Novelle Die folgende Geschichte 1991 ein breites Publikum. Lesen Sie bitte diese 3 Bücher von Nooteboom, jedes erschließt eine eigene Welt.

Der Anfang: "Meine eigene Person hat mich nie sonderlich interessiert, doch das hieß nicht, daß ich auf Wunsch einfach hätte aufhören können, über mich nachzudenken – leider nicht. Und an jenem Morgen hatte ich etwas zum Nachdenken, soviel ist sicher. Ein anderer würde es vielleicht als eine Sache von Leben und Tod bezeichnen, doch derlei große Worte kommen mir nicht über die Lippen, nicht einmal, wenn niemand zugegen ist, wie damals. Ich war mit dem lächerlichen Gefühl wach geworden, ich sei vielleicht tot, doch ob ich nun wirklich tot war oder tot gewesen war, oder nichts von alledem, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht feststellen. Der Tod, so hatte ich gelernt, war nichts, und wenn man tot war, auch das hatte ich gelernt, dann hörte jegliches Nachdenken auf. Das also traf nicht zu, denn sie waren noch da, Überlegungen, Gedanken, Erinnerungen. Und ich war noch da, wenig später sollte sich sogar herausstellen, daß ich gehen konnte, sehen, essen (den süßen Geschmack dieser aus Muttermilch und Honig zubereiteten Teigklöße , die die Portugiesen zum Frühstück essen, hatte ich noch Stunden danach im Mund). Ich konnte sogar mit richtigem Geld bezahlen."

Hermann Mussert wacht eines Morgens in einem Lissaboner Hotelzimmer auf, obwohl er überzeugt ist, am gestrigen Abend wie gewöhnlich in seiner Amsterdamer Wohnung zu Bett gegangen zu sein. In einem unklaren Zustand zwischen Realität, Traum oder Tod erinnert er sich an Geschehnisse, die ihn vor zwanzig Jahren schon einmal in dieses Zimmer geführt haben.

Damals war Mussert Gymnasiallehrer für Griechisch und Latein, ein weltfremder und von den Schülern "Sokrates" getaufter Altphilologe, der sich an den Erzählungen von Phaetons Himmelsfahrt und Sokrates’ Tod berauschte. Nur ein einziges Mal drang die Liebe zu ihm und machte ihn gewöhnlich: Er begann ein Verhältnis mit seiner Kollegin Maria Zeinstra, die keinen Hehl daraus machte, dass sie mit dem Seitensprung ihren Ehemann, den Niederländischlehrer und Sporttrainer Arend Herfst, für seine Affaire mit Lisa d’India bestrafen wollte, einer hochbegabten Musterschülerin des Gymnasiums, in die das gesamte Lehrerkollektiv verliebt war. Nur sich selbst nimmt Mussert aus, obwohl er gestehen muss, dass sie die einzige Schülerin war, die die toten Sprachen und klassischen Mythen, die er unterrichtete, erst lebendig und wirklich erscheinen ließ.

Noch einmal wandelt Mussert in Portugal auf den Wegen, auf denen er einst Maria Zeinstra während eines Kongresses begleitete, und beschwört ihre gemeinsame Vergangenheit herauf. Als er in dem Lissabonner Hotelzimmer, in dem sie damals eine Nacht verbrachten, in den Schlaf fällt, sieht er sich selbst in seinem Amsterdamer Bett liegen und im Schlaf mit etwas ringen.

 

Das Buch wurde 1991 als Boekenweekgeschenk (dt. Bücherwochengeschenk) veröffentlicht. Dies ist eine jährliche Buchausgabe im Zusammenhang mit der niederländischen Bücherwoche. Das gewählte Buch wird von niederländischen Buchhändlern unentgeltlich an Kunden vergeben, die einen bestimmten Mindestbetrag ausgegeben haben. Meist handelt es sich um eine Novelle, die speziell für die Bücherwoche geschrieben wird.

"Die Welt ist ein einziger unaufhörlicher Querverweis." - Die folgende Geschichte. Frankfurt am Main, 1991

 

 

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47. Lieblingsbuch:

 

Fussel

Es ist Abend, und ich werde irgendwie von Gefühlen bedrängt, für die es kein Vokabular gibt und von Ereignissen, die man eher in Dimensionen von Fusseln als in Wörtern ausdrücken sollte.
Ich habe winzige Fetzchen meiner Kindheit untersucht. Es sind Bruchstücke aus einem fernen Leben, die keine Form oder Bedeutung haben. Es sind Dinge, die einfach zufällig vorgekommen sind, wie Fussel.

 

Der kleine Text stammt von Richard Brautigan. Übersetzer ist der Autor des folgenden Lieblingsbuchs:

 

Günter Ohnemus. Zähneputzen in Helsinki

Maro Verlag 1982

oder

Die letzten großen Ferien

Maro-Verlag 1993

oder

67 Ansichten einer Frau

Maro Verlag 1995

 

Günter Ohnemus, 1946 in Passau geboren, war Buchhändler, Lektor, Mitarbeiter am Collins Dictionary und Verleger. Heute lebt er als freier Autor und Übersetzer in Freising bei München. 1998 wurde er mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Im selben Jahr erhielt er für seinen Roman ›Der Tiger auf deiner Schulter‹ den Tukan-Preis der Stadt München. Schreiben ist, nach Tennis, sein Lieblingssport, sagt er.

 

Wo mag sie jetzt gerade sein? Was mag sie jetzt tun? "Ich habe sie seit vierzehn Jahren nicht gesehen, und das einzige, was ich weiß, ist, daß sie in einem Haus am Stadtrand von Helsinki wohnt." Ein Mann, der gut verdient? Zwei Kinder, die sicher sehr gut Finnisch sprechen? Und an was denkt sie den Tag über? Was sagt sie, was liest sie morgens in der Zeitung, was kauft sie ein? (Und denkt sie noch an mich?)

Nur eines weiß er sicher, "daß sie sich wenigstens dreimal am Tag die Zähne putzt. Sie hat das immer nach jeder Mahlzeit gemacht. Sie war stolz auf ihre Zähne... Ganz gleich, was sie gerade vorhatte, ihre Zähne kamen immer zuerst dran, und deshalb ist es jetzt so, daß sie sich immer, wenn ich an sie denke und mir überlege, was sie wohl gerade macht, daß sie sich dann immer gerade in Helsinki die Zähne putzt."

 

Ganz neu und unbekannt allerdings wird der Ton, der Rhythmus dieser Texte dem einen oder anderen Leser wahrscheinlich nicht sein. Ohnemus selbst zitiert die amerikanischen Vorbilder William Carlos Williams und Richard Brautigan (dessen Bücher er übersetzt und in einem Eigenverlag herausgebracht hat). (Benedikt Ehrenz in Die Zeit10/1986)

 

"Wahrscheinlich habt ihr noch gewunken, als ihr mich schon gar nicht mehr sehen konntet, so wie ich gewunken habe, bis der Zug hinter der Kurve verschwunden war. Ich bin dann zum Verlag gegangen und hab’ mir mein Honorar abgeholt." Neunzig Mark. Was soll man damit schon anfangen. Ich hab’ die neunzig Mark genommen und mir damit bei Karstadt fünf neue Unterhosen gekauft. Sie waren billig. Vier Mark fünfzig das Stück. Aber unpraktisch. Die Schlitze werden immer kleiner."

 

Er trödelt über die Straßen, eine blonde Frau fasziniert ihn für Augenblicke und er überlegt, "wie das ist, wenn man auf blonde Art lebt". Am Abend hockt er schließlich melancholisch mit der Katze neben dem Schallplattenspieler und hört zum zwanzigsten Mal Harry Belafontes "Midnight Special": "Lauter Lieder von Leuten, die auch nicht ins Bett wollen, und die anfangen, Ortsnamen neu zu buchstabieren und die kleine Schwestern haben, die ihnen dauernd Briefe schreiben; lauter Leute, die manchmal so glücklich über einen schönen Tag sind, daß sie einem Maultier ihre Initialen in den Hintern schnitzen könnten. Und morgens um sechs stehen sie an einem Bahngleis und schauen einem Güterzug zu, der an ihnen vorbeirollt."

Lakonische Alltagstexte, eher Melodien, alles geschieht so nebenbei. Und es ist großartig. Als entdeckte man gerade ein völlig neues Lebensgefühl. Oder eins, das man immer schon in sich trug und nicht rauslassen wollte.

Eine Kurzgeschichte daraus:

Ein kleiner hellblauer Bikini

Ich war fünfzehn, und sie war achtzehn. sie hatte schwarze Haare und sehr lange braune Beine. Sie wusste eine Menge Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte.
Plutarch, Xenophon, Caesar.
Kleist, Dostojewski und Sartre.
Das waren die Leute, die sie las. Sie hatte einen kleinen hellblauen Bikini an, der sehr gut zu ihren braunen Beinen passte, und ich lag mit ihr und ihrer Freundin auf einer Decke im Schwimmbad. sie waren beide so hübsch, dass ich am liebsten einfach bloß dagelegen wäre und sie angeschaut hätte.
Natürlich war sie ZU ALT für mich. Sie war achtzehn und ich war drei Jahre jünger. aber das störte mich nicht. Es genügte mir, dass ich neben ihr liegen konnte, und dass wir ab und zu miteinander ins Wasser gingen.
Sie hatten beide ihren Kamm vergessen und liehen sich meinen aus. Es war aufregend, dabei zuzuschauen, wie sich zwei sehr hübsche Mädchen nacheinander mit meinem Kamm ihre langen Haare kämmten.
Ich hatte einen Sonnenbrand, und als sie mit den langen Beinen und dem hellblauen Bikini ihre Haare gekämmt hatte, musste ich mich auf den Bauch legen, und sie legte sich so, dass ihr Haar meinen Sonnenbrand bedeckte. Sie las Xenophons Anabasis, die Geschichte vom Kampf gegen Ataxerxes und vom Rückzug der Zehntausend, während ihr Haar mehr als zweitausend Jahre später meine Schultern kühlte. sie roch nach Luft und Sonnenöl und nach etwas anderem, was ich noch nicht kannte. Es roch sehr angenehm.
Zwischendrin erzählte sie mir, dass Xenophon einmal einen reichen Meder gefangengenommen hatte und sich für den Mann ein großes Lösegeld auszahlen ließ, von dem er für den Rest seines Lebens existieren konnte. Ich erinnere mich, dass ich Xenophon sofort mochte.
Später, als sie mit ihrer Freundin nach Hause ging, zog sie einen parfümierten Taschenkalender aus ihrer Tasche und schenkte ihn mir. Der Kalender roch wie der Zaun um unseren Schulhof: nach altem Holz und nach Maikäfern.
BIS MORGEN sagte sie, und dann gingen sie los. Ich schaute den Kalender in meiner Hand an. Es war 1961, und die großen Ferien hatten gerade erst begonnen. Wir hatten noch eine Menge Zeit.
Ich packte meine Sachen zusammen, fuhr mit dem Fahrrad an den Fluss zum Bootshaus, holte mir ein Boot aus dem Schuppen und ruderte den Fluss hinauf. Das Wasser war grün, und die Luft war sehr warm. Es roch nach Fischen und Algen und vom Ufer her nach frisch gemähtem Gras, und ein leichter Wind strich übers Wasser, und jedesmal, wenn ich die Ruder durchzog und mich weit zurücklehnte, war es, als lehnte ich mich gegen die großen Ferien, gegen ein riesiges, weiches, sechs Wochen großes Kissen aus Luft und Zeit und Sonnenöl und etwas anderem, das ich noch nicht kannte.
Zwei Stunden später, als ich das Boot versorgt und mich umgezogen hatte, blieb ich noch im Umkleideraum sitzen. Aus den Spinden kam der Geruch von Turnschweiß und Gummi, und ich saß da auf einer Bank, blätterte den Taschenkalender durch und roch ab und zu daran. Ich fühlte mich sehr wohl. Ich hätte den Rest meines Lebens so dasitzen und den Kalender durchblättern können.
Als ich am nächsten Tag ins Schwimmbad ging, war sie nicht da und am übernächsten auch nicht. Sie kam überhaupt nicht mehr. Vielleicht musste sie mit ihren Eltern in die Ferien fahren oder sie ist in eine andere Stadt gezogen, oder es ist sonstwas passiert, jedenfalls habe ich sie nie wiedergesehen,
Sie muss jetzt ungefähr 34 sein, und sie verschenkt vielleicht immer noch Taschenkalender und liest eine Menge Bücher.
Plutarch, Xenophon, Caesar.
Kleist, Dostojewski und Sartre.
Ich kenne sie inzwischen alle. Und wir sind jetzt alle 16 Jahre älter, außer vielleicht ihr Bikini. Bikinis werden selten so alt. Sie verschwinden nach Regeln und Gesetzen, die nirgendwo aufgezeichnet sind und um die sich niemand Gedanken macht. Manchmal werden sie einfach weggeworfen, und machmal werden sie im Sommer wie Hunde oder Katzen an Flüssen oder an abgelegenen Stellen ausgesetzt. sie liegen dann da wie zusammengeschrumpelte Luftballons, und die Leute, die sie finden, fassen sie mit zwei Fingern an oder heben sie mit einem Stock hoch und werfen sie ins Gebüsch. Niemand will etwas mit Bikinis zu tun haben, die von anderen Leuten ausgesetzt worden sind.
Ich kann das gut verstehen. Wahrscheinlich ginge es mir genauso, außer natürlich mit dem kleinen hellblauen Bikini, den sie anhatte, als ihr Haar meine Schultern kühlte, und als wir zu dritt auf der Decke lagen, auf der wir immer noch liegen wie drei Leute in Pompeji, kurz bevor der Vesuv ausbrach und mit seiner Lava alles unter sich begrub.

 

 

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46. Lieblingsbuch: Jeder Mensch bereitet uns auf irgendeine Art Vergnügen: Der eine, wenn er ein Zimmer betritt, der andere, wenn er es verlässt. - sagt der Däne Herman Bang

 

Herman Bang. Tine

Aus dem Dänischen von Aldo Keel, Ingeborg Keel
Hardcover, Leinen mit Schutzumschlag, 320 Seiten,
ISBN: 978-3-7175-2240-9, 19,95 €

 

 

Tine, die Tochter des Küsters auf einer malerischen dänischen Ostseeinsel, ist bei dem jungen Ehepaar Berg ein gern und häufig gesehener Gast. Vor allem mit Frau Berg verbindet sie eine innige Freundschaft. Doch dann bricht jäh der Krieg in die Idylle ein: Tines friedliches Heimatdorf liegt plötzlich am Rand eines Schlachtfelds, Flüchtlinge und Verwundete werden einquartiert, während der Kanonendonner immer näher rückt. Inmitten der spannungsgeladenen Atmosphäre wird sich Tine ihrer lange verdrängten Gefühle für Berg bewusst …

Die Konzentration auf das Kleine ist es, was Bang, dessen Roman 1889 erschienen ist, den Ruf des Impressionisten eingetragen hat, bei ihm wird allerdings die "Bescheidenheit" zum "Stilprinzip"

Vor dem Hintergrund des deutsch-dänischen Krieges 1864 entfaltet sich eine leise, melancholische Liebesgeschichte, in verhaltenen Gesten und zaghaften Blicken zunächst nur angedeutet. Eindringlich und mit großer stilistischer Feinheit schildert Herman Bang die schmerzhafte Sehnsucht und stumme Verlorenheit seiner Protagonistin. In seinem Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Roman „Tine“ strickt der Schriftsteller Herman Bang ein dichtes Gewebe aus Krieg, Liebe und Grauen, aus gelähmtem Verstand und wechselhaften Gefühlen.

 

Herman Bang (1857–1912), als Pfarrerssohn in der dänischen Provinz aufgewachsen, versuchte sich als Schauspieler, Regisseur und Feuilletonist, ehe er sich ganz der Literatur zuwandte. Reisen führten ihn durch ganz Europa. Bang gilt als Vollender der impressionistischen Erzählkunst, stilistisch wie thematisch gehört er zur künstlerischen Avantgarde seiner Zeit.

 

Sehr lesenswert sind auch seine anderen Bücher AM WEG, SOMMERFREUDEN, LUDVIGSHÖHE, alle bei Manesse erschienen. Der Höhepunkt impressionistischer Schriftstellerei.

 

„Fern im dänischen Norden ein Bruder“, hat Thomas Mann einmal über Hermann Bang gesagt und diesen großen Erzähler zu Recht bewundert. Der schreibt über stille, vergebliche Liebespein, über seelenleere Protzbürger und immer wieder über Menschen am Rande der Gesellschaft, denen das Glück nicht gelingen mag. Bangs Sympathie gilt den Beladenen, die in den Umständen oder auch im eigenen Gemüt gefangen sind. Bang ist ein meisterlicher Könner der angedeuteten Spannungen. Eine kleine Bewegung, eine ungewohnte Stimmlage – er beschreibt nicht das Gefühl, sondern seine verräterischen Anzeichen.

 

Als Claude Monet und Herman Bang sich 1895 in Kristiania begegneten, so erzählt es Keel, soll der Maler dem Dichter bescheinigt haben, dass „Tine als impressionistisches Kunstwerk mit zum Höchsten gehört“.

 

 

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Markus Werner. Festland

Fischer Taschenbuch, 12.-€

 

Ein Kind der Liebe und eines geplatzten Kondoms: »Uns trennten Welten und doch nur fünfzehn Tramminuten.« Sie leben in Zürich, doch Vater und Tochter haben keinen Kontakt. Erst als sich beide in einer Krise befinden, gehen sie aufeinander zu: der »Bürobiedermann« Kaspar Steinbach und die unehelich geborene Julia, die soeben ihr Studium abgeschlossen hat. Was sie mit ihrem fremden Vater erlebt und von ihm zu hören bekommt unter anderem die Geschichte ihrer Entstehung , ist für die junge Frau so abenteuerlich und verwirrend, daß sie es aufschreiben muß . »Eine Lebensmelodie ohne einen falschen Ton.« (Lutz Hagestedt im "Rheinischen Merkur").

 

Im Gegensatz zu der Hauptfigur in Werners Erstlingswerk "Zündels Abgang" (1984), die an ihren dramatischen Ausbruchsversuchen zugrunde geht, ist Steinbach ein stoischer Rebell: Er hat erkannt, daß im Aufbegehren die abermalige Anpassung bereits enthalten ist. Er sei "nur auf Bewährung frei und stehe sozusagen nur auf Probe im Dienst der Ungeschäftigkeit"

 

Der Preis der SWR-Bestenliste 1997 ging an Markus Werner für sein Buch "Festland".

Wenn das Leben plötzlich ins Unmögliche umschlägt, dann beginnt das Erzählen des Schweizers Markus Werner. Die Romane, die der Autor bisher vorgelegt hatte, zeugen von einem scharfen Blick und einem Humor, dem weder Bissigkeit noch Mitgefühl fremd sind. Mit abgründiger Leichtigkeit und genauem Formbewußtsein beschreibt Werner in seinem letzten Roman "Festland" das Wechselspiel zwischen Krise und Erkenntnis, in dem sich für die Figuren - Vater und Tochter - ein neuer Lebenszusammenhang herstellt. Er schreibt eine Prosa, die frei ist von Schlacken und jeglichen Gemeinplätzen. In seinen Texten manifestiert sich ein humanes Temperament, das in der neuen deutschsprachigen Literatur nicht eben häufig anzutreffen ist.

 

"Eichhörnchen, Birken und freundliche Nächte sagen mir zu. Ich bestaune jeden, der sich knitterfrei kleidet. Ich bin Schweizer. Strammes vergelte ich mit Hühnerhaut. einst wollte ich Jäger werden, nun bin ich Lehrer, was sonst. Schön ist ein lautloses Frühstück. Ich rauche, schreibe stockend, wohne ländlich. Dem Weltgeschehen schenke ich Interesse und Wut aber ich glaube, es pfeift drauf. Gern wäre ich länger, runder und eine Spur beschwingter. Ich frage mich, was man sonst noch über mich wissen könnte."

 

Aus der Selbstvorstellung von Markus Werner bei der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 2002. Veröffentlicht in: ›Allein das Zögern ist human. Zum Werk von Markus Werner‹.

 

Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane „Zündels Abgang“, „Froschnacht“, „Die kalte Schulter“, „Bis bald“, „Festland“, „Der ägyptische Heinrich“ und „Am Hang“. Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band „Allein das Zögern ist human“. Es gibt eine innere poetische Pflicht, diese Bücher zu lesen.

 

„Tassos Foto, es steht auf dem Bücherregal, erinnerte mich an seinen Füllfederhalter, den ich von Magdalena als Andenken bekommen hatte. Natürlich, dachte ich und holte ihn samt Tintenfässchen aus der untersten Schreibtischschublade hervor. Er roch ein wenig so, wie meine Grossmutter gelegentlich gerochen hatte, ich glaube, nach Kampfer. Ich reinigte die Innenseite und das Reservoir mit Wasser, und dann zog ich die alte, blaue Tinte auf. Als ich zu schreiben begann, nahm er sehr rasch die Temperatur meiner Hand an.“

Das Ende seines letzten Romans „Am Hang“
Markus Werner 1944 – 2016

 

 

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44. Lieblingsbuch: „Glaubt man der Frauenzeitschrift Elle, die jüngst auf einem Foto 70 Romanautorinnen versammelte, so gehören Schriftstellerinnen zu einer merkwürdigen zoologischen Gattung: Sie bekommen abwechselnd Romane und Kinder.“ (S. 71)

Roland Barthes . Mythen des Alltags

suhrkamp taschenbuch 4338, 325 Seiten
ISBN: 978-3-518-46338-3, 12,- €

Die Originalausgabe erschien 1957 unter dem Titel
Mythologies bei Éditions du Seuil, Paris.

Eifrig betastet es die Ränder der Fenster, es streicht mit der Hand über die Gummifugen, die das Heckfenster mit seiner verchromten Einfassung verbinden. Mit der DS beginnt eine neue Phänomenologie der exakten Passung (...) was natürlich die Vorstellung einer unbeschwerten Natur wecken soll.

Roland Barthes’ Mythen des Alltags sind längst selbst zum Mythos geworden. In seinen provokativ-spielerischen Gesellschaftsstudien entschlüsselt er Phänomene wie das Glücksversprechen der Waschmittelwerbung, das Sehnsuchtspotential von Pommes frites und die göttlichen Qualitäten des Citroën DS. Seine radikale Hinterfragung des Alltäglichen ist bis heute von bestechender Aktualität. Die Essays ermuntern dazu, dem scheinbar Selbstverständlichen kritisch gegenüberzutreten und den Blick für mögliche Veränderungen zu schärfen.
Die erste vollständige Übersetzung enthält 34 zusätzliche Essays und macht diesen Kultklassiker deutschsprachigen Lesern erstmals in seiner ganzen Bandbreite zugänglich. Mythen des Alltags bietet ein Instrumentarium zur Deutung unserer Alltagskultur und begründete Roland Barthes’ Ruf als brillanter Interpret der Welt der Zeichen.

„Wir wissen jetzt, was für das Kleinbürgertum Wirklichkeit ist: nicht einmal das Sichtbare, sondern nur das Zählbare.“ (S. 112)

Mythen des Alltags besteht aus zwei Teilen: Zunächst deckt Barthes in meist kurzen, feuilletonistischen Artikeln die Mythen hinter bekannten Alltagsphänomenen seiner Zeit auf – vom patriotischen Subtext der Nahrungsmittel Beefsteak, Pommes Frites, Wein und Milch über den bizarren Auftritt eines amerikanischen Predigers in Paris bis hin zur „afrikanischen Grammatik“, jenen Sprachkonventionen, die den Algerienkrieg rechtfertigen sollten. Der Autor vermittelt dabei den Eindruck eines Flaneurs, der eine Kulturlandschaft im Wandel durchstreift. Er pflückt mit leichter Hand die tollsten Stilblüten aus Illustrierten, demontiert Reklametafeln und verwüstet die akkuraten Vorgärten des französischen Kleinbürgertums. Im zweiten Teil des Buches liefert er das theoretische Grundgerüst für seine Arbeit, indem er die strukturalistische Zeichenlehre von Ferdinand de Saussure erklärt und auf die Phänomene der entstehenden Massenkultur anwendet. Dabei geht er auch darauf ein, dass der ironisch-distanzierte Blick des Mythologen teuer erkauft ist: „Die Tour de France oder den guten französischen Wein entziffern heißt sich von denen entfernen, die sich damit ablenken, die sich dafür begeistern.“ Für die Leser ist das ein Glück, denn selten war Enttäuschung ein derartiges Vergnügen wie bei Roland Barthes.

„Literatur beginnt (…) erst im Angesicht des Unnennbaren, der Wahrnehmung eines Anderswo, das der Sprache, die nach ihm sucht, fremd ist.“ (S. 207)

Roland Barthes wurde am 12. November 1915 in Cherbourg geboren und starb am 26. März 1980 in Paris an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Er studierte klassische Literatur an der Sorbonne und war danach als Lehrer, Bibliothekar und Lektor in Ungarn, Rumänien und Ägypten tätig. Ab 1960 unterrichtete er an der École Pratique des Hautes Études in Paris. 1976 wurde er auf Vorschlag Michel Foucaults ans Collège de France auf den eigens geschaffenen Lehrstuhl »für literarische Zeichensysteme« berufen. In Essais critiques beschäftigt sich Barthes mit dem avantgardistischen Theater. Prägend für ihn waren unter anderem Brecht, Gide, Marx, de Saussure sowie Jacques Lacan. Zudem war Barthes ein musikbegeisterter Mensch, vor allem als Pianist und Komponist.

Aus „Fragmente einer Sprache der Liebe"

„Nun gibt es aber keine andere Abwesenheit als die des Anderen: der Andere macht sich davon, ich bleibe da. Der Andere ist im Zustand immerwährenden Aufbruchs, im Zustand der Reise; er ist, seiner Bestimmung nach, Wanderer, Flüchtiger; ich, der ich liebe, bin meiner umgekehrten Bestimmung nach sesshaft, unbeweglich, verfügbar, in Erwartung, an Ort und Stelle gebannt, nicht abgeholt wie ein Paket in einem verlassenen Bahnhofswinkel. Die Abwesenheit aussprechen heißt: „Ich werde weniger geliebt, als ich selbst liebe.“

Der Tod seiner Mutter im Alter von 84 Jahren ist das Ende einer symbiotischen Beziehung. Immer war sie der Dreh- und Angelpunkt von Roland Barthes‘ Alltag. Zuletzt hat er sie acht Monate lang selbst gepflegt. Sein Vater Louis ist eine Leerstelle. Er fiel im Ersten Weltkrieg an der Front, als Roland noch in den Windeln lag. Im „Tagebuch der Trauer“ ist aus dem affektiven „Maman“ ein „Mam“ mit anschließendem Punkt geworden: Zeichen der eigenen seelischen Verstümmelung. Der Trauernde macht sich im Schreibprozess selbst zum beobachteten Objekt.

Ich würde vorschlagen, Sie lesen einfach alles von diesem großartigen Wissenschaftler, es ist aber wieder ein ganzes Regalbrett voll mit Büchern und da sind noch die anderen, die sich wie Mythen um den Autor herumranken: der schräge Roman DIE SIEBTE SPRACHFUNKTION von LAURENT BINET (Paris, Frühjahr 1980: Roland Barthes wird von einem bulgarischen Wäschelieferanten überfahren. Barthes kommt von einem Essen mit dem Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten, François Mitterrand, und trägt ein Manuskript unter dem Arm. Ein Passant, Michel Foucault, wird Zeuge des Unfalls und behauptet, es war Mord.) oder den schönen Text von ORTHEIL (nicht so ganz mein Autor in den anderen Büchern)DIE PARISER ABENDE DES ROLAND BARTHES (Er folgt Roland Barthes auf dessen weiten und melancholischen Streifzügen durch 'Pariser Abende': auf der Suche nach dem Glück und der Schönheit der Nacht. Ergänzt durch Fotografien aus dem Jahr 2015 (und die deutsche Übersetzung der "Soirées de Paris" von Hans-Horst Henschen) ist dieses Buch ein einzigartiges Dokument einer Deutung des Pariser Stadtraums aus dem Blickwinkel zweier Autoren.)

Bild: Roland Barthes auf dem Arm seiner Mutter

 

 

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43. Lieblingsbuch: „M'illumino d'immenso“(Ich erleuchte mich durch Unermessliches)!

Giuseppe Ungaretti
Gedichte - Italienisch und deutsch
Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann

Bibliothek Suhrkamp 70, Gebunden, 163 Seiten
ISBN: 978-3-518-01070-9

(1888 in Alexandria, Ägypten geboren, 1970 in Mailand gestorben) ist der Archipoeta, der Erzvater der modernen italienischen Dichtung. Man hat ihn einen Hermetiker genannt; aber dieses Schlagwort, zur Erklärung seines Werkes erfunden, hat es eher verdunkelt. Uns Heutigen erscheint es in strahlender Deutlichkeit, als ein Rätsel, das keiner Lösung bedarf. Ungaretti ist von nichts befangen; diese Freiheit ist es, was sein Dichten zu einem „offenbaren Geheimnis“ macht: lapidar, unzweideutig, schön wie ein Kieselstein.

„Jetzt werde ich nur im Traum/die vertrauensvollen Hände küssen können ... Und ich streite mich herum, arbeite,/bin kaum verändert, fürchte, rauche ... Wie ist’s möglich, daß ich gegen soviel Nacht ankomme? ...“

Ingeborg Bachmann ist unter den deutschen Lyrikern eine der ersten, die den lapidaren Stil gemeistert haben. Ihr Romaufenthalt war eine gute Schule. Auch für die Kantilene, das plötzliche Blühen des Steins, hat sie Gehör: „Auf die Hügel bin ich wieder gegangen, zu den geliebten Pinien/Und der heimatliche Tonfall im Wohlklang der Luft,/Den ich nie wieder mit dir hören werde,/Zerreißt mich bei jedem Atemzug...“ Sie holt aus unserer härteren Sprache auch die zarten Nuancen.

Senza piú peso

Ohne Gewicht

a Ottone Rosai
Per un Iddio che rida come un bimbo,
Tanti gridi di passeri,
Tante danze nei rami,

Un'anima si fa senza piú peso,
I prati hanno una tale tenerezza,
Tale pudore negli occhi rivive,

Le mani come foglie
S'incantanto nell'aria...

Chi teme piú, chi giudica?

Für einen Gott, der wie ein Kind lacht,
Soviel Sperlingsschreie,
Soviel Tänze in den Zweigen,

Eine Seele wird sich leicht,
Die Wiesen haben eine solche Zärtlichkeit,
Solche Scham wird in den Augen wieder lebendig,

Die Hände wie Blätter
Verzaubern in der Luft...

Wer fürchtet noch, wer urteilt?
1934

Ebenso wie Bachmann selbst ist auch Ungaretti – eine Ausnahme innerhalb der italienischen Literatur, die stark im Lokalen wurzelt - ein Kosmopolit, ein weit gereister Mann, in dessen Gedichten unterschiedlichste kulturelle Horizonte verschmelzen.
Geboren und aufgewachsen als Kind italienischer Emigranten in Alexandrien, Ägypten, ging er als junger Mann zunächst nach Italien, dann nach Paris, wo er den Kontakt zu den maßgeblichen Künstlern seiner Zeit suchte. Später ließ er sich in Rom nieder, bis er 1936 auf einen Lehrstuhl an die Universität von Saõ Paolo in Brasilien berufen wurde. Zu Beginn der vierziger Jahre kehrte er nach Rom zurück und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung zeitgenössische italienische Literatur.

In seinem Gedicht Wanderer verknüpft Ungaretti die existentielle Heimatlosigkeit des Vagabunden mit der Utopie des unschuldigen Landes und fügt diese beiden Topoi zu einem Sinnbild des 20. Jahrhunderts zusammen. Über alle Gräben – und Gräber – hinweg ist und bleibt der Mensch ein Suchender. Jenes sagenhafte Land, das, um mit den Worten Ernst Blochs zu sprechen, jedem in die Kindheit schien, in dem aber noch niemals jemand war, wirkt als geheime Kraftquelle des Lebens und der Literatur ungebrochen fort.

Wanderer

An keinem
Ort
der Erde
kann ich
heimisch werden

In jeder
neuen
Gegend
sehn’ ich mich
fort,
denn
ich kannte
sie schon
von
früher

Und gehe stets
als Fremder

Geboren
zurückgekehrt aus abgelebten
Zeiten

Eine einzige
Minute ursprünglichen
Lebens nur spüren

 

 

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42. Lieblingsbuch: Ethels neuer Hund ist tot. Die Wahrheit ist, kein Hund kann die Anstrengung aushalten, mit Ethel zu leben.

 

Virginia Woolf. Die Wellen

S. Fischer Taschenbuch 12.- €

 

"Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Meer und Himmel ließen sich nicht unterscheiden, nur daß das Meer leicht gefältelt war wie ein zerknittertes Tuch. Allmählich, während der Himmel weiß wurde, erstreckte sich eine dunkle Linie am Horizont, die das Meer vom Himmel trennte und das graue Tuch wurde von dicken Streifen durchzogen, die sich, einer nach dem anderen, unter der Oberfläche bewegten, einander folgend, einander jagend, immerzu."

 

Die Wellen, Virginia Woolfs sechster Roman, wurde 1931 veröffentlicht. Es ist das originellste und tiefgründigste all ihrer Bücher, vielleicht ein Meisterwerk, ein »Klassiker« (E. M. Forster). »Die Wellen«, schrieb Stephen Spender, »das mir als größtes Werk Virginia Woolfs erscheint, ist einer dieser Romane unserer Zeit, der seit dem Tag, an dem er veröffentlicht wurde - vor beinahe zwanzig Jahren -, eine immer größere Wirkung entfaltet hat.«

In den ›Wellen‹ sind sechs Personen versammelt. Ihre Stimmen evozieren die Intensität der Kindheit, die Zuversicht und sinnliche Erfahrung der Jugend, das Losgelöstsein des mittleren Alters. Sinneswahrnehmungen, Emotionen, Reflexionen kommen und gehen im Voranschreiten des Erzählstroms wie die Jahreszeiten, wie die Wellen, die Sonne.
Virginia Woolfs farbig instrumentierte Beschwörung der Entwicklung von Bernard, Louis, Neville, Rhoda, Jinny und Susan - sechs ganz unterschiedliche Stimmen -, ihre kunstvolle Darstellung der Ebbe und Flut ihrer sinnlichen und intellektuellen Erfahrungen stellt eines der radikalsten Experimente der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts dar. ›Die Wellen‹ ist die höchst eigenwillige Antwort der Moderne auf das traditionsreiche Genre des Bildungsromans.

 

 

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust.
Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

 

"Sowie sie sich der Küste näherten, hob sich ein Streifen nach dem anderen, schob sich hoch, brach und wischte einen dünnen Schleier weißen Wassers über den Sand. Die Welle hielt inne und zog sich dann wieder zurück, seufzend wie ein Schlafender, dessen Atem unbewußt kommt und geht. Allmählich wurde
der dunkle Streif am Horizont klar, als hätte sich die Ablagerung in einer alten Weinflasche gesetzt und das Glas erschiene wieder grün. Dahinter klärte sich auch der Himmel, als hätte sich dort die weiße Ablagerung gesetzt, oder als höbe der Arm einer Frau, die hinterm Horizont ruhte, eine Lampe in die Höhe, und nun breiteten sich flache Streifen von Weiß, Grün und Gelb über den Himmel aus wie die Finger eines Fächers. Dann hob sie ihre Lampe höher, und die Luft schien auszufasern und sich von der grünen Oberfläche zu lösen, sie flackerte und flammte in roten und gelben Fasern wie rauchendes Feuer, das aus einem Freudenfeuer aufprasselt. Allmählich verschmolzen die Fasern des brennenden Freudenfeuers zu einem einzigen Dunst, einem weißen Glast, der das Gewicht des wollnen grauen Himmels emporhob und in eine Million hellblauer Atome verwandelte. Die Meeresoberfläche wurde langsam transparent und lag gekräuselt und glitzernd da, bis die dunklen Striche nahezu weggewischt waren. Langsam hob der Arm, der die Lampe hielt, sie höher und dann noch höher, bis eine breite Flamme sichtbar wurde; ein Feuerbogen loderte am Rande des Horizontes, und rund um ihn her lohte das Meer golden."

 

Gefangen in diesem Rhythmus, in den sich das Leben der Figuren unbehaust und hilflos gegenüber allen Erschütterungen einfügt, gibt es nur den einen Trost: Es gibt immer etwas, das man als nächstes tun muss. Dienstag folgt auf Montag; Mittwoch auf Dienstag, wie Bernard mehrmals in dem langen Monolog am Ende des Romans den Sinn seines Lebens umkreist. Es geht weiter, stellt er fest, aber warum? Die Sprache dieses Buches zu erleben, den stream of consciousness, Bewusstseinsstrom ist ein Ereignis. Dieser Chor der Stimmen ist der eigentliche Inhalt des Romans.

 

Ein unglaubliches Buch! Was für eine Schrifststellerin!

 

Neben ihren Tagebüchern und Briefen hat Virginia Woolf einige Memoiren hinterlassen, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Den ersten dieser Texte schrieb sie mit 26 Jahren, lange bevor sie als Schriftstellerin hervortrat; an dem letzten arbeitete sie bis wenige Monate vor ihrem Tod. Mit fast analytischer Genauigkeit hält sie den Zauber, aber auch die Schrecken und Abgründe ihrer Kindheit fest. Sie berichtet von der allmählichen Befreiung aus der Enge ihres viktorianisch-prüden Elternhauses und von den Anfängen der legendären »Bloomsbury Group«. Nicht ohne Witz und Ironie schildert sie diesen unkonventionellen Freundeskreis aus Künstlern und Schriftstellern, der ihr Denken und Schreiben entscheidend mit beeinflusst hat.

 

Virginia Woolf. Augenblicke des Daseins

S. Fischer Verlag

 

 

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41. Lieblingsbuch: …wie soll ich mich wiedererkennen, da ich mir nie begegnet bin … (aus Der Namenlose)

 

Samuel Beckett. Erzählungen und Texte um Nichts

978-3518010822 Bibliothek Suhrkamp

 

Erzählungen und Texte um Nichts (frz. Nouvelles et Textes pour rien) ist ein Sammelband mit Kurzgeschichten. Dieser umfasst 13 Kurzgeschichten, die meist nur in Fragmenten vorhanden sind und meist eine Länge von nur drei oder vier Seiten haben. Sie entstammen den Jahren 1947 bis 1952, einer der produktivsten Phasen Becketts, in der dieser Warten auf Godot, Molloy, Malone stirbt und Der Namenlose (alles natürlich unbedingt lesen, alles) veröffentlichte.

Gemeinsam führen sie ein in die typische Gestaltenwelt und die stetig sich wiederholende Problematik Samuel Becketts. Sie machen keine Zugeständnisse, aber sie sind leichter zugänglich als die großen epischen Dichtungen, zu denen sie sich verhalten wie ein Bruchstück zum Ganzen, ein Bruchstück, aus dem man das Ganze rekonstruieren könnte.

 

"Wohin ginge ich, wenn ich gehen könnte, was wäre ich, wenn ich sein könnte, was sagte ich, wenn ich eine Stimme hätte, wer spricht so und nennt sich ich? Einfach antworten, jemand möge einfach antworten. Es ist derselbe Unbekannte wie immer, der einzige, für den ich existiere, in der Höhle meiner Inexistenz, seiner, unserer, das ist eine einfache Antwort. Denkend wird er mich nicht finden, aber was kann er machen, lebendig und ratlos, ja, lebendig, was er auch sagen mag. Mich vergessen, mich ignorieren, ja, es wäre das Klügste, er kennt sich aus."

 

Eine breite Rezeption erfuhr das Werk allerdings durch ein Zitat, das am Anfang des dritten Textes vorkommt: Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht., das von Michel Foucault an zentraler Stelle in seinem kanonischen Text WAS IST EIN AUTOR aufgegriffen wurde.

 

Samuel Beckett wurde am 13.04.1906 in Dublin geboren und starb am 22.12.1989 in Paris. Er schrieb in englischer und französischer Sprache. Er hat zahlreiche Romane, Erzählungen, Gedichte, Drehbücher und Theaterstücke verfasst, u.a. "Warten auf Godot" (1952) und "Endspiel" (1957). Charakteristisch sind sowohl der Rückzug der Protagonisten ins Innere, groteske Elemente und symbolische Verschlüsselung. 1969 erhielt Beckett den Nobelpreis für Literatur.

Das bekannteste Werk von Samuel Beckett ist „Warten auf Godot“. (Zwei Männer warten auf einen dritten, der niemals kommt, echt absurd). Es erlebte am 5. Januar 1953 seine Uraufführung in Paris. Im deutschsprachigen Raum wurde das Werk erstmals am 8. September 1953 im Schlossparktheater Berlin aufgeführt.

Bereits seit 1937 lebte Beckett in Frankreich. Nachdem er in den ersten Jahren britischer Staatsbürger war, wurde er mit der Unabhängigkeit von Irland im Jahr 1921 irischer Staatsbürger. Beckett verfasste seine ersten Werke in der englischen Sprache. In seiner fruchtbarsten Phase schrieb er seine Texte in Französisch. In den folgenden Jahren wechselte er zwischen beiden Sprachen. Häufig übernahm er auch die Übersetzung seiner Texte selbst.

 

ich bin dieser streifen aus sand der sich hinzieht
zwischen dem geröll und der düne
der sommerregen regnet auf mein leben
auf mich mein leben das mich flieht verfolgt
und enden wird am tag seines beginns

teurer moment ich seh dich
in diesem nebelschleier der zurückweicht
wo ich nicht mehr treten muß diese langen fließenden schwellen
und leben werde so lange wie eine tür
sich öffnet und wieder schließt

 

(Gedichte, übersetzt von Mirko Bonné)

 

"Beckett ist kein Hermetiker, nichts bei ihm ist dunkel, es findet sich bei ihm kein Symbol, die Metapher ist ihm undenkbar. Seine Welt ist so gegenständlich, wie sein prototypischer Held gegenwärtig ist, den er dem Leser zur Identifikation anbietet. Seine Sprache nennt auch dort, wo sie stammelt oder sich aufzulösen scheint, das Ding noch beim Namen, kein Wort steht für etwas anderes, als was es zu bezeichnen hat. Im Gegensatz zu Joyce bleibt Beckett deskriptiv. Was er in seinem Essay über Joyce schreibt -- "Hier ist die Form der Inhalt, der Inhalt ist die Form" und "Er schreibt nicht über etwas; sein Schreiben ist dieses Etwas selbst" -, gilt für ihn selbst nicht.Sein Thema ist das Erlöschen und Ersterben. Besessen von diesem Thema, behandelt er es in immer sparsamer werdender Variation." schrieb Wolfgang Hildesheimer.

 

Entscheidend ist, dass Beckett den Leser nicht vor eine vollendete Bewertung der Wirklichkeit stellt, sondern ihm die Entscheidung überlässt. Er zeigt ihm die Gefahren des Schwindens und Fallens in der entzauberten Welt; aber die kleinen Lichtblicke auf das Sein, die das Werk beinahe unmerklich bietet, und sei es das Bild des Kindes an der Hand des Vaters als Erinnerung an Becketts eigene Kindheit in „Aufs Schlimmste zu“, schränken die Universalität des Nichts als alleiniges Prinzip ein. Auch Beckett selbst hat nicht endgültig Stellung bezogen, das „Vielleicht“ fängt sein Werk immer vor dem völligen Abgleiten in die Absurdität auf.

 

gut gut es ist ein land
wo das vergessen dort lastet das vergessen
leicht auf den namenlosen welten
da schweigt man um den kopf herum der kopf ist stumm
und man weiß nein man weiß nichts
der gesang der toten münder stirbt
auf dem strand er war auf reisen
es gibt nichts zu beweinen

meine einsamkeit ich kenn sie geh ich kenn sie kaum
ich hab zeit das ist was ich mir sage ich hab zeit
doch was für zeit hungrige knochen die zeit des hunds
des unaufhörlich verblassenden himmels meines körnchens himmel
des strahls der zittrig schimmernd aufsteigt
der mikronen von finsteren jahren

sie wollen daß ich von A nach B gehe ich kann nicht
ich kann nicht weg ich bin in einem land ganz ohne spuren
ja ja das ist eine feine sache die sie da haben eine ganz feine sache
was ist das stellen sie mir keine fragen mehr
spirale staub von momenten was ist das dasselbe
die ruhe die liebe der haß die ruhe die ruhe

 

(übersetzt von Mirko Bonné)

 

 

Falls Sie noch eine Ausgabe seiner Gedichte erhalten, greifen Sie zu. Es ist die beste Einführung in sein Werk.

Was motiviert Samuel Beckett und Alberto Giacometti im Mai 1961 zu ihrer einzigartigen Zusammenarbeit am Büh-nenbild des Dramas Warten auf Godot? Wenngleich die beiden Künstler sich erst im Herbst 1937 begegnen und eine fast dreißig Jahre währende Freundschaft miteinander pflegen, teilen sie bereits ab 1930 in ihrem literarischen und skulpturalen Werk zwei große Themen: “Entzweiung” und “Prozeß”.
Unter dem Einfluß von Henri Bergson gelangen sie zur Überzeugung, es sei unmöglich, mit dem Schöpfungsobjekt eins zu werden. Eine literarische oder skulpturale Figur entzieht sich dem Künstler während des Darstellungsprozesses; sie löst sich in ihrem Raum-Zeit-Kontinuum auf. Lediglich eine Annäherung an das Objekt wird möglich, nicht die Identität mit ihm. Zum einzig darstellbaren Sujet im Werk beider Künstler wird ihre Unfähigkeit, das totale Objekt ihrer Begierde in seinem werdenden Vergehen zu erfassen. Dieses vollkommene Objekt wird durch eine Baum-Frau verkörpert. Die ästhetische Affinität von Beckett und Giacometti bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Eros und Erkenntnistrieb.

Foto: Giacometti und Beckett

 

 

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INTERMEZZO

JÜRGEN HABERMAS. Warum nicht lesen?

Wir sind von Haus aus eine geschwätzig plappernde Spezies-kommunikativ vergesellschaftete Subjekte, die ihr Leben nur in Netzwerken erhalten, die von Sprachgeräuschen vibrieren. Das Bewußtsein der einzelnen Person bildet sich erst im Medium eines sprachlich artikulierten Geistes aus, den niemand für sich allein in Besitz nehmen kann; dieser besteht nämlich aus symbolisch verkörperten und daher intersubjektiv geteilten Vorstellungen und Praktiken. gleichzeitig zehrt das Leben dieses objektiven Geistes seinerseits von den kommunikativen Geräuschen, die die Subjekte erzeugen, wenn sie mehr oder minder intelligent verarbeiten, was sie erfahren und einander zu sagen haben. In den Anfängen war das nur face to face möglich. Abgesehen von stummen Zeichen hat sich an dieser Nahdistanz einer Verständigung unter anwesenden, die Sprecher und Hörer - bis auf Rufweite - voneinander einnehmen könnten, seit dem ersten Auftritt von homo sapiens mehrere hunderttausend Jahre nichts geändert...

Die schönsten Gedichte unterbrechen das Gewohnte, um aus dem längst Vertrauten ein Detail, z.B. das Flirren eines von der mittäglichen Sonne getränkten Luftzugs, hervorzuheben. die Unterbrechung selbst ist das Außeralltägliche. Das Detail, der flirrende Luftzug, ist jedem bekannt, aber der Akt der sprachlichen Artikulation bringt den flüchtigen Augenblick erst zum Stehen - und dadurch zu Bewußtsein...

Die Literatur entfaltet ihre Kraft zur Konkretisierung des Besonderen und historisch Einmaligen aufgrund einer Vertiefung der Perspektive der Beteiligten selbst.Sie gräbt gewissermaßen die hinter ihrem Rücken verborgenen kulturellen und biographischen Selbstverständlichkeiten aus, um sie zu thematisieren und als solche darzustellen. allerdings lassen wir mit diesem individualisierenden Aspekt der Versprachlichung einen anderen, und zwar gegenläufigen Aspekt außer Acht. Die Literatur stellt nämlich im Individuellen zugleich das Allgemein-Menschliche und im Unverwechselbaren das Typische dar. Und zwar umso deutlicher, je tiefer sie sich auf jene Selbsterfahrungen des Individuums einlässt, die sich in den Praktiken ihrer Lebenswelt bloß reflektieren...

 

Jürgen Habermas. Auszug aus: Warum nicht lesen? in

Warum Lesen - Mindestens 24 Gründe. Herausgegeben & Nachbemerkung von Katharina Raabe und Frank Wegner

Bibliothek Suhrkamp 2020, 22.- €

  

 

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40. Lieblingsbuch: Sicher eines der schönsten Bücher der letzten Jahre. Schmeißt alle Neuerscheinungen aufs Buchtransportvernichtungsband von Herrn Denis Scheck und lest:

 

Kaouther Adimi. Was uns kostbar ist

Roman

Aus dem Französischen von Hilde Fieguth

Hardcover, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-85787-485-7
Seiten 224, 2018
€ 22.00

 

Kaouther Adimi, geboren 1986 in Algier, lebt und arbeitet seit 2009 in Paris. Sie veröffentlichte bisher vier Bücher, die zahlreiche Preise erhielten. Nach Des ballerines de papicha und Des pierres dans ma poche (dt. Steine in meiner Hand, Lenos 2017) war ihr dritter Roman Nos richesses (dt. Was uns kostbar ist, Lenos 2018) für den Prix Goncourt 2017 nominiert und wurde mit dem Prix Renaudot des lycéens und dem Prix du Style ausgezeichnet.

 

Was der ahnungslose Student Ryad bei seinem Ferienjob in Algier vorfindet, ist ein geschichtsträchtiger, einzigartiger Ort: In der Buchhandlung, die er ausräumen soll, wirkte einst Edmond Charlot (1915–2004), der hier 1936 mit Les Vraies Richesses ein blühendes Zentrum der Bücher gründete, Bibliothek, Verlag und Treffpunkt in einem.
Charlot entdeckte Albert Camus, Jules Roy und weitere literarische Grössen des 20. Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs galt er als »der Verleger des freien Frankreichs«, namhafte Autorinnen und Autoren gingen bei ihm ein und aus. Trotz politischem Druck, einer Inhaftierung unter dem Vichy-Regime und kriegsbedingtem Papiermangel engagierte er sich unermüdlich für die Literatur. Nach Kriegsende wirkte er in Paris, wo er bald in finanzielle Not geriet und seine Autoren an die grossen Verlage verlor. Doch den Buchladen in Algier gibt es bis heute.

Der jungen algerischen Autorin gelingt mit ihrem preisgekrönten Roman eine Hommage an die Literatur und einen herausragenden Förderer. Lebensnah und einfühlsam skizziert sie in einem fiktiven Tagebuch Edmond Charlots bewegtes Leben. Sie erzählt zudem von einem politisch und kulturell engverwobenen und gleichzeitig zerrissenen Mittelmeerraum in einer turbulenten Zeit. Und sie schlägt den Bogen in die Gegenwart, wo Charlots Welt der Literatur neu zu entdecken ist.

Adimi erzählt die Geschichte eines Verlegers, der sich politischen Opportunitäten, dem Zugriff der Zensur und den Zwängen der Marktwirtschaft konsequent entzog.

 

Unbedingt lesen, auch das Vorgängerbuch STEINE IN MEINER HAND, ebenso bei Lenos erschienen. Aufgewachsen in Algier, baut sich die junge Erzählerin in Paris ein eigenständiges Leben auf. Als anlässlich der Hochzeit ihrer Schwester ein Besuch in der Heimat bevorsteht, wird sie von ihrer Vergangenheit, den Erwartungen der Familie und ihren eigenen Ängsten und Fragen an die Zukunft eingeholt. Klug und bisweilen schwankend zwischen Nostalgie und frechem Witz durchleuchtet sie ihre traditionelle Erziehung ebenso wie ihre Freuden und Leiden in der europäischen Großstadt. Vor allem aber macht ihr das halbfreiwillige Singledasein als Dreißigjährige zu schaffen. In ihrem zweiten Roman beobachtet Kaouther Adimi den Balanceakt einer jungen Frau, die ihre Identität zwischen unterschiedlichen Welten und Lebensentwürfen sucht.

 

Ihre großen Literatur-Vorbilder sind Virginia Woolf und Samuel Beckett. Wir werden noch von ihnen hören. Der Titel „Des pierres dans ma poche“ wurde in Anlehnung an Virginia Woolfs Vita gewählt; diese hatte sich mit Steinen in ihrer Manteltasche als Ballast im Fluss ertränkt. Parallelen auch im Kampf einer Frau, die sich in einer Männergesellschaft und aus deren ökonomischer Abhängigkeit befreien wollte.

 

 

39. Lieblingsbuch: "Selten habt ihr mich verstanden, Selten auch verstand ich euch, Nur wenn wir im Kot uns fanden, So verstanden wir uns gleich."

 

 

Heinrich Heine. Das Buch der Lieder (Erstausgabe 1827)

Hoffmann & Campe 978-3455404968

 

Heinrich Heine, geboren am 13. Dezember 1797 als Harry Heine in Düsseldorf, Herzogtum Berg; gestorben am 17. Februar 1856 auf seiner Matratzengruft in seinem Pariser Exil. Und ich steh jedes Jahr einmal an seinem Grab auf dem Friedhof von Montmartre. Das „Buch der Lieder“ ist seinem Charakter nach ein Buch der Liebe, genauer: der unglücklichen Liebe, die Heine in hundertfacher Variation besungen hat.

 

 

 

Abenddämmerung.

 

Am blassen Meeresstrande
Saß ich gedankenbekümmert und einsam.
Die Sonne neigte sich tiefer, und warf
Glührothe Streifen auf das Wasser,

Und die weißen, weiten Wellen,

Von der Fluth gedrängt,
Schäumten und rauschten näher und näher –
Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen,
Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen,

Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen –

Mir war als hört’ ich verscholl’ne Sagen,
Uralte, liebliche Mährchen,
Die ich einst, als Knabe,
Von Nachbarskindern vernahm,

Wenn wir am Sommerabend,

Auf den Treppensteinen der Hausthür,
Zum stillen Erzählen niederkauerten,
Mit kleinen, horchenden Herzen

Und neugierklugen Augen; –

Während die großen Mädchen,

Neben duftenden Blumentöpfen,
Gegenüber am Fenster saßen,
Rosengesichter,
Lächelnd und mondbeglänzt.

 

(Aus dem wunderbaren Zyklus: Die Nordsee. 1825–1826.)

 

„Einige Freunde dringen drauf, daß ich eine auserlesene Gedichtesammlung, chronologisch geordnet und streng gewählt, herausgeben soll, und glauben, daß sie eben so populär wie dieBürgersche Göthesche, Ulandsche u. s. w. werden wird. Varnhagen giebt mir in dieser Hinsicht manche Regeln. Ich würde einen Theil meiner ersten Gedichte aufnehmen […] ich wollte für dieses Buch keinen Schilling verlangen, die Wohlfeilheit und die andern Erfordernisse des Popularwerdens wären meine einzigen Rücksichten, es wär' meine Freude, Maurern und Dümmlern zu zeigen, daß ich mir doch zu helfen weiß, und dieses Buch würde mein Hauptbuch seyn und ein psychologisches Bild von mir geben, – die trüb-ernsten Jugendgedichte, das „Intermezzo“ mit der „Heimkehr“ verbunden, reine blühende Gedichte, z. B. die aus der Harzreise, und einige neue, und zum Schluß die sämmtlichen colossalen Epigramme."

( In einem Brief vom 16. November 1826 an Friedrich Merckel)

 

Heine hatte zeitlebens – auch schon mit dem Buch der Lieder – Probleme mit der Zensur. Hier jedoch ausnahmsweise noch weniger aus politischen Motiven als aufgrund der Verwendung von Wörtern und Formulierungen, die als obszön angesehen wurden. So wurde beispielsweise aus einem Gedichtanfang, der in der ersten Auflage noch

Auf deinen schneeweißen Busen
Hab’ ich mein Haupt gelegt

hieß, später

An deine schneeweiße Schulter
Hab’ ich mein Haupt gelehnt

Ebenso wurden die Gedichte wegen zu vulgärer Sprache kritisiert.

 

„Die Aufnahme der Körperlichkeit ins lyrische Inventar löste in Deutschland eine Flut von Schmähungen aus, die bezeichnenderweise stets vom Modell des Erlebnisgedichts her argumentieren und die Texte als biographische Dokumente auffassten. Dabei ist ihr starker politischer Akzent nicht zu übersehen: Die Liebe stand im reaktionären Deutschland wie die Politik im Zeichen von Entsagung und Unterdrückung.“ (Bernd Kortländer, Kindlers Literaturlexikon, 2009).

 

„Das Buch der Lieder ist ein harter Brocken“, gestand Robert Gernhardt, der erst spät zum Heine-Anhänger wurde. Weil, was den einen zum Vorwurf gereichte – Heine habe der Sprache so sehr das Mieder gelockert, dass jeder Kommis an ihren Brüsten herumfingern könne (Karl Kraus), das erschien den anderen als längst überfällig. „Wir von der Neuen Frankfurter Schule haben ihr dann auch noch das Höschen geweitet. Man muß sie schon ein bißchen frei machen, damit man mit ihr spielen kann“, so Gernhardt im Interview.

 

In Paris (1843 bis 1844) traf Heine auch auf den jungen Karl Marx und dessen Kreis bzw. dessen engste Anhängerschaft. Der Begegnung mit Marx hatte der Schriftsteller einiges an Kraft und Stärke seiner politischen Dichtkunst zu verdanken. Marx und seine Freunde mussten Paris im Jahr 1944 verlassen. Es war für Heine nur eine recht kurze, aber durchaus entscheidende Begegnung.

 

Heine lohnt sich. Lesen Sie unbedingt auch seine REISEBILDER und DEUTSCHLAND EIN WINTERMÄRCHEN und die FRANZÖSISCHEN ZUSTÄNDE.

 

 

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38. Lieblingsbuch: Bleiben wir am besten in dieser Stadt: „Die wichtigste Gabe eines guten Autors ist ein eingebauter, stoßfester Mistdetektor. Das ist der Radar des Autors, und alle großen Schriftsteller haben ihn besessen.“ sagt

 

Ernest Hemingway. Paris. Ein Fest fürs Leben

Rowohlt Taschenbuch 11.- €

A Moveable Feast - Die Urfassung

Als Hemingway 1956 nach Paris zurückkehrte, ließ er sich aus dem Keller des Hotels Ritz seine alten Koffer bringen. Sie enthielten Tagebücher und Aufzeichnungen aus den Zwanzigern, seiner Zeit als Auslandskorrespondent.
Hemingway nahm sich diese frühen Notizen vor und formte daraus den Roman seiner Pariser Jahre. Für ihn war es eine glückliche, prägende Zeit, als er an der Seine angelte, bescheidene Gewinne beim Pferderennen in Champagner umsetzte, mit Gertrude Stein, James Joyce, Ezra Pound und F. Scott Fitzgerald zusammentraf.

 

Ein Mädchen kam ins Café und setzte sich allein an einen Tisch beim Fenster. Sie war sehr hübsch, ihr Gesicht so frisch wie eine neu geprägte Münze, falls man Münzen in weiches Fleisch auf von Regen erfrischte Haut prägt, und ihr Haar war schwarz wie ein Krähenflügel und an der Wange entlang schräg geschnitten.
Ich sah sie an, sie brachte mich durcheinander und machte mich ganz aufgeregt. Ich wünschte, ich könnte sie in der Geschichte unterbringen, oder sonst irgendwo, aber sie hatte sich so gesetzt, dass sie die Straße und den Eingang beobachten konnte, und ich wusste, sie wartete auf jemanden. Also schrieb ich weiter.
Die Geschichte schrieb sich selbst, und ich hatte große Schwierigkeiten, mit ihr mitzuhalten. Ich bestellte noch einen Rum St. James und beobachtete das Mädchen, wenn ich einmal aufblickte oder wenn ich den Bleistift mit dem Spitzer anspitzte und die aufgerollten Späne in den Unterteller unter meinem Glas rieselten.
Ich habe dich gesehen, Schöne, und jetzt gehörst Du mir, auf wen auch immer du wartest, selbst wenn ich dich niemals wiedersehe, dachte ich. Du gehörst mir, und ganz Paris gehört mir, und ich gehöre diesem Notizbuch und diesem Bleistift.

Hemingways letztes Buch führt zu seinen Anfängen zurück: Es ist eine Feier des Lebens und des Schreibens, ein Erinnerungsbuch voll jugendlicher Kraft und melancholischem Humor, das nun, neu übersetzt, erstmals in der vom Autor hinterlassenen Fassung vorliegt.

 

(...) Paris war eine sehr alte Stadt, und wir waren jung, und nichts war dort einfach, nicht einmal die Armut, nicht einmal unverhofftes Geld oder das Mondlicht oder Recht oder Unrecht oder das Atmen eines Menschen, der neben dir im Mondlicht lag.

 

Es war wunderbar die vielen Treppen in dem Bewusstsein hinunterzusteigen, dass ich mit der Arbeit gut vorangekommen war. Ich arbeitete immer, bis ich etwas geschafft hatte, und hörte immer auf, wenn ich wusste, wie es weitergehen würde. Auf diese Weise konnte ich sicher sein, am nächsten Tag weiterzukommen. Aber manchmal, wenn ich eine neue Geschichte anfing und nicht in Schwung kam, saß ich vor dem Kamin und quetschte die Schalen der kleinen Orangen über der Flamme aus und sah ihrem blauen Funkenstieben zu. Oder ich stand auf und schaute über die Dächer von Paris und dachte: ‚Keine Sorge. Du hast immer geschrieben und wirst auch jetzt schreiben. Du brauchst nur einen einzigen wahren Satz zu schreiben. Schreib den wahrsten Satz, den du kennst.‘
Damals war es einfach, denn es gab immer einen wahren Satz, den du kanntest oder gelesen oder von jemandem gehört hattest.

Hemingway mit Sylvia Beach vor SHAKESPEARE & COMPANY

 

 

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37. Lieblingsbuch: Seit dieser Zeit (seit ich Zazie das erste mal gelesen habe) weiß ich, was ein onomatopoetischer Charakter ist, nämlich der Versuch lautmalerisch das Gemeinte nachzuahmen... Immerhin.

 

Raymond Queneau. Zazie in der Metro

Suhrkamp 2019, 240 Seiten, 22 Euro.

 

Zazie in der Metro (Zazie dans le métro) ist ein Roman des französischen Schriftstellers Raymond Queneau. Er wurde erstmals 1959 bei Éditions Gallimard veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung von Eugen Helmlé erschien 1960 bei Suhrkamp 2019 brachte der Verlag eine Neuübersetzung von Frank Heibert heraus.

 

Die kleine Göre Zazie aus der französischen Provinz trifft am Gare d'Austerlitz in Paris ein. Ihre Mutter will am Wochenende ein ungestörtes Liebesabenteuer verleben und vertraut ihre altkluge Tochter der Obhut ihres Onkels Gabriel an. Zazies sehnlichster Wunsch ist eine Fahrt mit der Pariser Metro; umso größer ist die Enttäuschung, als diese wegen eines Streiks außer Betrieb ist. So lernt Zazie erst einmal ihre neue Umgebung kennen: den tuntigen Onkel Gabriel, der angeblich als Nachtwächter arbeitet, dessen sanfte Frau Marceline, den Kneipier Turandot, seine Kellnerin Mado Ptits-pieds, der vom Taxifahrer Charles der Hof gemacht wird, den Schuster Gridoux sowie Turandots Papagei Laverdure, der alles und jeden mit dem Satz „Du quasselst, du quasselst, das ist alles, was du kannst“ kommentiert. Der Lieblingssausspruch der begeistert fluchenden Zazie ist dagegen „am Arsch“.

Gabriel und Charles wollen Zazie Paris zeigen und führen sie auf den Eiffelturm. Dort tanzt Gabriel vor aller Augen als „Gabrielle“ den sterbenden Schwan. Die Touristen sind begeistert und brechen sogleich nach Gibraltar auf, ihrer nächsten Reiseetappe. Die verbliebene Gruppe begibt sich zum Place Pigalle, um den Abend mit einem Teller Zwiebelsuppe ausklingen zu lassen. Bald ist der Streik beendet, die Metro fährt wieder, doch Zazie verschläft die Fahrt wie schon den Großteil des vergangenen Abends. Als ihre Mutter sie am Bahnhof abholt, weiß Zazie als Antwort auf die Frage, was sie das Wochenende über getan habe, nur zu sagen: „Ich bin älter geworden.“ Mit diesem Buch werden Sie sich keine Sekunde langweilen.

 

Die Verfilmung von Louis Malle aus dem Jahr 1960 kam in Deutschland unter dem Titel Zazie in die Kinos.

Das habe ich mir einmal mit ein paar Kumpels in der Buchhandlung angesehen. Den anderen hat's gefallen.

 

Der Übersetzer Frank Heibert sagt: Wir haben einen Stadtroman, wir haben eine Art von Roadmovie durch Paris mit genau all dem, was ein Roadmovie auszeichnet mit irgendwie absurden Begegnungen und Überraschungen und wo der Plot gelegentlich auch mal vergessen wird, und dann kommt was anderes, und irgendwann geht es dann wieder dahin zurück. Das ist das eine, die Paris-Atmosphäre. Dann natürlich diese originellen Figuren, die in jeder Großstadt vorkommen, aber nicht in jedem Roman darüber. Und dann natürlich der Humor, der in der Sprache liegt, also auch der Genuss, mit dem Queneau selbst zwischen einer ironischen Erzählerinstanz und den sehr direkt und manchmal auch ironischen, umständlich sprechenden Figuren wechselt. Das macht einfach Spaß für jeden, der an Sprache ein bisschen Spaß hat. Und diese Respektlosigkeit ist das, was das alles zusammenhält. Also Autoritäten überzeugen uns nur, wenn sie uns überzeugen. Wenn nicht, tritt man ihnen vor das Schienbein.

 

„Man fährt eine bestimmte Anzahl von Zeichen ein, die frei von jeder Bedeutung oder, wenn man es lieber will, frei von jeder Interpretation sind, und Regeln, die festlegen, welche (endlichen) Folgen dieser Zeichen als wahr in Betracht kommen.“

 

Das ist Queneau, der Humorist, der durch „Zazie in der Metro“ populär geworden ist, zuvor mit der in den Kellern von St. Germain des Prés von Juliette Greco gesungenen Ballade „Si tu t’imagines“. Queneau, der träumerische Poet, der Verfasser vieler Drehbücher, der jahrelang zu den Surrealisten gehörte und bis heute zur erlauchten Gesellschaft der „Pataphysiker“, die im Namen Alfred Jarrys, des Schöpfers von „Vater Ubu“, die „Wissenschaft der Ausnahmen pflegt, deren Mitglied auch Ionesco ist, den Queneaus „Stilübungen“ entscheidend beeinflußt haben. Sind nun diese Zitate etwa Beispiele der Parodie wissenschaftlicher Ausdrucksweisen durch einen Humoristen?

 

 

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36. Lieblingsbuch: And now, ladies and gentlemen: DER ZAUBERER

 

Thomas Mann. Der Zauberberg

Roman, Reprint der Ausgabe Berlin 1924 - 9783103481280, 1008 S. - 22.- €

 

Thomas Manns Ehefrau Katia verbrachte 1912 mehrere Monate in einem Lungensanatorium in Davos. Die Eindrücke, die Mann bei seinen Besuchen sammelte, hat er im »Zauberberg« verarbeitet. Bereits 1913 begann er mit der Arbeit an dem Roman, der 1924 veröffentlicht wurde. Die weltliterarische Bedeutung des Romans, den Mann als große symphonische Wort-Musik komponiert und als „Lebensbuch“ konzipiert hat, wurde schon bei seinem Erscheinen im November 1924 erkannt.

 

 

Ein junger Mensch, Hans Castorp, fährt im Sommer 1907 von seiner Heimatstadt Hamburg auf Erholungsreise in die Schweizer Alpen. Im Sanatorium Berghof in Davos besucht er seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen, der die Offizierslaufbahn einschlagen will. Ein kurzer Familienbesuch, weiter nichts. Aber dann zieht die Welt des Sanatoriums Hans Castorp in Bann, die verführerische Atmosphäre des Zauberbergs, die Aura von Krankheit und Frivolität, die "dort oben", im Luxusmilieu der Lungenkranken, alles durchdringt. Hans Castorp erlebt moralische, geistige und sinnliche Abenteuer, zu denen er nicht ohne Weiteres vorbestimmt schien. Und dann entdeckt Hofrat Behrens, der Chefarzt des Sanatoriums, auch noch eine feuchte Stelle in seiner Lunge. Jetzt beginnt er: der Totentanz des Abendlands.

 

„'Zum Leben‘, sagt einmal Hans Castorp zu Madame Chauchat, ‚zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg.‘“

 

Hans Castorp wird als Siebenschläfer bezeichnet, und man kann nicht umhin, dabei an das Buch des australischen Historikers Christopher Clark über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs zu denken, das den Titel "Die Schlafwandler" trägt. Thomas Mann hat diese Metapher schon vor neunzig Jahren verwendet, denn auch er selbst war ein Schlafwandler gewesen. Sein Held Hans Castorp, der "philosophischen Taugenichts", wie er einmal genannt wird, ist eine sehr deutsche Figur. Durch seine Perspektive wird alles - oder fast alles - erzählt, er bestimmt, beherrscht, "trägt" das Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Aber was sich aus seiner Geschichte lernen lässt, bleibt dem Leser überlassen. Sein Krankheitsbild ist das vieler Zeitgenossen; er selbst nennt es "Sympathie mit dem Tode", und er weiß in seinen besten Augenblicken, dass er diese Sympathie bekämpfen und überwinden muss. Aber zuletzt muss er in den Krieg, und ob er davonkommt, bleibt im Ungewissen... mit Schuberts "Am Brunnen vor dem Tore" auf den Lippen: "Lebewohl Hans Castorp ... Deine Geschichte ist aus. Zu Ende haben wir sie erzählt; sie war weder kurzweilig noch langweilig, es war eine hermetische Geschichte. Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel."

 

Ich habe immer wieder versucht, literarische Orte aufzusuchen - Romane, die mir gefallen haben (und dieser Roman ist sicher einer , den man nie vergisst, mit all diesen schillernden Figuren, der Sprache, die einem nicht loslässt, dem Stolz, diesen ungeheuren literarischen Berg bewältigt zu haben, aus dem man sich nicht zwischendurch abgeseilt hat - nach Davos wollte ich nie. Ich hätte auch diesen Autor nicht kennenlernen wollen, seine Bücher werden mir aber unvergesslich bleiben.

 

Auch "Doktor Faustus"... "denn es war nur ein Schmetterling und eine bunte Butterfliege, Hetaera Esmeralda, die hatt es mir angetan durch Berührung, die Milchhexe, und folgte ihr nach in den dämmernden Laubschatten, den ihre durchsichtige Nacktheit liebt, und wo ich sie haschte, die im Flug einem windgeführten Blütenblatt gleicht, haschte sie und koste mit ihr, ihrer Warnung zum Trotz, so war es geschehen. (Thomas Mann: Doktor Faustus, Stockholm 1947, S. 755), aber lassen wir das.

 

 

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35. Lieblingsbuch: "Auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir doch nur auf unserem Hintern."

 

Michel de Montaigne. Essais. Übersetzt von Hans Stilett

Gebundene Ausgabe: 576 Seiten, Verlag: Die Andere Bibliothek; ISBN-10: 3847700014, 79.- €
»Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden«, schrieb Friedrich Nietzsche über den französischen Philosophen Michel de Montaigne. Montaignes berühmte Essais liegen hier, übersetzt von Hans Stilett, vollständig vor.

Ob Stilett oder nicht Stilett, daran scheiden sich die Geister. Für mich persönlich sind die alten zerfledderten Diogenes Ausgaben mindestens genausoviel wert wie die Pracht-und Luxusausgaben, die man nur mit spitzen Fingern angreifen kann. Auch an den Übersetzungen der verschiedenen Auswahlen, die ich besitze, konnte ich bisher nichts Schlimmes finden. Stolpern gehört zum Handwerk und führt einem manchmal auf Pfade, von denen der Autor nicht das Geringste geahnt hat.

Michel de Montaigne wurde am 28. Februar 1533 auf Schloss Montaigne im Périgord geboren. Er stammte aus einer reichen Kaufmannsfamilie und genoss eine humanistische Erziehung. Nach dem Studium der Rechte fungierte er von 1557-1570 als Parlamentsrat, zog sich aber nach dem Tod seines Freundes La Boétie in das Turmzimmer seines Schlosses zurück, um zu schreiben. Er war ein großerer Wanderer. Die Entdeckung der Gedanken beim Gehen. Es folgten Reisen durch Italien, die Schweiz und Deutschland. Von 1582-1585 war er Bürgermeister von Bordeaux. Der große Gelehrte, der sich bewusst von der Schulphilosophie fernhielt, starb am 13. September 1592.

 

„Das Besondre unseres Menschseins besteht darin, dass wir zugleich des Lachens fähige und lächerliche Wesen sind“, fand Michel de Montaigne. Und Hans Stilett, einer seiner Übersetzer, fährt fort: „Montaigne ist kein Humorist – er hat Humor. Man kann ihn sich schwer als Zünder von Lachsalven vorstellen, doch ebensowenig als alles gutheißenden Menschheitsbeschmunzler. Sein ganz eigener Witz liegt in dem trocknen, einen Sachverhalt pointierenden Vorbringen, ob durch die Blume oder unverblümt.“

1998 erschien das Hauptwerk eines vorher ziemlich unbekannten Journalisten, eine großformatige Übersetzung sämtlicher Essays des französischen Philosophen und Politikers Michel de Montaigne. Es war die erste vollständige Gesamtübersetzung seit über 200 Jahren.

 

Zum Beispiel über seine Körpererfahrungen, seine Krankheiten, seine Genüsse, seine Freundschaften und körperliche Freuden: „Ich liebe das Leben und hege und pflege es so, wie Gott es uns zu geben gefallen hat“, heißt es einmal. Dabei war Montaigne auch Bürgermeister von Bordeaux und Freund des aufgeklärten Königs Henri IV., bewegte sich viel, nicht nur gedanklich: „Mein Geist rührt sich nicht, wenn die Beine ihn nicht bewegen“, schrieb er. Sein Geist rührte sich derart, dass er in den Essays, eine Gattung, die er überhaupt erst erfunden hat, gern auch einmal springt, bis er auf den Punkt kommt.

Und auch Stilett gelingt es, gekonnt von Punkt zu Punkt zu springen, und damit die Art von Montaignes Denken nachvollziehbar zu machen, die nicht immer geradlinig war, sondern auch assoziativ – und damit viel gedankenvoller und lebendiger. In einer gelungenen Mischung aus Biografie und Essay, zusammen mit Betrachtungen über Montaignes Stil und Anmerkungen über die Kunst, zu übersetzen, ist das Buch eine gelungene Einführung in das Werk eines der größten Denker und gleichzeitig eines der größten Stilisten aller Zeiten. „Kein Gegenstand ist so geringfügig, dass er nicht mit Fug und Recht in diese bunte Folge aufgenommen würde“, schreibt Montaigne, und Stilett macht klar, dass das ein großartiges Understatement ist, denn von diesen „geringfügigen“ Gegenständen kommt Montaigne auf den größten: die Kunst, zu leben.

Bild: Saint Michel de Montaigne, Pays de Bergerac

 

 

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34. Lieblingsbuch: Vier außergewöhnliche Dichter stehen im Mittelpunkt der vier Novellen: Jakob Michael Reinhold Lenz, Giacomo Casanova, Honoré de Balzac und Robert Walser.

 

Gert Hofmann. Gespräch über Balzacs Pferd. (Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Lenz nach Riga, Casanova und die Figurantin, Gespräch über Balzacs Pferd, Der Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen Verein)

 

Gert Hofmann wurde 1931 in Limbach / Sachsen geboren. Nach dem Studium in Leipzig und Freiburg lehrte er an mehreren Universitäten im Ausland Literaturwissenschaft, bis er sich als freier Autor in Erding bei München niederließ. Sein Werk wurde unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und zuletzt mit dem Literaturpreis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. Vier Wochen nach Abgabe des Manuskripts für seinen letzten Roman Die kleine Stechardin starb Gert Hofmann 1993 in Erding.

Lesen Sie vielleicht auch:

"Einmal sagte der Großvater: Die meisten Filme, die es gibt, habe ich nun gesehen. Ich erinnere mich an alle. Das war eigentlich das schönste in meinem Leben. Jetzt kann nicht mehr viel kommen."
Gert Hofmann: "Der Kinoerzähler" (1990), Hanser Verlag
Gert Hofmanns Roman ist vieles: ein schöner Führer durch die Stummfilmgeschichte, ein Provinz-Roman, ein Buch über einen entscheidenden Wendepunkt in der deutschen Geschichte und nicht zuletzt das liebevolle Porträt eines schwierigen, aber unbedingt sympathischen Charakters.

Lenz, Casanova, Balzac und Robert Walser - nicht irgendwelche Schriftsteller sind es, die Gert Hofmann sich als Protagonisten dieses wunderbaren Novellenbandes ausgesucht hat. vielmehr sind es solche, die - so verschieden sie auch voneinander sind - zu den Umgetriebenen, den ständig Gefährdeten zählen, ganz gleich, ob ihr Lebenslauf auch nach außen hin offensichtlich bewegt war (wie bei Casanova) oder nicht (wie bei Walser). Die Spuren eines Dichters sind seine Bücher, die doch nicht zu trennen sind von dem Leben, das er geführt hat und aus dem sie erwuchsen. Nicht Neugier, sondern Anteilnahme und Wahlverwandtschaft haben Hofmann bewogen, mit hilfe seiner Phantasie eine summe aus seinen Erfahrungen mit den Genannten und sich selbst zu ziehen. Diese Novellen beziehen ihre Spannung aus der UNERHÖRTEN BEGEBENHEIT ebenso wie aus dem KONFLIKT DES GESETZLICHEN UND DES UNGEBÄNDIGTEN. sie schildern Kulminations- und Wendepunkte außergewöhnlicher Existenzen, in denen das historisch Denkbare als das gegenwärtig Wahrhafige erscheint. Wo der Geschichtsschreiber sagt: So war es, da sagt der Schriftsteller: So könnte es gewesen sein und meint damit: So ist es.

 

 

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33. Lieblingsbuch:

Man muss schreiben, nicht für den Ruhm, sondern um
das aus dem Gehirn zu vertreiben, was es behindert.

sagt er,

 

Eugène Fromentin in "Dominique". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Ferdinand Hardekopf. Manesse Verlag, Zürich 1967. 414 S., leider nur noch antiquarisch

 

 

Eugène Fromentin (* 24. Oktober 1820 in La Rochelle; † 27. August 1876 in St. Maurice bei La Rochelle) war ein französischer Schriftsteller, Kunstkritiker und Maler. Sein Ansehen als Schriftsteller erlangte er mit dem psychologischen Roman Dominique (1862). Als Maler strebte er besonders danach, die Phänomene des Lichts und der Luft, welche sich im Wüstenklima zeigen, mit größter Feinheit der Pinselführung wiederzugeben, zugleich aber der Staffage eine charakteristische Bedeutung zu verleihen. Seine Spezialität war die Abstufung der Töne in Grau und Violett.

 

Fromentin läßt sein Buch (es ist sein einziger Roman) in der weichen melancholischen Landschaft seiner Heimat spielen, die Erzählung ist indirekt: Der Ich-Erzähler des Buchs hört sich die Liebes- und Lebensgeschichte seines Freundes Dominique an, der sich einst, noch unbewußt, in die schöne Kusine eines Freundes verliebt hat. Als er sie wiedersieht und weiß, daß er sie liebt, ist sie verheiratet; sie ist nicht glücklich; er geht in ihre Nähe; und sie nun, mitfühlend mit seiner Liebe, deren Ursache sie ist, beginnt, erst unbewußt auch, ihn zu lieben.

 

Balzac, bei einem ähnlichen Thema, in der "Lilie im Tal", schreibt nur einen Roman, Fromentin, ein Dilettant gegen ihn (ein Liebhaber eben, ein wahrer Liebhaber), das Buch seines Innern. So sehn Lieblingsbücher aus, die einer haben könnte.

 

Im wahren Leben hieß die Angebetete Anne Louise Germaine Necker, fast ausschließlich bekannt als Madame de Staël und war selbst eine deutsch-schweizerisch-französische Schriftstellerin und politisch hoch engagierte Frau in unruhigen Zeiten und zudem eine der bekanntesten Frauen ihrer Epoche.

 

 

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32. Lieblingsbuch: so viel hängt ab
von einer roten Schubkarre
glänzend von Regenwasser
bei den weißen Hühnern

William Carlos Williams. Die Worte, die Worte, die Worte
Gedichte, Bibliothek Suhrkamp 76, kartoniert 11,95 €

"Für den Dichter gibt es Ideen nur in Dingen." William Carlos Williams

Neben T.S. Eliot, Ezra Pound und Wallace Stevens zählt William Carlos Williams (1883-1963) heute zu den bedeutendsten Dichtern der modernen amerikanischen Literatur, dessen umfangreiches Werk nicht nur über 600 Gedichte, sondern auch Short Stories, Essays, Theaterstücke, mehrere Romane und ein Opernlibretto umfasst. Williams hat nicht nur für die amerikanische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse geliefert, bis heute haben seine Gedichte mehrere Generationen von Dichtern beeinflusst, zu seinen Bewunderern zählen unter anderen Allan Ginsberg und John Ashbery. Doch auch in Europa ist der unprätentiöse Poet, der Zeit seines Lebens in Rutherford, New Jersey, als Kinderarzt arbeitete, spätestens seit den 60er-Jahren zu einem wichtigen Orientierungspunkt für die Entwicklungen in der neueren Lyrik geworden. Die ersten deutschen Übersetzungen seiner Gedichte von Hans Magnus Enzensberger, die 1962 erschienen, sind inzwischen legendär.

 

Die vorliegende Sammlung ausgewählter Gedichte (zum Teil zweisprachig) umfasst die frühen, eher experimentellen und scheinbar spontanen Impressionen ebenso wie die Dinggedichte aus den 20er- und 30er-Jahren, in denen Williams das Gedicht als konkretes Objekt der Erfahrung zur Meisterschaft entwickelte. Williams lebenslange Liebe zur bildenden Kunst wird durch zahlreiche "picture-poems" bezeugt, in denen sich der Dichter von Bildern, wie zum Beispiel denen von Breughel inspirieren ließ. Zugleich lässt sich die sorgsame Entwicklung längerer, mehr episch angelegter Gedichte beobachten, die schließlich in dem unvollendet gebliebenen Langgedicht "Paterson" ihren fulminanten Höhepunkt fand.

 

William Carlos Williams: „Ich wollte nur sagen“ / „This Is Just To Say“

 

Ich habe

die Pflaumen

im Eisschrank

gegessen

 

die du sicher

aufheben

wolltest

fürs Frühstück

 

Vergib mir

sie waren köstlich

so süß

und so kalt

Aus dem Amerikanischen übertragen von Heinrich Detering.

***

I have eaten

the plums

that were in

the icebox

 

and which

you were probably

saving

for breakfast

 

Forgive me

they were delicious

so sweet

and so cold

 

Es ist eigentlich nur ein Zettel auf dem Küchentisch. Doch je länger man sich auf seine einfache Botschaft einlässt, desto weitläufiger werden die Zusammenhänge. Und am Ende sieht man eine fast perfekte Ehe vor sich.

 

Hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf einen ganz leisen Film. Er ist von Jim Jarmush und heißt "Paterson". Paterson lebt und arbeitet als Busfahrer in der Kleinstadt Paterson im US-Bundesstaat New Jersey. Jeden Tag geht er exakt derselben Routine nach: Er fährt mit seinem Bus immer dieselbe Route, beobachtet die Welt um ihn herum und hört Gesprächsfetzen seiner Passagiere. Danach isst er mit seiner Frau Laura zu Abend, geht mit seinem Hund spazieren und trinkt genau ein Bier in seiner Stammkneipe. Doch in jeder freien Minute schreibt Paterson Gedichte, die von seinen Erlebnissen inspiriert werden. Die Stadt, durch die er chauffiert, Paterson in New Jersey, wirkt heruntergekommen, hat aber ihren Platz auf der literarischen Landkarte der USA: Der Lyriker William Carlos Williams ist hier geboren und hat in den Fünfzigern einen großen Gedichtzyklus über sie verfasst, in einem wilden, aber zuweilen reportagehaft beobachtenden Stil.

 

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31. Lieblingsbuch. Wenn wir schon mal hier sind, bleiben wir noch eine Weile in dieser wunderbaren Stadt: Legen wir die Melancholie beiseite und gelangen schließlich zum eher handfesten Thema der Emigration, der Flucht vor den Nazis.

Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon

Der Erzähler ist ein deutscher Emigrant, der sich 1942 im Hafen von Lissabon befindet und ein Schiff betrachtet, das am nächsten Tag nach den USA ablegen wird. Soeben hat er sein letztes Geld im Kasino verspielt, in der Hoffnung, ausreichend Geld für eine Schiffspassage in die USA für sich und seine Frau zu erspielen – ein sinnloses Unterfangen letztlich, da beide keine Visa haben. Er trifft einen zweiten Emigranten, der sich ihm als Josef Schwarz vorstellt und ihm anbietet, ihm zwei Pässe mit Visa für die USA sowie zwei Schiffsfahrkarten zu überlassen, sofern der Erzähler ihm, Schwarz, diese eine Nacht Gehör schenke, so dass er ihm seine Lebensgeschichte erzählen könne. Der Erzähler willigt ein und er und Schwarz ziehen in dieser Nacht von einer Lissaboner Bar zur nächsten, durch Bordelle und Cafés, während Schwarz ununterbrochen die letzten Jahre seines Lebens Revue passieren lässt.

Das Buch zeigt auf bedrückende und beeindruckende Weise, wie Menschen ohne Schuld in ausweglose Lebenssituationen gedrängt wurden, sich in diesen bis zur Unkenntlichkeit angepasst haben und wie letztlich doch das Schicksal alle Hoffnung zu beenden vermag. Es zeigt letztlich auch, wie sich Remarque selbst mehr als 20 Jahre nach seiner eigenen Emigration nicht von diesen Themen lösen konnte und wie die Naziherrschaft ihre schreckliche Macht auch lange nach Ende des Krieges weiter auf jene Opfer ausübte, die ihr lebend entkommen waren.

In den ersten Wochen und Monaten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren es vor allem ihre politischen Gegner, die Deutschland aus Angst vor Repressalien und Verfolgung verließen. Erste Zufluchtsländer für viele der insgesamt rund 30.000 bis 40.000 politischen Emigranten waren Frankreich und die Tschechoslowakei. Paris und Prag wurden zunächst die wichtigsten Zentren des politischen Exils. Unter den Exilanten waren viele Künstler und Literaten, denen die Nationalsozialisten jede Grundlage des Schaffens in Deutschland entzogen hatten. Exil, das bedeutete Ausbürgerung, Entrechtung, Heimatlosigkeit - wie es Bertolt Brecht in seinem Gedicht "Über die Bezeichnung Emigranten" eindringlich auszudrücken vermochte. Exil bedeutete für jeden Emigranten gleichermaßen auch Orientierungslosigkeit, Existenzbedrohung, Geldmangel, Sprachprobleme und politische Unmündigkeit, verbunden mit Heimweh und der Sorge um das Wohlergehen daheimgebliebener Verwandter und Freunde.

Bertolt Brecht:

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:
Emigranten.
Das heißt doch Auswandrer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da
aufnahm

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Sunde täuscht uns nicht! Wir hören die
Schreie

Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen.

Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück wurden 1933 von den Na­zis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1939 lebte Re­marque in den USA und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin.

"Ich starrte auf das Schiff. Es lag ein Stück vom Quai ent­fernt, grell beleuchtet, im Tejo. Obschon ich seit einer Woche in Lissabon war, hatte ich mich noch immer nicht an das sorglose Licht dieser Stadt gewöhnt. In den Ländern, aus denen ich kam, lagen die Städte nachts schwarz da wie Kohlengruben, und eine Laterne in der Dunkelheit war gefährlicher als die Pest im Mittelalter. Ich kam aus dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts..."

 

 

INTERMEZZO

WOLFGANG KOEPPEN. ICH SCHREIBE

Den Unterricht schwänzend, seine Nützlichkeit verachtend, die Schultage im Bett liegend, mit Büchern eingedeckt, war ich mit fünfzehn Jahren überzeugt, zur Republik der Literatur zu gehören und heftete an meine Tür ein Schild: W.K., Literat. Mit anderen Worten: Ich ging freiwillig in die Sklaverei. Wie oft habe ich den bewussten oder unbewussten Schritt, der mich immer noch freut, bereut.

Der geborene Leser, für den ich mich halte, hatte das Glück, schon bevor er lesen lernte und die Kraft erwarb, nie ganz verloren zu sein, Bücher geschenkt oder geliehen zu bekommen, sie in der Hand zu wiegen, sie rundherum zu stapeln, eine Burg nicht aus Sand, und eine literarische Welt, das unermessliche Reich der Gedanken, der Phantasie und der energischen Gefühle neben oder über der Erde der vernünftigen Leute zu ahnen...

Nach der Heimat gefragt… Ich antworte, ich habe keine Heimat. Um nicht bloßzustehen, nenne ich Städte. Berlin, Hamburg, Paris, Rom, London, New York, Nischni Nowgorod, Hammerfest, Tokio. Nach Stimmung und im Alter andere. In Greifswald geboren, als es preußisch war, schwedisch gewesen war, demokratisch werden sollte, war ich nicht viel in Greifswald. Ich glaube, ich wollte schon im Mutterleib nicht in Greifswald sein. Dennoch sind Empfindungen da, die der Empfindung Heimat nahe kommen. Es ist der alte Friedhof in der Wolgasterstraße. Meine Mutter liegt dort, und ein Schauspieler hielt ihre Grabrede....

Ich fühlte mich im „Dritten Reich“ als Schriftsteller unterdrückt. Nun war das „Dritte Reich“ weg. Nun konnte ich wieder schreiben. Nun hatte ich wieder Verleger für das, was ich schreiben wollte. Da brach viel hinaus, dass ich dieses was ich als Unterdrückung empfunden hatte nun darstellen wollte. Dass das eine Unterdrückung gewesen sei, und ich strebte nach einer Freiheit des Worts, die ich mir erlaubt habe, ziemlich weitgehend...

Nein, ich war nicht dabei! Ich besitze keine Kamera und kein Scherenfernrohr, ich muß die Herrschaften enttäuschen und leider auch erschrecken: der Vorgang ist viel einfacher und viel, viel unheimlicher. Der Skribent sitzt zu Hause am Tisch, er saugt sich´s aus den Fingern, er richtet seinen Blick ins Leere oder ins Schwarze oder Helle, und sein Blick durchdringt die Türen, die Mauern, die geschlossenen Jalousien, er dringt durch die Kleidung, er dringt ins Herz, und er sieht im Herzen der Menschen die Wahrheit, die Süße und die Bitternis des Lebens, sein Geheimnis, seine Angst, seinen Schmerz, seinen Mut.

Ich liebe die Kinder auf dem Brunnenrand aus Marmelstein, die gaukelnden bekränzten grausamen kleinen Neronen, ich liebe das Drängen, Reiben, Stoßen, Schreien, Lachen und die Blicke auf dem Corso und die obszönen Worte, die den Damen im Vorübergehen zugeflüstert werden, und ich liebe die starre leere Larve des Damenantlitzes, die der Schmutz mitformt,  und ich liebe ihre Antworten, ihre Beschämungen und ihre Lust an geiler Huldigung, die sie eingegraben auf ihrem wirklichen Gesicht, verborgen unter der Straßenmaske, nach Hause und in ihre Frauenträume tragen.

Ja, es ist mein Leben, ob ich nun schreibe oder nicht schreibe, es ist mein Leben … Ich lebe literarisch, darüber kann man sich amüsieren, nur ich nicht. Und dann lebe ich auch etwas wie eine Romanfigur. Ich könnte es mir ja einfach machen, wenn ich andauernd mein Leben erzählen würde und aus meinem Leben Bücher entstehen ließe; bis zu einem gewissen Grade tut das ja jeder Schriftsteller, seine Werke sind eine Art fortlaufender Biographie. Aber bei mir ist es so, dass wahrscheinlich mehr als bei anderen der normale Kontakt zum Leben, zur bürgerlichen Existenz, geschwächt ist.

Versuch einer Aufhebung der Zeit zu einer Gleichzeitigkeit allen Geschehens. Jeder Vorgang gegenwärtig, jetzt und hier, in diesem Augenblick. Kein Vorher und kein Nachher. Weder Vergangenheit noch Zukunft. Oder anders: die Zukunft von morgen war schon gestern und vorgestern und von Anbeginn.

Es war der Moment, die Stunde am Abend, da die Radfahrer durch die Straßen sausen und den Tod verachten. Es war die Zeit der niederfallenden Dämmerung, die Zeit des Schichtwechsels, des Ladenschlusses, die Stunde des Ausschwärmens der Nachtarbeiter. Die Polizeisirenen kreischten. Die Überfallwagen drängten sich durch den Verkehr. Die blauen Lampen verliehen ihrem Rasen einen geisterhaften Schein.: Gefahr verkündende Sankt-Elmsfeuer der Stadt. Philipp liebte die Stunde. In Paris war es die heure bleue, die Stunde des Träumens , eine Spanne relativer Freiheit, der Augenblick des Freiseins von Tag und Nacht.

Wolfgang Koeppens Werke sind alle noch im Suhrkamp Verlag erhältlich. Ich halte ihn für einen der größten Schriftsteller deutscher Sprache.

 

 

 

 

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30. Lieblingsbuch: Als er am 30. November 1935 im Alter von nur 47 Jahren in Lissabon stirbt, ist er nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt. Heute gilt er als der bedeutendste portugiesische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und als eine der Schlüsselfiguren der literarischen Moderne. Tagsüber als Handelskorrespondent in der Lissabonner Unterstadt tätig, schrieb Pessoa abends für seine legendäre „Truhe“, in der die meisten seiner unveröffentlichten Manuskripte gelandet sind.

Fernando Pessoa. Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares

Lissabon ist die weiße Stadt am Meer, in der sich Traum und Sehnsucht treffen. Keiner konnte ihre Melancholie und Einsamkeit besser ermessen als Fernando Pessoa. Hinter immer neuen Masken schlüpft er durch die engen Gassen, um mit jedem Blick eine neue Szene des kleinen Welttheaters zu erhaschen.
Preis: € (D) 13,00 - Umfang: 640 Seiten als Taschenbuch ISBN: 978-3-596-90309-2

Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem »Buch der Unruhe« bekannt geworden. Einen Großteil seiner Jugend vebrachte er in Durban, Südafrika, bevor er 1905 nach Lissabon zurückkehrte, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos – und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person, jemand« bedeutet.

"Unsere größte Angst als einen Zwischenfall ohne Bedeutung ansehen, nicht nur im Leben des Weltalls, sondern in dem unserer eigenen Seele, das ist der Anfang der Weisheit. Sie mitten in der Angst so ansehen ist die vollkommene Weisheit. In dem Augenblick, in dem wir leiden, scheint der menschliche Schmerz unendlich zu sein. Doch weder ist der menschliche Schmerz unendlich, noch ist unser Schmerz mehr wert als eben ein Schmerz, den wir ertragen müssen." - Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Auszug aus einem Fragment vom 5. April 1933

Sie werden, wenn Sie erst einmal angefangen haben, von diesem Dichter nicht mehr wegkommen. Also am besten fangen Sie gar nicht erst mit ihm an. "Mein lieber Freund, Ich habe einige Jahre damit zugebracht, Arten des Fühlens zu sammeln. Es ist dies eine ganze Literatur, die ich geschaffen und erlebt habe, die aufrichtig ist, weil sie gefühlt ist. Unaufrichtig nenne ich Dinge, durch die nicht, wenn auch nur wie ein Windhauch, eine Ahnung von Ernst und Geheimnis des Lebens hindurchgeht. Darum ist alles ernst, was ich unter den Namen Caeiros, Reis‘, Álvaro de Campos‘ geschrieben habe. In jedem von ihnen habe ich eine tiefe Auffassung des Lebens gelegt, unterschiedlich in allen dreien, aber in allen ernstlich aufmerksam für die geheimnisvolle Bedeutung des Existierens.“

Fernando Pessoa: „Ich war ein Dichter, der von der Philosophie angeregt wurde, nicht ein Philosoph mit dichterischen Fähigkeiten. Ich liebte es, die Schönheit der Dinge zu bewundern und im Unmerklichen durch das winzig Kleine hindurch der dichterischen Seele des Weltalls nachzuspüren. Denn Dichtung ist Erstaunen, Bewunderung, wie die eines Wesens, das vom Himmel gefallen ist in vollem Bewusstsein von seinem Sturz und sich verwundert über die Dinge.“

Fernando Pessoa: „19. November. Meine Geistesverfassung zwingt mich derzeit, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte, häufig am Buch der Unruhe zu arbeiten. Aber alles nur Fragmente, Fragmente, Fragmente.“

Unruhig verläuft auch sein sonstiges Leben. Zwischen 1914 und 1920 ändert Pessoa allein zehnmal seine Adresse. Zieht quer durch die ganze Stadt von einem möblierten Zimmer ins nächste und wechselt zwischen ebenso vielen Handelsfirmen, wo er sein Geld verdient. 1920 kehren seine Mutter, seine Brüder und seine Schwester endgültig aus Südafrika nach Lissabon zurück. Der 32-Jährige zieht mit ihnen zusammen in ein Haus in der Rua Coelho da Rocha Nr. 16. Dort wird er bis zu seinem Tod wohnen bleiben. Das Haus in der Rua Coelho da Rocha Nr. 16 beherbergt heute die ‚Casa Fernando Pessoa‘.

Durch ihn habe ich diese schöne Stadt ganz anders sehen gelernt: “Für den Reisenden, der sich auf dem Seeweg nähert, erhebt sich Lissabon, selbst von weither, wie ein schönes Traumgesicht. Gestochen scharf steht es vor einem strahlend blauen Himmel, den die Sonne mit ihrem Gold erheitert. Wie das Schiff weitergeleitet, verengt sich der Fluss, um bald wieder breiter zu werden. Dann scharen sich zur linken Seite über den Hügeln hell die Häuser. Das ist Lissabon."

 

 

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29. Lieblingsbuch:

 

Willa Cather. Lucy Gayheart.

A. d. Engl. v. Elisabeth Schnack. Manesse. 346 S., 19,90 Euro.

 

Mit großem Einfühlungsvermögen und zarter Poesie erzählt Willa Cather die Geschichte einer Selbstfindung. „Lucy Gayheart“ ist das liebevolle Porträt einer jungen Frau, die zu neuen Ufern aufbricht: das erste eigene Zimmer, die erste große Liebe und die ewige Frage, warum man nie den Mann will, den man haben könnte. Jeder im amerikanischen Städtchen Haverford sagt Lucy Gayheart eine glänzende Zukunft voraus: Sie ist jung, hübsch und eine ausgezeichnete Klavierspielerin. Doch Lucy wünscht sich mehr als das langweilige Kleinstadtleben und den wohlhabenden, doch allzu bodenständigen Harry, der sich im geheimen schon als ihr Ehemann sieht. Sie zieht zum Musikstudium nach Chicago, wo sie das Großstadtleben und ihre neugewonnene Unabhängigkeit fern der Heimat genießt.

 

"Es gibt nur zwei oder drei Menschengeschichten, aber die wiederholen sich immer, so heftig, als wären sie nie zuvor geschehen."

 

Willa Cather wurde 1873 bei Winchester, Virginia geboren. Als Achtjährige übersiedelte sie mit ihren Eltern von Virginia nach Nebraska, wo sie mit der Prärie, aber auch mit den dortigen Einwanderern aus der Alten Welt Bekanntschaft schloss. Diese Erfahrungen eines Neben- und Miteinander verschiedener Ethnien, Religionen und Kulturen prägten sie tief. Obwohl sie als Lehrerin, Redakteurin und später als erfolgreiche Schriftstellerin vor allem in New York lebte, spielen ihre Werke meist in der Weite der Prärie des amerikanischen Westens und Südwestens. 1923 wurde Willa Cather mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Sie starb 1947 in New York.

1942, es ist Winter in New York, steht Willa Cather unterm schützenden Vordach der New York Public Library. Es herrscht Schneegestöber. Neben ihr ein hübscher, elfenhafter blutjunger Mann. Sie kommen ins Gespräch. Sie gehen in ein Café. Sie reden. Für den jungen Mann wird es eine der "großen Erschütterungen" seines Lebens. Denn er ist ein mindestens so begeisterter Catherianer wie Sinclair Lewis (der ihr gerne seinen Nobelpreis überlassen hätte). "Sie hatte ein wunderbar offenes, außergewöhnliches Gesicht", schreibt er. "Ihr Haar war zu einem Knoten zurückgekämmt. Ihre Kleider fielen weich, waren aber ganz schmucklos - sehr vornehm - und ihre Augen... waren verblüffend blass, blassblau. Als schwebten Teile des Himmels in ihrem Gesicht." Der junge Mann ist gerade mal 18, arbeitet beim "New Yorker", schreibt Geschichten, und er schickt sich gerade an, die Literaturwelt wenigstens in New York aus den Angeln zu heben. Sein Name ist Truman Capote.

“Und in dieser einfachen, manchmal fast linkisch wirkenden Sprache leuchten sie dann auf. Die Sinnlichkeit der Dinge, die Beziehung zwischen den Menschen, ihr Gefühl des Aufgehens in einer höheren Ordnung, in der Natur. Und Frauen wie Antonia und Lucy Gayheart. Sie verzaubern ihre Umwelt (und ihre Leser), tänzeln aber auf einem dünnen Seil über dem Riss zwischen Prärie- und Stadtleben, stürzen ab oder kommen in und mit der Prärie ganz zu sich.“

 

 

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28. Lieblingsbuch: "Eine Erzählung ohne Frau ist eine Maschine ohne Dampf." - in einem Brief an Iwan Leontjew, 22. Januar 1888

 

 

Anton Cechov. Meistererzählungen
Ausgewählt von Franz Sutter. Aus dem Russischen von Ada Knipper, Hertha von Schulz und Gerhard Dick. Mit einem Nachwort von W. Somerset Maugham
Nach welchen Kriterien kann man bei einem Autor dieser Statur und Qualität die besten Erzählungen aussuchen? Am besten, indem man diese Anthologie weniger als eine Auswahl der besten Erzählungen von Anton Cechov versteht – ein wohl unmögliches Unterfangen –, als vielmehr eine Einführung in das Werk des absoluten Meisters der Erzählung.

 

Diogenes Taschenbuch, 272 Seiten, erschienen am 01. Juli 2004,
978-3-257-21702-5, € (D) 12.00

 

Anton Pavlovič Čechov (1860 – 1904): Cechov wurde 1860 in Taganrog (Südrussland) geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und studierte dank eines Stipendiums in Moskau Medizin. Den Arztberuf übte Čechov nur kurze Zeit aus. Der Erfolg seiner Theaterstücke und Erzählungen machte ihn finanziell unabhängig. Seine Lungentuberkulose jedoch erzwang immer häufigere Aufenthalte in südlichem Klima, so dass Čechov auf die Krim übersiedelte. 1901 heiratete er die Schauspielerin Olga Knipper. Er starb 1904 in Badenweiler.

 

Cechov ist ein Mensch der Moderne, der, obwohl streng orthodox-religiös erzogen, nicht mehr glauben kann, der als agnostischer Naturwissenschaftler und Arzt allen geschlossenen ideologischen Gedankengebäuden mißtraut, der – im Gegensatz zu seinen zeitgenössischen Schriftstellerkollegen – nicht den Anspruch erhebt, die ewigen Fragen nach dem Sinn des Lebens beantworten zu können und sich von allen politischen Richtungskämpfen fern hält.

"Angst habe ich vor denen, die zwischen den Zeilen eine Tendenz suchen und die mich unbedingt als einen Liberalen oder Konservativen sehen wollen. Ich bin kein Liberaler, kein Konservativer, kein Reformanhänger, kein Mönch, kein Indifferenter. Ich möchte ein freier Künstler sein und nichts weiter (...) Ich hasse Lüge und Gewalt in all ihren Erscheinungsformen... Firma und Etikett halte ich für ein Vorurteil. Mein Allerheiligstes sind – der menschliche Körper, Gesundheit, Geist, Talent, Begeisterung, Liebe und absolute Freiheit, Freiheit von Lüge und Gewalt, worin sich die beiden letzteren auch äußern mögen."

Cechov ist uns nah in seiner illusionslosen Einsicht in die Unverständlichkeit und Bruchstückhaftigkeit der Welt, in seinem schmerzlich erlebten, aber offensiv verteidigten Verzicht auf eine feste „Weltanschauung“. Vor allem aber ist er uns nah in seinem – trotz dieser nüchternen Erkenntnis – nie aufgegebenen Streben nach Transzendenz.

 

Jede Erzählung ist ein Meisterwerk, z. B: DIE DAME MIT DEM HÜNDCHEN

 

Der alternde Bankier Gurow, der seiner Ehe überdrüssig ist, trifft während eines Kuraufenthalts auf die junge, abenteuerlustige Anna, die dem langweiligen Provinzalltag entfliehen will. In der dekadenten Sommerstimmung Jaltas beginnt Gurow mit ihr eine Affäre – nur eine unter vielen, wie er glaubt. Doch zurück in Moskau kann er Anna nicht mehr vergessen, und sie treffen sich wieder. Was als harmloser Urlaubsflirt begonnen hat, entwickelt sich zu einer ernsten Liebesbeziehung. In seiner 1899 erschienenen Erzählung zeigt sich Cechov auf der Höhe seines Könnens: Knapp, lakonisch und mit fast naturwissenschaftlicher Nüchternheit skizziert er das Verhältnis zweier ganz gewöhnlicher Menschen mit all ihren Schwächen. Er zeigt, wie sie durch die Erfahrung wirklicher Liebe verwandelt und der Banalität ihres Daseins enthoben werden. Dass der notorische Junggeselle und Frauenheld Cechov am Ende seines Lebens mit der Schauspielerin Olga Knipper selbst die große Liebe erlebte, muss man gar nicht wissen, um die tiefe Wahrheit dieser Erzählung zu verstehen. In ihrer schlichten, zeitlosen Modernität spricht sie für sich selbst. Die Erzählung regte Nikita Michalkow 1987 zu seinem Film Schwarze Augen an.

 

Vladimir Nabokov hielt 'Die Dame mit dem Hündchen' für eine der größten Geschichten, die je geschrieben wurden. Hat er recht, der Mann.

 

 

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27. Lieblingsbuch: "Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann ohne sie selbst zu glauben"

Theodor W. Adorno. Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Bibliothek Suhrkamp 236, Gebunden, 333 Seiten
ISBN: 978-3-518-01236-9, 20 €

 

"Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren." - Minima Moralia, Aphorismus 122. Gesammelte Schriften 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1. Auflage 1997, S. 218

 

Theodor W. Adorno wurde am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren und starb am 06. August 1969 während eines Ferienaufenthalts in Visp/Wallis an den Folgen eines Herzinfarkts. Von 1921 bis 1923 studierte er in Frankfurt Philosophie, Soziologie, Psychologie und Musikwissenschaft und promovierte 1924 über Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie. Bereits während seiner Schulzeit schloss er Freundschaft mit Siegfried Kracauer und während seines Studiums mit Max Horkheimer und Walter Benjamin. Mit ihnen zählt Adorno zu den wichtigsten Vertretern der »Frankfurter Schule«, die aus dem Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt hervorging. Sämtliche Werke Adornos sind im Suhrkamp Verlag erschienen.

 

"Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen." - Minima Moralia. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 22. Auflage 1994, S. 57

 

Der Anlass der Neuauflage des philosophischen Klassikers ist, so Martin Seel, das fünfzigjährige Jubiläum des Buches. Beruhigend für den Leser ist der Hinweis Seels, dass man die "Minima moralia", die in den vierziger Jahren im amerikanischen Exil Adornos entstanden sind, weder als Fortsetzung der "Dialektik der Aufklärung" noch als Vorbereitung zur "Negativen Dialektik" lesen muss. Es handelt sich doch um ein eigenständiges Werk, um ein "Feuerwerk hellsichtiger Gedanken". Geschrieben unter dem Einfluss des nationalsozialistischen Terrors, seien die "Minima moralia" eine "Diagnose einer global organisierten Unmündigkeit". Der Reiz der Aphorismen sei das Nicht-Systematische, die Aufforderung, durch die Paradoxa zum eigenen Denken animiert zu werden, denn nichts sei so, wie es sich auf den ersten Blick liest. Seel legt dann einzelne Gedankenblitze Adornos aus, vor allem den berühmten Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen"; generalisierend fasst er schließlich die Maxime von Adornos Denken wie folgt zusammen: Nur vom Unmöglichen her können wir unsere Möglichkeiten verstehen.

 

"In einem philosophischen Text sollten alle Sätze
gleich nahe zum Mittelpunkt stehen."

 

Wer Lust hat auf mehr: "Dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene."
Negative Dialektik (Meditationen zur Metaphysik) oder (auch unbedingt empfehlenswert:)

 

In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte. (…) Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante Energie. Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm. Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische und geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt statt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. (…) Sind die Wiederholungen beim Kind erlahmt, oder war die Hemmung zu brutal, so kann die Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gehen, das Kind ist an Erfahrung reicher, wie es heißt, doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können
Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen – im Sinn der Ausfallserscheinung, der Blindheit und Ohnmacht, wenn sie bloß stagnieren, im Sinn der Bosheit, des Trotzes und Fanatismus, wenn sie nach innen den Krebs erzeugen. Der gute Wille wird zum bösen durch erlittene Gewalt. Und nicht bloß die verbotene Frage, auch die verpönte Nachahmung, das verbotene Weinen, das verbotene waghalsige Spiel, können zu solchen Narben führen. Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, daß alles Lebendige unter einem Bann steht.
Max Horkheimer / Theodor W. Adorno:
Dialektik der Aufklärung (Zur Genese der Dummheit)

 

 

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26. Lieblingsbuch: „Comala (…) liegt auf glühender Erde, geradewegs am Eingang zur Hölle.“

Juan Rulfo. Pedro Paramo. Roman
Carl Hanser Verlag, München 2008
ISBN 9783446230668
Gebunden, 175 Seiten, 17,90 EUR
Übersetzung von Dagmar Ploetz

Juan Rulfo wurde am 16. Mai 1917 in Apulco im Distrikt Sayula geboren. Wenig später zog die Familie nach San Gabriel um, wo er seine Kindheit verbrachte. Die Ermordung seines Vaters 1923 und der mexikanische Bürgerkrieg, die Guerra Cristera (1926–1929), waren einschneidende Ereignisse für den Jungen. Die Familie verarmte. 1927 starb seine Mutter. Rulfo lebte kurze Zeit bei seiner Großmutter, kam dann ins Waisenhaus und wurde Schüler des Kollegs von Guadalajara, wo er 1932 das Abitur (bachillerato) ablegte. Ende 1935 zog er nach Mexiko-Stadt.

1953 erschien seine Kurzgeschichtensammlung El Llano en llamas, die ihm ein Stipendium der Rockefeller-Stiftung einbrachte. 1955 erschien der Kurzroman Pedro Páramo. 1956 zog die Familie nach Veracruz um, wo Rulfo in einem Bewässerungsprojekt mitarbeitete. 1957 kehrte er nach Mexiko-Stadt zurück und begann, Drehbücher zu schreiben. . Nebenbei war er ein exzellenter Fotograf, der die soziale Realität und die Landschaften Mexikos einfing. . Am 7. Januar 1986 starb er in Mexiko-Stadt

Comala ist ein wüster Steinhaufen inmitten einer sonnenverbrannten Einöde Mexikos. Die einen arbeiten sich zu Tode, um überleben zu können, die anderen beuten das Volk aus, betrügen, unterdrücken und morden. Pedro Paramo, Großgrundbesitzer und Dorftyrann, hat in dem heruntergekommenen Dorf "Ordnung" geschaffen. Doch die Toten geben keine Ruhe und reden in ihren Gräbern weiter von seinen Untaten.

"Sind Sie überhaupt lebendig, Damiana? Damiana! Sagen Sie es mir!"
Und plötzlich war ich allein in diesen leeren Straßen."

Der mexikanische Autor, der nur ein knappes Werk geschaffen hat, das in den 50er Jahren entstanden ist, wurde von Autoren wie Borges, Onetti und Garcia Marquez verehrt und gilt als Vorreiter des "Magischen Realismus" Er erzählt vom Herren- und Unmenschen Pedro Paramo, vor allem aber erfindet er, als Ort, an dem Paramo lebt, das Dörfchen Comala. Hier durchdringen sich Gegenwart und Vergangenheit, die Toten sprechen und handeln und fühlen wie wir. Eine scheinbar schlichte, hoch verdichtete, klassische Sprach-Weise begleitet die Protagonisten. In Juan Rulfos epochalem Roman führen Lebende Gespräche mit Toten, Stumme reden und die Seele eines Pferdes, Pedro Páramo ist für mich eines der besten und einflussreichsten Bücher des vergangenen Jahrhunderts.

Erst zum Ende des Buches wird Pedro Páramo menschlicher. Als seine große Liebe – ja, sie existiert – die Welt der Lebenden verlässt, trauert das ganze Dorf, die Glocken läuten. Doch wieder einmal verschwimmen die Grenzen, aus der Trauer wird Frevel, denn Schausteller werden vom Lärm der Glocken angelockt und verwandeln das Dorf in einen Schauplatz der Freude und Sorglosigkeit.

"Und an der Tür lehnte eine Frau und unterdrückte das Weinen. Eine Mutter, die er schon vergessen, immer wieder vergessen hatte und die zu ihm sagte: "Sie haben deinen Vater umgebracht!"

Man muss erst tot sein, um barmherzig zu werden.

 

 

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Die Lieblingsbuch-Nummern 25, 50 und 75 werden zu literarischen Themen umgewandelt.

 

 

25. Czernowitz-die Stadt der toten Dichter

 

 

 

Hier geht es um das alte habsburgische Kulturland der BUKOWINA. Seit Hitlers Armee 1939 Polen überfallen hat, fühlt sich in der Bukowina, dem Buchenland, wo die Dichter Paul Celan und Rose Ausländer geboren sind, niemand mehr sicher. Jahrhundertelang haben hier Ukrainer und Rumänen, Russen und Juden, Deutsche und Österreicher zusammengelebt. Nun ist alles aus, heute gehört das geteilte Gebiet den Russen, morgen den Rumänen – und die SS wütet mit ihrem Mordkommando. Eines ihrer Opfer wird die junge Autorin, Selma Meerbaum-Eisinger. In einem KZ in der Ukraine stirbt sie am 16. Dezember 1942 an Flecktyphus.

 

Selma Meerbaum-Eisinger. Blütenlese

Gedichte, Reclams Universal-Bibliothek 19059
Verlag/Hersteller: Reclam, Philipp, jun. GmbH Verlag
ISBN/EAN: 9783150190593 - 4.-€

 

1924 wurde Selma Meerbaum-Eisinger in Czernowitz geboren. Die Familie wurde in ein Arbeitslager nach Transnistrien geschafft. Gedichte für ihren geliebten Freund Lejser Fichman schrieb Selma, das junge Mädchen in Czernowitz, heimlich unter der Schulbank. Lejser Fichman übergab die Gedichte einer Freundin, die sie im Rucksack nach Israel rettete. Lejser, der Freund Selmas, ertrank auf dem Weg nach Palästina und Selma Meerbaum-Eisinger starb 1942 mit achtzehn Jahren im Arbeitslager. Die wunderbaren Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund Ich bin in Sehnsucht eingehüllt sind in einem kleinen Büchlein gedruckt. Ein Gedicht ist anrührender als das andere.

 

 

Welke Blätter

 

Plötzlich hallt mein Schritt nicht mehr,

sondern rauschet, leise, leise,

wie die tränenvolle Weise, die ich sing’, von Sehnsucht schwer.

Unter meinen müden Beinen,

die ich habe wie im Traum,

liegen tot und voll vom Weinen

Blätter von dem großen Baum.

 

24.9.1939

 

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Paul Celan, 1920 in Czernowitz geboren, gilt als einer der größten Lyriker, der je in deutscher Sprache gedichtet hat. Er hat den Holcaust schwer traumatisiert überlebt. Verwunden hat er ihn nie. 1970 nahm er sich in Paris das Leben.

 

Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Ausgabe

suhrkamp taschenbuch 3665, Taschenbuch, 1000 Seiten
ISBN: 978-3-518-45665-1

 

Ich kann Dich noch sehn: ein Echo,
ertastbar mit Fühl-
wörtern, am Abschieds-
grat.

Dein Gesicht scheut leise,
wenn es auf einmal
lampenhaft hell wird
in mir, an der Stelle,
wo man am schmerzlichsten Nie sagt.

 

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Rose Ausländer. Gedichte
Fischer Klassik

:9783596904938
328 S., 15.- €

* 11.05.1901, Czernowitz
† 03.01.1988, Düsseldorf

Rose Ausländer, (geb. Rosalie Scherzer), wird am 11. Mai 1901 als Kind einer jüdischen Familie in Czernowitz geboren.

Die Jahre zwischen 1941 und 1944 muß Ausländer gemeinsam mit ihrer Mutter und dem Bruder im Czernowitzer Ghetto verbringen, wo sie in einem Kellerversteck überlebt. Im Ghetto lernt sie auch Paul Celan kennen, den sie 1957 in Paris wieder trifft und der sie zu einer radikalen Veränderung ihres lyrischen Stils bewegte. Der von Hölderlin und Trakl geprägte, klassisch-getragene Duktus weicht nun einer schnörkellosen, dabei immer musikalisch-rhythmischen Klarheit.

Noch bist du da

Wirf deine Angst
in die Luft

Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends

Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da

Sei was du bist
Gib was du hast

 

 

 

Um in die versunkene Welt von Czernowitz, von der so oft die Rede ist, einzutauchen, muss man wohl zurückkehren in die eigene Bibliothek – und Paul Celan lesen, Selma Meerbaum-Eisinger oder Rose Ausländer.

 

 

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24. Lieblingsbuch: „ Mich haben immer die Menschen interessiert, doch nie haben sie mir gefallen", sagt Henry James

Henry James. Was Maisie wusste

9783423146395

352 S., 11,90 €
Erscheinungsdatum:
22.06.2018

 

Meisterhaft neu übersetzt: einer der bedeutendsten Romane des Jahrhundertautors

Lady Ida Farange ist eine überdrehte Dame von Welt auf der Suche nach einem Mann mit Geld; ihr Ex-Mann Beale ist nach der Scheidungsschlacht ebenfalls knapp bei Kasse und außerdem ein notorischer Schürzenjäger. Zwischen den beiden Egoisten hin-und hergerissen wird Tochter Maisie: ein halbes Jahr bei der Mutter, ein halbes beim Vater – so lautet der Richterspruch. Die Eltern missbrauchen sie als Instrument ihres gegenseitigen Hasses. Aber Maisie erkennt, wozu sie benutzt wird. Sie stellt sich dumm und beginnt ihrerseits zu taktieren. Wie sich herausstellen wird, ist sie ihren Eltern haushoch überlegen.

 

Die Lieblosigkeit der Erwachsenen erschreckt. Auch ansonsten ist der Begriff des „Kindeswohls“ im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht allzu geläufig. Gerade erst Darwins Theorien angenommen, sieht die Gesellschaft Kinder in etwa auf Stufe von Affen. Wir Leser begleiten Maisie in einem Alter von sechs bis etwa 13 Jahren. In dieser Zeit wird sie wie ein Spielball zwischen Eltern, Stiefeltern, Liebhabern und Gouvernanten hin und her geschubst. Maisie ist nicht nur auf existenzieller Ebene an die Erwachsenenwelt gebunden. Sie besucht keine Schule, hat keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. Somit liegt der emotionale und geistige Reifeprozess des Mädchens ebenfalls ganz in den unzuverlässigen Händen ihrer Familie. Maisie muss schnell lernen, deren Spielregeln zu beherrschen. Dabei wird sie mit Fragen wie „Unmoral“ konfrontiert, die sie noch gar nicht verstehen kann. Doch das Mädchen beweist einen starken Charakter. Er ist ganz stark im Schildern seiner Kinderfiguren, lesen Sie auch DIE DREHUNG DER SCHRAUBE, sicher könnten auch PORTRAIT EINER DAME oder DIE ASPERN SCHRIFTEN Gefallen finden. Sie brauchen ein halbes Leben um alle die wunderbaren Bücher dieses Autors zu lesen. Aber was soll's: Sie haben ja noch die andere Hälfte...

 

 

Henry James, geboren am 15. April 1843 in New York City, war der Sohn eines Intellektuellen irischer Abstammung und wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf. In Amerika und Europa zum Weltbürger erzogen, schrieb er seit 1863 Kritiken und Kurzgeschichten für verschiedene Zeitschriften. Bereits 1871 erschien ›Watch and Ward‹ als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift ›The Atlantic Monthly‹. Jedoch erst den 1875 erschienenen Roman ›Roderick Hudson‹ ließ er als sein Romandebüt gelten. Zahlreiche weitere Werke folgten, darunter ›Daisy Miller‹ (1878), ›Washington Square‹ (1880), ›The Portrait of a Lady‹ (1881) und ›The Turn of the Screw‹ (1898). Henry James lebte ab 1869 überwiegend in Europa. 1877 ließ er sich in London nieder und wurde 1915 britischer Staatsbürger. Mehrfach war er Kandidat für den Literaturnobelpreis, zuletzt im Jahr seines Todes. Er starb am 28. Februar 1916 in seinem Haus im Londoner Stadtteil Chelsea. Bis heute gilt er als Meister des psychologischen Romans.

 

 

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23. Lieblingsbuch: „Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, gewaltige Flammen.”
Das Hohe Lied 8,5

Guy de Maupassant. Stark wie der Tod
Manesse Verlag, leider nur noch antiquarisch zu besorgen...
"Fort comme la mort" erschien 1889, die deutsche Ausgabe erstmals 1918.

 

Maupassant hat einen der berührendsten Künstlerromane der Weltliteratur geschrieben: Das Altersschicksal eines begehrten Porträtmalers der Pariser Oberschicht liest sich als psychologische Studie ebenso ergreifend wie als Meditation über die Vergänglichkeit von Jugend, Schönheit und Sinnlichkeit.

Was einst als Affäre zwischen dem bürgerlichen Maler und einer verheirateten Abgeordnetengattin begonnen hatte, ist im Laufe der Jahre zu einer soliden illegalen Liebesbeziehung geworden: Olivier Bertin findet in der Verbindung mit der bildschönen Madame de Guilleroy jenen animierenden Eros, den er für sein kreatives Schaffen benötigt, jene Geborgenheit, nach der er sich als alternder Junggeselle mehr und mehr sehnt, und die wohltuende Anerkennung seines künstlerischen Ranges. Kurzum, er darf sich für einen glücklichen Mann halten. Da soll eines Tages die Tochter seiner Freundin in die Gesellschaft eingeführt werden. Annette ist so bezaubernd schön, wie es ihre Mutter einst war. Die eigene Vergänglichkeit vor Augen, den quälenden Schmerz endlicher Liebe empfindend, scheint für Bertin mit einem Mal alles bedeutungslos zu werden, was er im Leben und in der Kunst erreicht hat.

Maupassant, ein Meister einer nuancenreichen Liebespsychologie (und als solcher ein Vorläufer Prousts), siedelt im Luxus der Fin-de-siecle-Gesellschaft eine schonungslos betriebene Verfallsstudie des Alterns an, bei der auch die äußerlichsten Parallelen zur heutigen Spaß- und Wellness-Gesellschaft frappant sind: Diätpläne, Fitnessprogramme, Zerstreuungen, all das erscheint als albern verlorene Liebesmüh.

 

(…) eines Abends, nach einer ausgedehnten Plauderei über die Geliebten berühmter Maler, passierte es: sie ließ sich in seine Arme gleiten. Und diesmal blieb sie dort und versuchte nicht zu fliehen und erwiderte seine Küsse.

Von nun an hatte sie keine Gewissensbisse mehr, nur noch das schwache Gefühl eines Verlusts, und den Vorwürfen ihres Verstands begegnete sie mit dem Glauben an eine Schicksalsfügung. Ihr Herz, das die Liebe nicht gekannt hatte, und ihre Seele, die sich langweilte, fühlten sich zu ihm hingezogen, und ihr Körper wurde durch die sanfte Macht der Liebkosungen besiegt; so wurde sie allmählich immer anhänglicher, wie zärtliche Frauen, die zum ersten Mal lieben."

 

 

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"Wir leben in einem Zeitalter, das sein Selbstverständnis verliert. Wir nähern uns einer Gesellschaft, die Freiräume zur Entwicklung intellektueller und sonstiger Fähigkeiten in Hülle und Fülle bereit hält, der aber jede Idee, jede Vorstellung von Freiheit abhanden gekommen ist." sagt der Autor des
22. Lieblingsbuchs:

 

Hartmut Lange. Gesammelte Novellen in zwei Bänden in Kassette

 

Hardcover Leinen, Diogenes-Verlag
1152 Seiten
erschienen am 28. März 2002

978-3-257-06293-9
€ (D) 34.90

 

Hartmut Lange zählt zu den Meistern der deutschen Erzählkunst. Seine Novellen thematisieren den schmalen Grat zwischen der Normalität des Alltags und dem Einbruch des Irrationalen, dem metaphysischen Abgrund, der sich dahinter auftut. Sie zeigen Menschen, die ihre scheinbare existentielle Sicherheit verlieren und die pötzlich die Sehnsucht überkommt, jene Grenze zu überschreiten.

Hartmut Lange, geboren 1937 in Berlin-Spandau, studierte an der Filmhochschule Babelsberg Dramaturgie. Für seine Dramen, Essays und Prosa wurde er vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin.

In seiner intellektuellen Autobiographie "Irrtum als Erkenntnis. Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller", schreibt Hartmut Lange: »Mit neun Jahren begann ich, Gespenstergeschichten zu erzählen. Das war 1946. Meine Mutter verlor damals ihre Lebensmittelkarte, und da es keinen Ersatz gab, bot ich meinen Mitschülern an, sie zu unterhalten, das heißt, es gelang mir, sie in wenigen Minuten zu fesseln, indem ich etwas Spannendes erzählte. Dafür bekam ich belegte Brote, die ich mit nach Hause nahm.« Ende der siebziger Jahre, Hartmut Lange ist inzwischen ein bekannter Dramatiker, entdeckt er für sich wieder das Geschichtenschreiben, genauer: die Novellenform.

Die Auflagen sind klein, die Resonanz anfänglich gering. »Danke, dass Sie mich in Ihrem Verlag überwintern lassen«, sagt Lange einmal zu seinem Verleger. Le Figaro in Paris schreibt: »Dieser Autor verdient es, dass man ihn mit ganz besonderer Aufmerksamkeit liest.« Der Kreis der Leser ist heute noch überschaubar, doch für die Kritik gehört Hartmut Lange längst zu den Meistern der deutschen Erzählkunst.
Aus einem Interview: "Ja, es ist die Konsequenz der Selbstentdeckung. Ich habe an mir entdeckt, dass ich absolutes Subjekt bin. Ich bin ganz alleine. Alle anderen können eigentlich nur beweisen, dass ich alleine bin, weil sie immer Andere sind. Ich habe sozusagen meine totale Vereinzelung erfahren, und das führt eben dazu, dass man den anderen dann auch einzeln sieht. Früher haben wir das sozial definiert, wir haben nicht den einzelnen gesehen, sondern seine Klassenzugehörigkeit. Wenn man das streicht, sieht man den einzelnen ganz nackt. Aber das ist eine Selbsterfahrung. Wenn ich also Einzelschicksale schildere, meine ich immer meine eigene Erfahrung. Das ist auch wieder eine Prämisse aus der Existenzphilosophie, was ich aber erst nachträglich erfahren habe. Erst die Vereinzelung im Bewusstsein führt zur Wahrheit... Ich habe vor zwei Sachen Angst: Dass wir in einer Welt ohne Geheimnisse leben und dass es hinter der Schattenlinie wirklich nichts gibt. Darum treibt mich eine Sehnsucht, diesen Zustand aufzuheben. Das heißt, ich will der Welt das Geheimnis beimischen und ich will, dass hinter der Schattenlinie doch mehr ist als das sprichwörtliche Nichts. Das mischt sich eben auch immer in diese Figuren hinein."

Viele dieser Novellen sind auch bei Diogenes als Einzelausgaben erhältlich. Das ist rausgeworfenes Geld. Man kommt nicht mehr los von diesen Geschichten.

Rätselhaft und unheimlich ging es bisher stets in Langes Werken zu: ob beim Buchhändler Völlenklee (›Die Wattwanderung‹, 1990), der ohne vordergründig erkennbares Motiv in der Nordsee verschwand; beim Verleger Eichbaum (›Die Stechpalme‹, 1993) oder beim Flaneur Jänicke (›Der Herr im Café‹, 1996), dem von einem Fremden eine mysteriöse Partitur übergeben wurde – immer waren es vermeintliche Nichtigkeiten, die den novellistischen Strom ins Fließen brachten und nach streng rationalen Kriterien kaum zu erklärende Handlungen anstießen.

Man gerät zusehends in den Sog dieser Sprache. Nichts bleibt nach der Lektüre wie es war.

 

 

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21. Lieblingsbuch: Ein etwas anderes Buch über Architektur:

 

Peter Zumthor. Atmosphären. Architektonische Umgebungen - Die Dinge um mich herum.
2006, 75 S., 33 illus., 19 in Farbe, Gebunden in Leinen 34,95€

 

Was «eine architektonische Atmosphäre wirklich ausmacht», sagt Peter Zumthor, ist «diese einmalige Dichte und Stimmung, dieses Gefühl von Gegenwart, Wohlbefinden, Stimmigkeit, Schönheit, ... in deren Bann ich etwas erlebe und erfahre, was ich in dieser Qualität sonst nicht erleben würde.» Seine Leidenschaft gilt der Erschaffung von Gebäuden mit solchen Wirkungsqualitäten, doch wie lassen sich diese eigentlich erzielen?

In neun kurzen, illustrierten Kapiteln erzählt Peter Zumthor - gleichsam in Form einer Selbstbeobachtung- was ihn umtreibt, wenn er die Atmosphäre seiner Häuser zu erschaffen versucht. Dabei sind Bilder von Räumen und Bauten, die ihn berühren, ebenso wichtig wie bestimmte Musikstücke oder Bücher, die ihn inspirieren. Von der Komposition und Präsenz der Materialien über den Umgang mit Proportionen bis hin zur Wirkung des Lichts macht diese Architekturpoesie nachvollziehbar, worauf es beim Entwurf von Häusern ankommt.

Jede Doppelseite enthält eine Illustration, die die Gedanken des Architekten veranschaulichen!

Er benennt neun „Werkzeuge und Instrumente“ seiner Arbeit, mit denen er
die Atmosphäre seiner Häuser generiert.
1.Materielle Präsenz
2. Zusammenklang der Materialien
3. Klang des Raumes
4. Temperatur des Raumes
5.Die Dinge um mich herum
6.Gelassenheit und Verführung
7. Spannung zwischen Innen und Außen
8. Stufen der Intimität
9.Das Licht auf die Dinge

"Meine Entwürfe hängen immer von der Aufgabenstellung ab. Wenn ich ein Gebäude baue, das an einer leeren Stelle an einem norwegischen Strand daran erinnern soll, dass dort vor 300 Jahren Menschen als Hexen verbrannt wurden, hat das eine gewisse Wucht und Kraft. Das ist keine harmlose Hütte, und das weiß man auch sofort. Aber das Äußere ist nicht das Innere. Die äußere Erscheinung meiner Bauten kann zwar zum Teil fast abweisend sein, aber im Inneren haben sie einen warmen und emotionalen Kern. Es ist mir gegeben, dass ich Räume erschaffen kann, die Stimmung und Atmosphäre haben und in denen man gerne ist."

 

 

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INTERMEZZO

JORGE LUIS BORGES. Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn

 

Sein Leben war Lesen, Bibliotheken waren sein Schicksal. Die Jugend verbrachte der schüchterne, stark kurzsichtige Junge überwiegend in der Bibliothek des Vaters. Aus ihr, der ersten, schrieb noch der 70jährige, habe er "vielleicht nie hinausgefunden".Seine zweite Bibliothek erlebte der fast 40jährige wie ein stoisch ertragenes Exil. Als er, der bis dahin von den Unannehmlichkeiten des Broterwerbs verschont geblieben war, nach dem Tod des Vaters mittellos dastand, verdingte er sich als untergeordneter Angestellter in einer tristen städtischen Bibliothek von Buenos Aires. Aber sosehr er unter stumpfsinnigen Kollegen litt, deren geistiger Horizont sich auf Pferderennen und Fußball beschränkte: Neben dem Katalogisieren von Büchern blieb genügend Muße zum Lesen - und zum Schreiben jener Erzählungen, die seinen eigentlichen Ruhm begründeten. Eine von ihnen, "Die Bibliothek von Babel", hat äußerlich jene Einrichtung zum Vorbild, der Borges "neun Jahre soliden Unglücklichseins" verdankte. Die dritte Bibliothek seines Lebens war die paradoxe Erfüllung eines Traums. Nach dem Sturz seines Intimfeinds Peron wurde Borges 1955 zum Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ernannt. Er war nun Herr über 200 000 Bücher - zum selben Zeitpunkt, wo sein Augenleiden in Blindheit überging. In einem "Gedicht von den Gaben" hat er ironisch die "großartige Ironie Gottes" gewürdigt, "der mir zugleich die Bücher und die Nacht gab".

Jorge Luis Borges (1899 – 1986) Die Bibliothek von Babel

Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: grenzenlos. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien: ihre Höhe, die sich mit der Höhe des Stockwerks deckt, übertrifft nur wenig die Größe eines normalen Bibliothekars. Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Galerie, genau wie die erste, genau wie alle, einmündet. Links und rechts am Gang befinden sich zwei winzigkleine Kabinette. In dem einen kann man im Stehen schlafen, in dem anderen seine Notdurft verrichten. Hier führt die spiralförmige Treppe vorbei, die sich abgrundtief senkt und sich weit empor erhebt. In dem Gang ist ein Spiegel, der den äußeren Schein verdoppelt. Die Menschen schließen gewöhnlich aus diesem Spiegel, daß die Bibliothek nicht unendlich ist (wäre sie es in der Tat, wozu diese scheinhafte Verdoppelung?); ich gebe mich lieber dem träumerischen Gedanken hin, daß die polierten Oberflächen das Unendliche darstellen und verheißen… Licht spenden ein paar kugelförmige Früchte, die den Namen »Lampen« tragen. Es gibt deren zwei in jedem Sechseck, seitlich angebracht. Das Licht, das sie aussenden, ist unzureichend, unaufhörlich. Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in meiner Jugend gereist; ich habe die Fahrt nach einem Buch angetreten, vielleicht dem Katalog der Kataloge; jetzt können meine Augen kaum mehr entziffern, was ich schreibe; ich bin im Begriff, nur ein paar Meilen von dem Sechseck, wo ich geboren ward, zu sterben. Wenn ich tot bin, wird es nicht an mitleidigen Händen fehlen, die mich über das Geländer werfen werden; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und sich in dem von dem Sturz verursachten Fallwind zersetzen und auflösen. Ich behaupte, daß die Bibliothek kein Ende hat. Die Idealisten argumentieren, daß die sechseckigen Säle eine notwendige Form des absoluten Raums sind, oder zumindest unserer Anschauung vom Raum. Sie geben zu bedenken, daß ein dreieckiger oder fünfeckiger Saal unfaßbar ist. (Die Mystiker behaupten, daß die Ekstase ihnen ein kreisförmiges Gemach offenbart, mit einem kreisförmigen Buch, dessen Rücken rund um die Wand läuft; doch ist ihr Zeugnis verdächtig; ihre Worte sind dunkel; dieses zyklische Buch ist Gott.) Für jetzt mag es genügen, wenn ich den klassischen Spruch zitiere: Die Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck ist, und deren Umfang unzugänglich ist. Auf jede Wand jedes Sechsecks kommen fünf Regale; jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus einhundertzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe; Buchstaben finden sich auch auf dem Rücken jeden Buches; doch bezeichnen diese Buchstaben nicht, deuten auch nicht im voraus an, was die Seiten sagen werden. Ich weiß, daß dieser fehlende Zusammenhang zuweilen mysteriös angemutet hat. Bevor ich die Lösung, deren Entdeckung trotz ihrer tragischen Auswirkungen wohl der Hauptgegenstand der Geschichte ist, in gedrängter Form wiedergebe, will ich ein paar Axiome ins Gedächtnis zurückrufen. Erstes Axiom: Die Bibliothek existiert ab aeterno. An dieser Wahrheit, aus der unmittelbar die künftige Ewigkeit der Welt folgt, kann kein denkender Verstand zweifeln. Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar, mag vom Zufall oder von den böswilligen Dämonen bewirkt sein; das Universum, so elegant ausgestattet mit Regalen, mit rätselhaften Bän- den, mit unerschöpflichen Treppen für den umherwandernden und mit kleinen Stufen für den sitzenden Bibliothekar, kann nur durch einen Gott bewirkt sein. Um die Kluft, die zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen liegt, so recht zu ermessen, braucht man nur die zittrigen Zeichen, die meine hinfällige Hand auf den Einband eines Buches krakelt, mit den organischen Lettern im Inneren zu vergleichen: gestochen, feingeschwungen, tiefschwarz, unnachahmlich symmetrisch stehen sie da. Zweites Axiom: Die Anzahl der orthographischen Symbole ist fünfundzwanzig (1). Diese Feststellung ermöglichte es vor dreihundert Jahren, die allgemeine Theorie der Bibliothek in Worte zu fassen, und das Problem, das keine Konjektur entschlüsselt hatte, befriedigend zu lösen: die formlose und chaotische Beschaffenheit nämlich fast aller Bücher. Eines, das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs fünfzehnhundertvierundneunzig erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, die sinnlos von der ersten bis zur letzten Seite wiederkehrten. Ein anderes (das in dieser Zone sehr gefragt war) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: Oh Zeit, deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: auf eine einzige verständliche Zeile oder eine richtige Bemerkung entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Kauderwelschs, zusammenhanglosen Zeugs. (Ich weiß von einer wilden Region, in der die Bibliothekare die abergläubische und eitle Jagd nach dem Sinn in Büchern verschmähen und die Lektüre auf die gleiche Stufe mit Traumdeuterei und Handlesekunst stellen ... Sie geben zwar zu, daß die Erfinder der Schrift die fünfundzwanzig Natursymbole nachgeahmt haben; sie behaupten jedoch, daß diese Anwendung zufällig sei und die Bücher an sich nichts bedeuteten. Diese Anschauung geht, wie man sehen wird, nicht völlig fehl.) Lange Zeit hindurch war man des Glaubens, daß diese undurchdringlichen Bücher in vergangenen oder fernabliegenden Sprachen ihre Entsprechung hätten. Allerdings haben die frühesten Menschen, die ersten Bibliothekare, eine von der heute gesprochenen recht verschiedene Sprache benutzt; richtig ist auch, daß ein paar Meilen weiter nach rechts die Sprache mundartlich und daß sie neunzig Stockwerke höher unverständlich ist. All das, ich wiederhole, ist richtig, aber vierhundertundzehn Seiten, auf denen unwandelbar M C V wiederkehrt, können mit keiner auch noch so mundartlichen oder unentwickelten Sprache in Zusammenhang stehen. Einige wollten wissen, daß jeder Buchstabe auf den nächstfolgenden Einfluß nähme, und daß der Stellenwert von M C V in der dritten Zeile auf Seite 71 nicht der ist, den dieselbe Buchstabenreihe in anderer Stellung auf einer anderen Seite haben kann; aber diese vage These fruchtete nicht. Andere dachten an Kryptogramme; diese Deutung hat sich allgemein durchgesetzt, wenn auch nicht in der Bedeutung, wie ihre Erfinder sie verstanden. Vor fünfhundert Jahren stieß der Chef eines höheren Sechsecks (2) auf ein Buch, das so verworren war wie die anderen, das jedoch fast zwei Bogen gleichartiger Zeilen aufwies. Er zeigte seinen Fund einem ambulanten Entzifferer, der zu ihm sagte, sie seien auf Portugiesisch abgefaßt; andere sagten dagegen, auf Jiddisch; bevor ein Jahrhundert um war, konnte die Sprachform bestimmt werden: es handelte sich um einen samojedisch-litauischen Dialekt mit einem Einschlag von klassischem Arabisch. Auch der Inhalt wurde entschlüsselt: es waren Begriffe der kombinatorischen Analysis, dargestellt an Beispielen sich unbegrenzt wiederholender Variationen. Diese Beispiele setzten einen genialen Bibliothekar instand, das Fundamentalgesetz der Bibliothek zu entdecken. Und zwar stellte dieser Denker fest, daß sämtliche Bücher, wie verschieden sie auch sein mögen, aus den gleichen Elementen bestehen: dem Raum, dem Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Lettern des Alphabets. Auch führte er einen Umstand an, den alle Reisenden bestätigt haben: In der ungeheuer weiträumigen Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus diesen unwiderleglichen Prämissen folgerte er, daß die Bibliothek total ist und daß ihre Regale alle irgend möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel orthographischen Zeichen (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken läßt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die bis ins einzelne gehende Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium von Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jeden Buches in allen Büchern. Als verkündet wurde, daß die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen wußten sich Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung nicht existierte: in irgendeinem Sechseck. Das Universum war gerechtfertigt, das Universum bemächtigte sich mit einem Schlag der schrankenlosen Dimensionen der Hoffnung. In dieser Zeit war viel die Rede von »Rechtfertigungen«: apologetische und prophetische Bücher rechtfertigten für immer die Taten jedes Menschen auf Erden, hüteten wundersame Arcana für seine Zukunft. Tausende, die es nach Rechtfertigung gelüstete, verließen ihr trautes Heimatsechseck und jagten die Treppen empor, von dem eitlen Vorsatz getrieben, Rechtfertigung zu finden. Diese Pilger disputierten in den engen Gängen, stießen dunkle Verwünschungen aus, erwürgten sich auf den göttlichen Stiegen, schleuderten die gleisnerischen Bücher auf den Grund der Tunnels, starben, hinabgestürzt von den Menschen weit entlegener Regionen. Andere wurden wahnsinnig... Die Rechtfertigungen existieren: ich habe zwei gesehen, die sich auf künftige Personen, auf womöglich nicht bloß imaginäre Personen beziehen, aber die Sucher bedachten nicht, daß die Chance, daß ein Mensch die seine oder eine schnöde Spielart der seinen findet, gleich Null ist. Auch erhoffte man sich Aufschluß über die Grundgeheimnisse der Menschheit: den Ursprung der Bibliothek und der Zeit. Wahrscheinlich lassen sich diese gewichtigen Mysterien in Worten erläutern; wenn die Sprache der Philosophen nicht ausreicht, mag die Bibliothek die unerhörte Sprache, die dazu erforderlich ist, hervorgebracht haben, sowie die Wörterbücher und Grammatiken dieser Sprache. Schon vier Jahrhunderte lang durchstöbern die Menschen vergeblich die Sechsecke ... Es gibt amtliche Sucher, Inquisitoren. Ich habe gesehen, wie sie ihres Amtes walteten: sie machen immer einen strapazierten Eindruck, sie sprechen von einer Treppe ohne Stufen, die sie um ein Haar getötet hätte; sie sprechen von Galerien und Treppen mit dem Bibliothekar; manchmal greifen sie nach dem Buch, das ihnen am nächsten zur Hand ist und blättern darin auf der Suche nach ruchlosen Wörtern. Offensichtlich hofft niemand, irgend etwas zu entdecken. Auf die überschwengliche Hoffnung folgte ganz natürlich übermäßige Verzagtheit. Die Gewißheit, daß irgendein Regal in irgendeinem Sechseck kostbare Bücher berge, daß aber diese Bücher unzugänglich seien, erschien nahezu unerträglich. Eine Lästerersekte schlug vor, man solle die Suche einstellen, alle Menschen sollten Buchstaben und Zeichen so lange durcheinanderwürfeln, bis sie auf Grund eines unwahrscheinlichen Zufalls diese kanonischen Bücher zusammenbrächten. Die Behörden sahen sich gezwungen, strenge Anordnungen zu erlassen. Die Sekte verschwand, aber in meiner Kindheit sah ich alte Männer, die lange auf dem Abtritt verweilten, mit ein paar Metallscheiben in einem verbotenen Würfelbecher, kraftlos bemüht, der göttlichen Unordnung zu steuern. Andere waren umgekehrt der Meinung, zuallererst müßten die überflüssigen Bücher ausgemerzt werden. Sie brachen in die Sechsecke ein, zeigten nicht immer falsche Beglaubigungsschreiben vor, blätterten verdrossen in einem Band und verdammten ganze Regale. Ihr hygienischer Asketeneifer trägt die Schuld daran, daß Millionen Bücher sinnlos vernichtet wurden. Heute sind ihre Namen ein Greuel; wer aber die Thesauri beklagt, die ihrer Wut zum Opfer fielen, übersieht zwei allbekannte Tatsachen; die eine: die Bibliothek ist so gewaltig an Umfang, daß jede Schmälerung durch Menschenhand verschwindend gering ist. Die andere: jedes Exemplar ist zwar einzig, unersetzlich, aber da die Bibliothek total ist, gibt es immer einige Hunderttausende unvollkommener Faksimiles, und zwar von Werken, die nur in einem Buchstaben oder Komma voneinander abweichen. Entgegen der allgemeinen Anschauung wage ich die Vermutung, daß die Folgen der von diesen Säuberern verübten Plünderungen wegen des Entsetzens über diese Fanatiker zu hoch eingeschätzt worden sind. Sie waren von dem Wahn getrieben, die Bücher des scharlachroten Sechsecks zu erobern: Bücher kleineren Formats als die natürlichen: allmächtig, erlaucht und magisch. Auch wissen wir von einem anderen Aberglauben jener Zeit: dem an den Mann des Buches. In irgendeinem Regal irgendeines Sechsecks (so dachten die Menschen) muß es ein Buch geben, das Inbegriff und Auszug aller ist: ein Bibliothekar hat es geprüft und ist Gott ähnlich. In der Sprache dieser Zone haben sich noch Spuren des jenem zeitentfernten Beamten geweihten Kults erhalten. Viele begaben sich auf Pilgerschaft nach ihm. Ein Jahrhundert lang schlugen sie umsonst die verschiedensten Richtungen ein. Wie sollte man auch das verehrte Geheim-Sechseck orten, das ihn beherbergte? Jemand schlug eine regressive Methode vor: um das Buch A zu lokalisieren, muß man zuvor ein Buch B heranziehen, das den Ort von A angibt; um das Buch B zu lokalisieren, muß man zuvor ein Buch C und so ins Unendliche… Mit dergleichen Abenteuern habe ich meine Jahre verschleudert und verzehrt. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß es in irgendeinem Regal des Universums ein totales Buch gibt (3), ich flehe zu den unerkannten Göttern, es möge einen Menschen geben — einen einzigen, und habe er vor tausend Jahren gelebt -, der es untersucht und gelesen hat. Wenn Ehre, Weisheit und Glück nicht für mich sind, mögen sie es für andere sein. Möge der Himmel existieren, auch wenn mein Ort die Hölle ist. Mag ich beschimpft und zunichte werden, aber möge in einem Augenblick, in einem Sein Deine ungeheure Bibliothek ihre Rechtfertigung finden. Die Pietätlosen behaupten, daß in der Bibliothek der Unsinn an der Tagesordnung ist und daß das Vernunftgemäße (ja selbst das schlicht und recht Zusammenhängende) eine fast wundersame Ausnahme bildet. Sie sprechen (ich weiß es) von der »fiebernden Bibliothek«, deren Zufallsbände ständig in Gefahr schweben, sich in andere zu verwandeln und alles behaupten, leugnen und durcheinanderwerfen wie eine delirierende Gottheit. Diese Worte, die nicht nur die Unordnung entlarven, sondern sie mit einem Beispiel belegen, liefern einen notorischen Beweis ihres grundschlechten Geschmacks und ihrer verzweifelten Unwissenheit. In der Tat birgt die Bibliothek alle Wortstrukturen, alle im Rahmen der fünfundzwanzig orthographischen Symbole möglichen Variationen, aber nicht einen absoluten Unsinn. Es erübrigt sich zu bemerken, daß der beste Band der vielen Sechsecke, die ich verwalte, Gekämmter Donner betitelt ist, und ein anderer Gipskrampf und wieder ein anderer Axaxas Mlö. Diese auf den ersten Blick unzusammenhängenden Wortfügungen entbehren gewiß nicht einer kryptographischen oder allegorischen Rechtfertigung; diese Rechtfertigung verbaler Art figuriert — ex hypothesi — bereits in der Bibliothek. Ich kann nicht etliche Schriftzeichen kombinieren d h c m r l c h t d j, die nicht die göttliche Bibliothek bereits vorausgesehen hat und die in irgendeiner ihrer Geheimsprachen einen furchtbaren Sinn bergen. Niemand vermag eine Silbe zu artikulieren, die nicht voller Zärtlichkeiten und Schauer ist, die nicht in irgendeiner dieser Sprachen der gewaltige Name eines Gottes ist. Sprechen heißt in Tautologien verfallen. Diese überflüssige und wortreiche Epistel existiert bereits in einem der dreißig Bände der fünf Regale eines der unzähligen Sechsecke — und auch ihre Widerlegung. Eine Zahl möglicher Sprachen verwendet den gleichen Wortschatz: in einigen läßt das Symbol Bibliothek die korrekte Definition zu: überall vorhandenes und fortdauerndes System sechseckiger Galerien, aber Bibliothek ist Brot oder Pyramide oder irgend etwas anderes, und die sieben Wörter, die sie definieren, haben einen anderen Bedeutungswert. Bist du, Leser, denn sicher, daß du meine Sprache verstehst? Die methodische Schrift zieht mich von der gegenwärtigen Verfassung der Menschen ab. Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen. Ich kenne Bezirke, in denen die Jungen sich vor den Büchern niederwerfen und mit ungezügelter Wildheit die Seiten küssen, aber nicht einen Buchstaben verstehen. Die Epidemien, die ketzerischen Zwistigkeiten, die Pilgerzüge, die unvermeidlich in Freibeuterei ausarten, haben die Bevölkerung dezimiert. Ich glaube, ich sprach schon von den Selbstmorden, die jedes Jahr häufiger werden. Vielleicht spielen mir Alter und Ängstlichkeit einen Streich: aber ich hege die Vermutung, daß die Menschenart — die einzige, die es gibt — im Aussterben begriffen ist, und daß die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen, unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim. Ich schrieb: unendlich. Nicht aus rhetorischer Gewohnheit ist mir dieses Adjektiv in die Feder geflossen; ich sage, es ist nicht unlogisch, zu denken, daß die Welt unendlich ist. Wer sie für begrenzt hält, postuliert, daß an weit entfernten Orten die Gänge und Treppen und Sechsecke auf unfaßliche Art aufhören, was absurd ist. Wer sie für schrankenlos hält, der vergißt, daß die mögliche Zahl der Bücher Schranken setzt. Ich bin so kühn, die folgende Lösung des alten Problems zu bedenken zu geben: Die Bibliothek ist schrankenlos und periodisch. Wenn ein ewiger Wanderer sie in irgendeiner beliebigen Richtung durchmessen würde, so würde er nach Ablauf einiger Jahrhunderte feststellen, daß dieselben Bände in derselben Unordnung wiederkehren (die, wiederholt, eine Ordnung wäre, der Ordo). Meine Einsamkeit gefällt sich in dieser eleganten Hoffnung (4). 1941, Mar del Plata. ______________________________________ ______________________________________ l. Das Originalmanuskript enthält weder Kursivschrift noch Majuskeln. Die Interpunktion ist auf Komma und Punkt beschränkt worden. Diese beiden Zeichen, der Raum und die dreiundzwanzig Buchstaben des Alphabets, sind die 25 ausreichenden Symbole, die der Unbekannte aufzählt. 2. Ursprünglich kam auf je drei Sechsecke ein Mann. Fälle von Selbstmord und Lungenkrankheit haben diese Proportion zerstört. Unsagbar schwermütige Erinnerung: manchmal bin ich nächtelang über blanke Gänge und Treppen geirrt, ohne einen einzigen Bibliothekar zu finden. 3. Ich wiederhole: die bloße Möglichkeit eines Buches ist hinreichend für sein Dasein. Nur das Unmögliche ist ausgeschlossen. Zum Beispiel: kein Buch ist zugleich eine Treppe, obwohl es bestimmt Bücher gibt, die diese Möglichkeit erörtern, leugnen oder beweisen, und andere, deren Struktur einer Treppe entspricht. 4. Letizia Alvarez de Toledo hat angemerkt, daß die ungeheure Bibliothek überflüssig ist; strenggenommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestände. (Cavalieri sagt zu Anfang des 18. Jahrhunderts, daß jeder feste Körper die Überlagerung einer unendlichen Zahl von Schichten ist.) Die Handhabung eines derart seidendünnen Vademecums wäre nicht leicht; jedes anscheinende Einzelblatt würde sich in andere gleichgeartete zweiteilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte hätte keine Rückseite.

Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, Erzählungen, Stuttgart: Reclam, 1974, S. 47 – 57.

 

 

 

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20. Lieblingsbuch: Swetlana Geier, "die Frau mit den fünf Elefanten" hat eine ganz neue Dostojewski-Welt eröffnet, eine die ich sprachlich so vollendet vorher nicht kannte:

 

Fjodor Dostojewskij. Der Idiot. Roman

 

ISBN: 978-3-596-13510-3, 916 S. in der Übersetzung von Swetlana Geier, fischer taschenbuch 16.- €

 

 

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881) war ursprünglich Leutnant in St. Petersburg. Er quittierte seinen Dienst 1844, um freier Schriftsteller zu werden. Seine Romane ›Verbrechen und Strafe‹, ›Der Spieler‹, ›Der Idiot‹, ›Böse Geister‹, ›Ein grüner Junge‹, ›Die Brüder Karamasow‹ sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ liegen im Fischer Verlag in der herausragenden Übersetzung von Swetlana Geier vor

 

»Die gesamte Bewegung des Buches gleicht einem ungeheuren Kratereinsturz«, schrieb Walter Benjamin über den Roman Der Idiot, der 1868 als zweiter der großen »Romantragödien« Dostojewskijs erschien. Im Mittelpunkt steht Fürst Myschkin, ein tragischer Don Quijote, der als »wahrhaft guter Mensch« über die dünne Kruste wandelt, unter der die Themen der Zeit widerhallen: Rußland und Europa, östliche Mystik und Religiosität gegen Industrialisierung, Eisenbahnen und Nihilismus. Myschkin kehrt von einem langen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz nach Petersburg zurück. Schon im Zug lernt er Rogoschin kennen, der von seiner Leidenschaft zu Nastassja Filippowna erzählt, einer »gefallenen Frau«. Rogoschin zieht ihn in ein Dreieck; aus den sich auf ihn zustürzenden Figuren kann sich Fürst Myschkin nicht mehr befreien, noch kann er Rogoschin von seinem Mord zurückhalten. Am Ende ist Myschkin wie vor dem Sanatoriumsaufhalt ein »Idiot«, ein heiliger Narr, der dem 19. Jahrhundert und uns, seinen Erben, einen schwarzen Spiegel vorhält.

»Dostojewskijs Stimmen sprechen jetzt«, urteilte die Kritik über Swetlana Geiers Neuübersetzung von Verbrechen und Strafe. Dostojewskij charakterisiert seine Figuren nicht durch lange Beschreibungen, sondern durch ihre Sprechweisen. Mit einem genauen Ohr und großem sprachlichen Einfühlungsvermögen gelingt es Swetlana Geier für diese Idiome deutsche Entsprechungen zu finden: die innere künstlerische Statur der Epochenromane wird zum ersten Mal auf deutsch hörbar.

 

Swetlana Geier im Gespräch: "Dostojewski ist eben sehr modern. Er stellt alle wichtigen Fragen: nach der möglichen Freiheit des Menschen, nach Erkenntnis, nach dem Leben, dem Tod, dem Wesen des Schönen, der Möglichkeit des Glaubens. Er schreibt eigentlich immer über das gleiche: den Menschen in seiner Not, der sich selbst sucht und nicht weiß, wer er ist. Wann kann der Mensch schon sagen, wer er ist? Dostojewski kommt zu dem Schluß: fast nie . . .

Der Übersetzer hat es sehr schwer, einen Autor, den er schätzt, nicht zu verbessern. Aber ich empfinde mich nicht als Künstlerin, sondern als Handwerkerin. Ich würde nie Dostojewski untreu werden, um mir oder anderen einen Gefallen zu tun. Ich gehe den Weg, den der Künstler gebahnt hat. Puschkin hat gesagt, Übersetzer sind die Postpferde der Literatur.

Der Anfang ist immer wahnsinnig schwer. Ich lese, lese immer wieder, das Buch selbst und seinen Umkreis in einem weiten Radius. Bei den "Bösen Geistern" zum Beispiel reicht dieser Radius bis zu dem Anarchisten Bakunin. Dabei entdecke ich Strukturen und Zusammenhänge und lerne so das Buch annähernd auswendig. Ich muß mich vom Text lösen können. Ich muß das Ganze erfassen, den Puls hören.

Meine Anmerkungen sind rein sachlich. Zum Beispiel wenn einer sagt: "Selten habe ich so schlecht in meinem Teller gesessen", dann denkt der Leser, die Russen sitzen in Tellern herum. Es bedeutet aber etwa: "Ich fühle mich nicht wohl." Man muß erklären, daß das eine Verballhornung aus dem Französischen ist. Mehr tue ich nicht. Offen gestanden: Ich übersetze für mich selbst. Für wen klettert ein Alpinist? Für sich selbst..."

 

 

 

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19. Lieblingsbuch: Dieser Schriftsteller hat die Bewohner seines Heimatorts Berg in seinen Romanen nicht geschont.

 

Oskar Maria Graf. Das Leben meiner Mutter

 

Ullstein, gebunden 978-3-548-28874-1, 992 S. 14.- €

 

Geboren 1857, gestorben 1934. Ludwig II., Bismarck, Hitler, der Krieg 1870/71 und der 1. Weltkrieg, die industrielle Revolution und die Weimarer Republik - Resl Heimrath verbrachte ihr Leben in einer Zeit voller Umbrüche. Von Kindheit an war ihr Alltag harte Arbeit und Mühe. Das änderte sich nicht, als sie den Bauernhof ihrer Familie verließ und den Bäckermeister Max Graf heiratete. Sie bekam elf Kinder, von denen acht erwachsen wurden, und blieb trotz aller Ängste, die sie in Kriegs- und Gefahrenzeiten ausstand, der ruhende Pol des Bäckerhauses am Starnberger See. Oskar Maria Graf hat mit diesem Porträt seiner Mutter nicht nur eine Chronik dörflichen Lebens in Oberbayern geschaffen, sondern auch einen sozial- und zeitkritischen Roman von großer poetischer Kraft.

 

Oskar Maria Graf wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren. Von 1911 an lebte er als Schriftsteller in München, war aktiver Teilnehmer an der "Räterepublik". Von Wien aus, seiner ersten Exilstation, protestierte er 1933 mit seinem berühmten »Verbrennt mich!«-Aufruf gegen die Bücherverbrennung. Ab 1938 lebte er in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb.

 

Was von Graf in Erinnerung bleibt, war sein kämpferischer Pazifismus, der ihm in der nachfolgenden Zeit immer wieder Freiheitsstrafen einbrachte. Im Ersten Weltkrieg war er als Eisenbahner an der Ostgrenze. 1916 kam er wegen Befehlsverweigerung vor Gericht, wurde in die Irrenanstalt eingewiesen, wo er in Hungerstreik trat und schließlich aus dem Militär entlassen wurde. Vom Kriegsdienst befreit, schrieb er Pamphlete, beteiligte sich am Streik der Münchner Munitionsarbeiter und unterstützte die Räterepublik, wofür er mehrfach ins Gefängnis kam.

 

“Wir zwei Jüngsten spielten nicht mehr, redeten kaum einmal ein Wort, sahen nur hin und wieder auf und suchten bang ihren Blick. Einmal, als es niemand sah, streichelte sie zart, zitternd und wie beschämt über unser dünnes Haar. Eine große Wärme durchrieselte uns dabei."

(Oskar Maria Graf: Das Leben meiner Mutter)

 

Diese große Wärme zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Unbedingst empfehlenswert, ebenso sein Lebensbericht aus dem Exil: WIR SIND GEFANGENE, ebenso wie seine großartigen Gedichte:

 

HEIMAT ÜBERALL

 

So grün hab' ich das Gras noch nie gesehen,
noch nie den See so blau.
Ich muss verwundert stehen bleiben
Und frage mich: "Was ist geschehen?"
Ich kenne doch die Gegend so genau
und könnte blind das kleinste Ding beschreiben.
Ich denke nicht ans Weitergehen
und schaue nur in dieses Grün und Blau ...

Mir ist, als stünde ich wie in den Kindertagen
erstaunt und dennoch tief bekannt
vor diesem fremden Wasser und den Wiesenstreifen
und ich vermag es nicht zu sagen,
wie mich dieses Wiedersehen übermannt
mit diesem Gras, mit jedem Wellenschlagen,
als würde meine Heimat eine Welt umgreifen,
als wär' ich nicht mehr fremd in diesem Land ...

 

In: Manchmal kommt es, dass wir Mörder sein müssen … Gesammelte Gedichte. Berlin, Matthes & Seitz, 2007

 

 

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18. Lieblingsbuch: Es entfalte „eine bezwingende Mischung aus Leichtigkeit und Tiefe“ sagt Maike Albath, die Kennerin der italienischen Literatur, die im vorigen Jahr in der Buchhandlung zu Gast war:

Natalia GINZBURG. Die kleinen Tugenden

160 Seiten, Verlag: Wagenbach(12. März 2020), ISBN: 978-3803113504, 19.- €

Diese Texte über ihre prägenden Lebenserfahrungen gehören zum Persönlichsten, das Natalia Ginzburg je geschrieben hat. Sie erzählt von der Verbannung ihrer Familie in ein abruzzisches Bergdorf, die mit der Ermordung ihres Mannes Leone durch die Nazis in Rom endet; von der verzweifelten Zeit nach der Befreiung, in der Natalia nicht weiß, was mit dem Leben anzufangen sei; von ihrer Freundschaft mit Cesare Pavese, ihrer Beziehung zu dem Anglistikprofessor Gabriele Baldini und der gemeinsamen Zeit mit ihm in England, das ihr das traurigste Land der ganzen Welt zu sein scheint. Ob sie über ihren Beruf, das Schweigen, die menschlichen Beziehungen oder die großen und kleinen Tugenden schreibt, Natalia Ginzburg gelingt es stets, Lebensstoff so zu gestalten, dass große Literatur entsteht.

 

Natalia Ginzburg, geborene Levi, war eine der bedeutendsten italienischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Ginzburg schrieb zeitweise unter dem Pseudonym Alessandra Tornimparte. Sie entstammte einer jüdischen Familie aus Triest, wo Ginzburg auch ihre Kindheit verbrachte. Ihr Vater und ihre drei Brüder wurden wegen ihres Widerstandes gegen den Faschismus zeitweise inhaftiert. Natalia Ginzburg starb im Alter von 75 Jahren im Oktober 1991 in Rom und ist auf dem Campo di Verano beerdigt.

 

Lesen Sie nach Möglichkeit auch die anderen Bücher: DAS FAMILIENLEXIKON oder SO IST ES GEWESEN
oder DIE STADT UND DAS HAUS oder DIE STIMMEN DES ABENDS oder...

 

„Ich stellte mir immer eine Menge Dinge vor, wenn ich in der Pension auf meinem Bett lag, und dachte, wie schön es wäre, wenn ich heiratete und meine eigene Wohnung hätte. Ich stellte mir vor, wie ich meine Wohnung mit tausend eleganten Kleinigkeiten und Grünpflanzen einrichten wollte, und wie ich dann in einem großen Sessel liegend Taschentücher sticken würde.

Den Mann, den ich heiraten würde, hatte einmal dieses Gesicht, einmal jenes, aber die Stimme war immer dieselbe, und innerlich hörte ich diese Stimme immer dieselben ironischen und zärtlichen Worte wiederholen. Es war eine finstere Pension mit dunklen Tapeten an den Wänden, und im Zimmer neben meinem wohnte die Witwe eines Oberst, die jedes Mal, wenn ich einen Stuhl verrückte oder das Fenster öffnete, mit einer Bürste an die Wand klopfte. Morgens musste ich früh aufstehen, um zu der Schule zu eilen, an der ich unterrichtete. Während ich mich rasch anzog, aß ich ein Brötchen und kochte mir auf dem Spirituskocher ein Ei. Wütend klopfte die Witwe des Oberst mit ihrer Bürste an die Wand, wenn ich im Zimmer herumlief und meine Kleider zusammensuchte, und die Tochter der Pensionseigentümerin, die hysterisch war, kreischte im Badezimmer wie ein Pfau, weil man ihr heiße Duschen verordnet hatte, die sie angeblich beruhigen sollten.

Ich stürzte auf die Straße, und während ich in der eisigen Morgenluft einsam und allein auf die Trambahn wartete, unterhielt ich mich damit, eine Menge seltsamer Geschichten zu erfinden, die mich wärmten; daher kam ich manchmal mit einem so geistesabwesenden und entrückten Gesicht in die Schule, dass es bestimmt recht komisch aussah.“

"Mein Beruf ist das Schreiben, und ich verstehe mich gut und seit langer Zeit darauf. ... Wenn ich Geschichten schreibe, bin ich wie einer, der in seiner Heimat ist, auf den Straßen, die er von klein auf kennt, zwischen den Mauern und den Bäumen, die ihm gehören. Mein Beruf ist es, Geschichten zu schreiben, erfundene Dinge oder Dinge aus meinem Leben, an die ich mich erinnere, aber jedenfalls Geschichten. Dinge, bei denen nicht die Bildung, sondern nur Gedächtnis und Phantasie eine Rolle spielen. Das ist mein Beruf, und ich werde ihn bis zu meinem Tod ausüben."(Natalia Ginzburg, 1964)

Noch einmal zurück zu Maike Albath. Sie hat mehrere Jahre in Italien verbracht und ist eine der profiliertesten Kennerinnen der italienischen Gegenwartskultur. Für ihre Arbeit als Literaturkritikerin erhielt sie 2003 den Alfred-Kerr-Preis.

BISHER ERSCHIENEN IM BERENBERG-VERLAG:

Der Geist von Turin (über Ginzburg, Pavese...)
192 Seiten · Abbildungen · Halbleinen · fadengeheftet
Frühjahr 2010
ISBN 978-3-937834-37-5
EUR 19,00

Rom, Träume (über Pasolini, Moravia, Fellini...)
304 Seiten · Abbildungen · Halbleinen · fadengeheftet
Herbst 2013
ISBN 978-3-937834-65-8
EUR 25,00

Trauer und Licht (über Lampedusa, Sciacia...)
352 Seiten · Abbildungen · Halbleinen · fadengeheftet
Frühjahr 2019
ISBN 978-3-946334-50-7
EUR 25,00

Alle Bücher sind sehr lesenswert und aufwendig gestaltet. Lesen Sie nicht nur Ginzburg, lesen Sie unbedingt auch Maike Albath

 

 

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17. Lieblingsbuch: Marchons, citoyens! ein wirklich umfangreiches Buch, das einzige, das ich 1979 direkt nach Erscheinen atemlos, ohne zwischendurch zu verweilen, über Nacht und Tag und Nacht durchgelesen habe. Da sagen die vom Coronaauschuss, dass Bücher keine Lebensmittel seien...

 

Jules Vallès: "Jacques Vingtras – Das Kind – Die Bildung – Die Revolte"; März Verlag, bei Zweitausendeins, Frankfurt, 1979; 946 S., nur noch antiquarisch

 

"Ich packe Fetzen meines Lebens und nähe sie mit dem Anderer zusammen. Wenn ich Lust habe, so lache ich, wenn demütige Erinnerungen mir durch Mark und Bein fahren, so knirsche ich mit den Zähnen."

»Vallès war Mitglied der Pariser Kommune, und er war ein erbitterter Feind des muffigen Bürgertums seiner Zeit. Sein ganzes Leben war ein Kampf gegen die Konventionen dieses Bürgertums. Folgerichtig schmähte ihn dieses Bürgertum als einen »verbissenen, unerträglichen, auf jede Überlegenheit neidischen Charakter.«

Jules Vallès zeigt in seinem Roman, wie ein Aufrührer, ein Revolutionär entsteht, nämlich nicht durch Theorien, Ideologien, Bücher, romantische Vorbilder, oder weil er zu faul zum Arbeiten ist, sondern durch die Erfahrung des alltäglichen Elends, die Unterdrückung und Verlogenheit in der Familie, durch das Elend der Sinnlosigkeit und Demütigung in der Schule, durch Armut und Arbeitslosigkeit, die den Absolventen der staatlichen Bildungseinrichtungen tagaus, tagein erniedrigen.

Vallès schildert die aufsässigen jungen Intellektuellen am Rande der Gesellschaft, die berühmte Pariser Bohème der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, ihre Wünsche, revolutionären Träume, Konspirationen, die mitunter unfreiwillige Komik ihres elenden Alltags.

Vallès hielt sich selbst für einen Sozialisten. Marx war ihm offensichtlich unbekannt, Proudhon hatte er flüchtig gelesen, Blanqui war er einige Male begegnet. Was er Sozialismus nennt, ist ein arkadischer Traum von der alles heilenden Revolution. Nach Guillotinierung der Bösewichte und der Abschaffung des Staates bricht das Paradies auf Erden an. Ohne sich darüber im klaren zu sein, war Vallès politisch gesehen ein anarchistischer Träumer. Als "Sozialist" begreift er sich als Wortführer des "Volkes", der "Arbeiter".

 

Er beschreibt z: B.Ducasse, ein Junge mit Mohrrübenhaaren und safrangelbem Bartanflug, rollt die Augen, runzelt die Stirn und predigt die Guillotine. "Dünn wie hundert Nägel, Arme wie Streichhölzer, spindeldürre Waden, Gelenke aus Draht, grimassiert und klappert er wie ein Bündel Hampelmänner an einer Ladentür. Zum Totlachen, wenn er den wilden Kasper spielt."

 

Vallès konnte nicht ahnen, daß dieser gefährliche Popanz ein Dichter war, den die Surrealisten der Vergessenheit entreißen und keineswegs zu Unrecht zum größten Dichter seiner Epoche erklären sollten. Dieser Ducasse ist nämlich, wenn nicht alles trügt, niemand anderer als der "Comte de Lautreamont", der eben seinen Ersten Gesang der "Chants de Maldoror" veröffentlicht hatte. Kurz darauf stirbt er vierundzwanzigjährig völlig unbekannt in Paris. Valles überliefert uns also, sieht man von den zeitgenössischen Polizeiberichten über "Ducasse" ab, das einzige authentische Porträt Lautréamonts.

 

Jules Vallès widmete das erste Buch des ›Jacques Vingtras‹ mit dem Titel ›Das Kind‹: »Allen, die in der Schule vor Langeweile umkamen oder zu Haus weinten, die in der Kindheit von ihren Lehrern tyrannisiert oder von ihren Eltern verprügelt wurden.«
Der zweite Teil, ›Die Bildung‹, trägt folgende Widmung: »Denen, die mit Griechisch und Latein genährt, Hungers gestorben sind, widme ich dieses Buch.«
Den dritten Teil, ›Die Revolte‹, widmete Jules Vallès: »Den Toten von 1871. Allen, die als Opfer der sozialen Ungerechtigkeit gegen eine schlecht eingerichtete Welt zu den Waffen griffen und unter der Fahne der Kommune die große Förderation der Schmerzen bildeten, widme ich dieses Buch.«

 

 

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Lieblingsbuch No. 16: Musen, laßt uns etwas Größeres singen!

 

VERGIL. BUCOLICA

 

Bucolica/Hirtengedichte
Studienausgabe, Latein/dt, Reclams Universal-Bibliothek 18133

9783150181331, 8,80 €

 

 

"Tityrus, du ruhst dich unter dem Blätterdach der weitausladenden Buche aus und improvisierst ein Lied, das zum Wald passt, auf der kleinen Hirtenflöte. Wir verlassen das Gebiet der Heimat und seine lieblichen Äcker. Wir fliehen aus der Heimat – du, Tityrus, lehrst die Wälder, das Lied von der schönen Amaryllis im Echo zurückzuwerfen, müßig im Schatten liegend."

 

Landlust kannte auch schon die Antike, und Rom war Großstadt genug, um gerade auch bei seinen kultivierten Bewohnern die Sehnsucht nach einer einfachen und naturnahen Daseinsform zu wecken. Vergil hat das Landleben zu seinem Thema gemacht. In seinen zehn Hirtengedichten ("Bucolica") besingt er die rustikalen Reize.

Publius Vergilius Maro, deutsch gewöhnlich Vergil, spätantik und mittellateinisch Virgilius und später im Deutschen auch Virgil (* 15. Oktober 70 v. Chr. bei Mantua; † 21. September 19 v. Chr. in Brindisi) war ein römischer Dichter und Epiker, der während der Zeit der Römischen Bürgerkriege und des Prinzipats des Octavian (ab 27 v. Chr. Augustus) lebte.
Er stammte aus bäuerlichen Verhältnissen, erhielt aber eine gründliche Ausbildung in Literatur, Rhetorik und Philosophie. In Rom gelangte er in den Kreis des Maecenas und Oktavians, des späteren Kaiser Augustus. Später lebte er zurückgezogen in Neapel und Nola. Er starb auf der Rückkehr von einer Reise nach Griechenland 19 v. Chr. in Brundisium (Brindisi).
Seine Werke, die "Bucolica" (Eklogen), die "Georgica" und die "Aeneis" und deren Gedanken revolutionierten die lateinische Dichtung und sind kurz nach seinem Tode immer wieder abgeschrieben, herausgegeben, kommentiert und intertextuell verarbeitet worden.
Das Epos "Aeneis" liefert den Gründungsmythos, bzw. die Vorgeschichte zur Gründung der Stadt Rom unter Verarbeitung der mythologischen Stoffe aus den homerischen Epen "Ilias" und "Odyssee".

 

"Du hast Glück gehabt, alter Mann, hier zwischen den bekannten Flüssen und den heiligen Quellen wirst du im Schatten die Ruhe finden. Hier wird dich wie gewohnt von der benachbarten Grenze die Hecke, deren Weidengebüsch von den hybläischen Bienen geweidet wird, mit sanftem Gesumme einschlafen lassen; hier wird der Baumscherer am Fuß des hohen Felsens sein Lied in die Lüfte erklingen lassen, und dennoch werden währenddessen weder die dumpf gurrenden Ringeltauben, die du so liebst, noch die Turteltaube von der luftigen Ulme zu gurren aufhören."

 

Solche Sätze, die uns ältere Menschen ja doch sehr erfreuen, stehen da drin. Und weiter:

 

"Hier kannst du dennoch diese Nacht ausruhen auf dem grünen Laubbett. Wir haben mildes Obst, weiche Kastanien und gepresste Milch zur Genüge, und schon rauchen in der Ferne die Dächer der Landhäuser, und die größeren Schatten fallen von den hohen Bergen."

 

 

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15. Lieblingsbuch: Wir fangen noch einmal an, wir geben nicht auf

 

LARS GUSTAFSSON. Risse in der Mauer

960 Seiten Verlag: FISCHER Taschenbuch; ISBN-13: 978-3596172177, 26,99 €

 

In der Romanpentalogie "Risse in der Mauer" sind versammelt: "Herr Gustafsson persönlich", "Wollsachen", "Das Familientreffen", "Sigismund. aus dem Leben eines polnischen Barockfürsten" und "Der Tod eines Bienenzüchters". Eine Zeitreise durch die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts.

 

Lars Gustafsson (1936-2016) war einer der bedeutendsten Autoren Schwedens. Der Romancier, Lyriker und Philosoph lebte und lehrte lange Zeit im Ausland, u.a. an der University of Texas in Austin. Hinzu kamen mehrere Forschungsaufenthalte in Berlin, Bielefeld und Tübingen. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, 2009 erhielt er die Goethe-Medaille, 2015 wurde ihm der Thomas-Mann-Preis verliehen. Bei Hanser erschienen zuletzt Der Dekan (Roman, 2004), Risse in der Mauer (Fünf Romane, 2006), Die Sonntage des amerikanischen Mädchens (Eine Verserzählung, 2008), Frau Sorgedahls schöne weiße Arme (Roman, 2009), Alles, was man braucht. Ein Handbuch für das Leben (mit Agneta Blomqvist, 2010), Das Lächeln der Mittsommernacht. Bilder aus Schweden (mit Agneta Blomqvist, 2013), Der Mann auf dem blauen Fahrrad (Roman, 2013), der Gedichtband Das Feuer und die Töchter (2014), Doktor Wassers Rezept (Roman, 2016) und Etüden für eine alte Schreibmaschine (Gedichte, 2019). Gerade im März dieses Jahres ist sein zusammen mit Agneta Blomqvist verfasstes Kindheitsbuch DOPPELLEBEN erschienen, sehr lesenswert, wie fast alles von diesem liebenswerten Menschen.

 

"Die Welt ist etwas Unerschöpfliches, sie überwältigt uns, wir stehen gelähmt angesichts ihrer Ungleichheit mit uns, ihrer Integrität. du brauchst nicht die physikalische Formel anzusehen, die der Lehrer auf die Tafel schreibt, es reicht, wenn du das Kreidestück in seiner Hand betrachtest, dessen eigentümliche Würde. Dieser kleine Gegenstand kann zu unerschöpflichen Beschreibungen Anlass geben und wie lange du ihn auch beschreibst, bleibt er doch etwas Fremdes, etwas Unerreichbares...

 

Der Roman gibt Einsicht in das Innere, in mögliche Arten, die Welt zu sehen, in eine innere Landschaft, aber nicht deshalb, weil er (durch die Charaktere) einen inneren Verlauf schildert, sondern weil die Erzählung ein innerer Verlauf IST. Ein Roman ist eine innere Landschaft, sichtbar gemacht."

"Warum zum Teufel wird unentwegt von mir verlangt, dass ich mich ändern soll? Warum geschieht nie etwas, das mich verändert?"

 

 

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14. Lieblingsbuch: Gleich vorweg: Lesen Sie alles von diesem Autor, unbedingt...

 

Yasunari Kawabata. Schönheit und Trauer

dtv, 192 S., 978-3423132169

 

Kyoto, die alte japanische Kaiserstadt, ist mit ihren vielen Tempeln und Palästen ein einziges Weltkulturerbe. Man kann sich vorstellen, wie es da aussieht, die Eigenlogik des Kulturtourismus macht alle Orte ähnlich. Auch in Yasunari Kawabatas Roman „Schönheit und Trauer“ fährt der Held nach Kyoto, um das berühmte Neujahrsglockenläuten zu hören, ein Kulturtourist, wenn man so will, auch er.

Aber zugleich reist er, von einer merkwürdig selbstzerstörerischen Kraft getrieben, um die Frau wiederzusehen, die er vor zwei Jahrzehnten verführte und danach hart am Rande des Wahnsinns zurückließ; inzwischen ist sie als Malerin berühmt geworden und lebt mit einer jungen Schülerin zusammen.

 

Kawabata (1899 - 1972) entstammte einer Arztfamilie aus der Handelsmetropole Osaka. Dort kam er 1899 auf die Welt, in einer Zeit des radikalen gesellschaftlichen Umbruchs in Japan. Kawabata wurde schon bald nach seiner Geburt zum Vollwaisen. Nach mehreren Stationen bei immer entfernteren Verwandten landete er 1909 schließlich in einem Internat: Ein scheuer, hoch begabter Einzelgänger, der schon früh Tagebücher schrieb. Kawabata Yasunari erhält 1968 den Nobelpreis für Literatur.

Kawabata studierte englische und japanische Literatur. 1926 wurde er mit seiner längsten Erzählung "Die Tänzerin von Izu" über die Grenzen Japans hinaus bekannt. 1968 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Von 1948 bis 1965 war Yasunari Kawabata Präsident des Japanischen PEN-Zentrums. Er hatte maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der japanischen Literaturszene nach dem Zweiten Weltkrieg. Im April 1972 nahm er sich in seiner Wohnung in der Nähe von Kamakura das Leben.

 

Bei seinen bekanntesten drei Buchtiteln "Schneeland" - auf Deutsch 1957 erschienen - "Tausend Kraniche" und "Ein Kirschbaum im Winter" wird jeweils die Farbe "Weiß" heraufbeschworen. Weiß, wie der Schnee, wie die Federn des Kranichs, weiß auch wie die Blüten des Kirschbaums, die allerdings schon ins Rosa spielen. Im Japanischen, in einem buddhistischen Kontext, deutet "Weiß" auf Trauer, auf Verzicht und Vergänglichkeit, auf Tod - und damit aber auch auf die Möglichkeit des Überwindens hin.

 

Kawabata geht es darum, die Verwicklungen, die Widersprüche, die Knoten, die er in seinen Geschichten knüpft, nicht zu lösen, er belässt sie in ihrer bedrohlichen Rätselhaftigkeit. Der Verzicht auf das deutlich Ausgesprochene wird bei ihm zum Stilmittel. Das Ende ist offen, es liegt in der Fantasie der Leser.

 

 

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13. "Umwege erhöhen die Ortskenntnis" (Doderer)

 

 

Urs Jaeggi. Versuch über den Verrat

 

Luchterhand 1984, leider nur noch antiquarisch

 

In diesem Buch ereignet sich Ungewöhnliches: ein bekannter Autor und Wissenschaftler verlässt die gesicherten Konventionen und begibt sich zwischen die Grenzen von Literatur und Gesellschaftstheorie. Er spricht von sich, seinen Leseerfahrungen (Habermas, Leiris, Rousseau, Anders...), von seinen privatesten Erfahrungen, vom Handeln überhaupt. Wo kommen wir her? Wie richten wir uns ein? Wo und warum scheitern wir und was gelingt?

 

 

 

Sein autobiographischer Roman „Brandeis“ von 1978 muss neben Bernward Vespers Roman „Die Reise“ und Uwe Timms „Heißer Sommer“ (alle drei: unbedingt lesen!) als einer der wichtigsten literarischen Schlüsseltexte der Apo-Revolte gelesen werden. Der Essayist, Maler, Bildhauer und Jazzer Jaeggi (bald 90 Jahre alt) blieb immer ein künstlerischer Freigeist, ein Querdenker, der allen Systemen, Ideologien und Dogmen misstraute. Der Schweizer, der 20 Jahre lang einen Lehrstuhl für Soziologie an der FU Berlin innehatte, schrieb in den 60er Jahren das bis heute lesenswerte Standardwerk „Macht und Herrschaft in der BRD“ Jaeggi gehörte zu den wenigen akademischen Lehrern, die sich selbstkritisch mit der eigenen Position in der universitären Hierarchie auseinandersetzten.

 

Der Schriftsteller ist für ihn ein doppelter «Verräter», weil er sich schreibend verwandelt und sich beim Verraten verrät, also kenntlich macht: «Ich weiss, dass es Aufrichtigkeit beim Schreiben so schwer gibt wie im Leben; anderseits ist jede Zeile überflüssig, wenn dies fehlt», hat er 1981 die Ambiguität des Künstlers formuliert. «Jeden Tag ein Wort weniger», heisst es in einer frühen Erzählung. Auf der Suche nach der eigenen Sprache gilt es, zuerst die zu verlernen, die man spricht.

 

«Ganz bei sich sein. Lebendig, mit jeder Faser, da und versteinert. Steine werfen und der Stein sein, den man wirft.»

 

 

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Lieblingsbuch Nr. 12: ein nachgelassener Roman, der mir viel bedeutet

 

Albert Camus. Der erste Mensch

 

Albert Camus wurde am 7. 11. 1913 bei Annaba (Algerien) als zweiter Sohn einer europäischen Einwandererfamilie geboren. Der Vater, ein Franzose, fiel 1914 im Krieg, die spanischstämmige Mutter musste die Kinder als Putzfrau ernähren und der dominanten Großmutter zur Erziehung überlassen. Camus wuchs in einem armen Stadtviertel Algiers auf. Dort besuchte er die Ecole primaire; 1924 konnte er als Stipendiat in das Lycée von Algier eintreten. 1930 Erkrankung an Lungentuberkulose. Nach dem Abitur Aufnahme eines Philosophiestudiums, das Camus durch Gelegenheitsarbeiten finanziert. Gleichzeitig erste schriftstellerische und künstlerische Versuche. 1934 erste Ehe, die 1940 geschieden wurde. 1938-1940 Arbeit als Journalist bei der progressiven Zeitung «Alger républicain» (später «Soir républicain»). Camus` Artikelfolge über das Elend der algerischen Landbevölkerung und das Verbot der Zeitung machten ihm eine weitere berufliche Betätigung in Algerien unmöglich. Daher 1940 Übersiedlung nach Frankreich. Mit seiner zweiten Frau, Francine Faure, kehrte er 1941 nach Algerien zurück, wo beide als Lehrer arbeiteten. 1942 Kuraufenthalt im französischen Bergland. Eine Anstellung als Lektor bei Gallimard und die Zugehörigkeit als Résistance - Camus übernahm 1944/45 die Leitung der Widerstandszeitung «Combat» - banden ihn zunehmend an Paris. Freundschaftliche Beziehungen zu Sartre und dessen existenzialistischem Kreis. 1946-1952 Reisen in die USA, nach Südamerika und mehrmals nach Algerien. An der mit Härte und Leidenschaft geführten Debatte um «Der Mensch in der Revolte» (1951) scheiterte die freundschaftliche Beziehung zu Sartre. 1958 begann er mit der Arbeit an dem erst 1994 postum veröffentlichten Roman «Der erste Mensch». Am 4. Januar 1960 verunglückte Camus bei einem Autounfall tödlich.

 

 

 

"Der erste Mensch" ist eine Autobiographie, der Roman einer Kindheit wie "Die Wörter" von Sartre, wie "Kindheit" von Nathalie Sarraute, wie "Mannesalter" von Michel Leiris (übrigens alles auch sehr lesenswerte Bücher, mindestens genauso lesenswert wie die bescheidene Auswahl an 100 Büchern, die hier getroffen wurde)– und doch ganz anders. Denn nicht vom Abschied von der Kindheit, vom Erwachsenwerden, vom Ausgang aus der Unmündigkeit ist die Rede, sondern von Ankunft, von Rückkehr. Rückkehr in die Hitze Algeriens, Rückkehr in die Armut, die Unschuld, die Entmündigung, die Einfachheit – im Tagebuch der letzten Lebensjahre spricht Camus von der "natürlichen Schönheit", die der industriellen Revolution geopfert wurde. Der Roman soll vom Unbehagen an der Kultur erzählen. Er soll seinen Helden in das Mutterland der Vorzivilisation, in den Garten Eden der Armen, der Passiven, der Duldsamen zurückführen. Er soll seinen Autor erlösen. Sein ursprünglicher Titel war "Adam".

"Oh ja, so war es, das Leben dieses Kindes war so gewesen, das Leben auf der armen Insel des Viertels war so gewesen, zusammengehalten durch die blanke Not in einer behinderten und unwissenden Familie, mit seinem brausenden jungen Blut, einem unersättlichen Lebenshunger, der ungestümen, gierigen Intelligenz, und während der ganzen Zeit ein Freudenrausch, der nur unterbrochen war von plötzlichen Schlägen, die eine unbekannte Welt ihm versetzte und die ihn in Ratlosigkeit stürzten, von denen er sich aber schnell erholte, danach trachtend, diese Welt, die er nicht kannte, zu verstehen, kennenzulernen, sich anzueignen, und die er sich tatsächlich aneignete, weil er sie gierig in Angriff nahm, ohne zu versuchen, sich in sie einzuschleichen, gutwillig, aber nicht unterwürfig und ohne dass es ihm letztlich je an einer ruhigen Gewissheit fehlte, einer Sicherheit, ja, denn sie stellte sicher, dass er alles, was er wollte, erreichen würde, und dass nichts, was von dieser Welt ist und nur von dieser Welt, ihm jemals unmöglich sein würde, sich darauf vorbereitend (und auch durch die Kargheit seiner Kindheit darauf vorbereitet), sich überall zu Hause zu fühlen, weil er sich kein Zuhause wünschte, sondern nur Freude, freie Menschen, Kraft und alles, was das Leben an Gutem, Geheimnisvollem und dem hat, was man nicht kaufen kann und nie wird kaufen können."

 

«Inszeniert wie ein Roman, enthält ‹Der erste Mensch› eine bewegende Autobiographie der algerischen Kindheit Albert Camus´: das intimste Selbstzeugnis, dass der diskrete und scheue Autor hinterlassen hat.» (Der Spiegel) Gespiegelt in der Figur Jacques Comery erzählt Camus von seiner Kindheit, die er mit seiner fast tauben, analphabetischen Mutter und einer dominanten Großmutter im Armenviertel Algiers verbringt. Auf der Suche nach einer Vaterfigur beginnt er, über die eigene Herkunft zu reflektieren.
[Das handgeschriebene Manuskript wurde bei dem tödlichen Autounfall Camus’ in seiner Mappe gefunden. Es erscheint hier, ohne dass an dem unkorrigierten Fragment Änderungen vorgenommen wurden.]

 

„Schon die Erinnerung der Armen wird weniger genährt als die der Reichen, sie hat weniger Anhaltspunkte im Raum, denn sie verlassen selten den Ort, an dem sie leben, auch weniger Anhaltspunkte in der Zeit eines eintönigen grauen Lebens. Gewiß, es gibt die Erinnerung des Herzens, von der es heißt, sie sei die sicherste, aber das Herz nutzt sich in Not und Arbeit ab, es vergißt unter der Last der Anstrengungen schneller. Die verlorene Zeit wird nur bei den Reichen wiedergefunden. Für die Armen markiert sie nur die undeutlichen Spuren des Weges zum Tode.“

 

 

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11. Lieblingsbuch: Angesichts der ökologischen Katastrophe, in die wir schlittern, hatte er aufgehört zu schreiben, für mich ist er einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur:

 

Wolfgang Hildesheimer. Tynset

suhrkamp taschenbuch 1968, Taschenbuch, 269 Seiten
ISBN: 978-3-518-38468-8

 

Wolfgang Hildesheimer, 1916 in Hamburg geboren, ging 1933 über England nach Palästina. Er war zunächst Maler und Graphiker, bevor er Schriftsteller wurde. Während des Zweiten Weltkriegs war Hildesheimer englischer Informationsoffizier in Palästina. Bei den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg arbeitete er als Simultandolmetscher. Ab 1950 lebte und arbeitete Hildesheimer als freier Schriftsteller in Poschiavo/Graubünden, wo er 1991 starb. Hildesheimer war Mitglied der Gruppe 47 und Büchnerpreisträger.

 

"Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts."

 

Tynset" - das ist der magische Pol eines exzessiven Monologs, in dem ein Ich-Erzähler in einer langen schlaflosen Nacht das Inventar seines Lebens und seines Bewußtseins ausbreitet. Wortreiche Bekenntnisse, akribische Selbstbeobachtung, quälende Erinnerungen und auswuchernde Halluzinationen ordnen sich zueinander in einer kunstvollen Komposition. Walter Jens empfiehlt Tynset als ein Buch, "das wir getrost den nach uns Kommenden vorzeigen können, weil es mehr als andere Bücher von unserem Bewußtsein und unserer Einsamkeit, von unseren Zwiesprachen mit der Geschichte, unserer Hoffnung und unserer Todesangst sagt.

 

„Wer Nazi ist, bestimme ich. Diese Maxime, die ich mir und für mich vor dreiunddreißig Jahren, nach meiner Rückkehr nach Deutschland als Besatzungsangehöriger gesetzt habe, die sich mir, mit und trotz ihrer irrationalen Komponente, aufgedrängt hat, mag manchem überheblich, falsch oder sogar verwerflich erscheinen. Für mich hat sie sich als richtig erwiesen, ich habe sie niemals überprüfen oder revidieren müssen.“ — Wolfgang Hildesheimer DIE ZEIT, Nr. 46, 9. November 1979.

 

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Intermezzo

 

SUSAN SONTAG. Ein Brief an Borges

13. Juni 1996 New York Lieber Borges, da Ihre Literatur immer im Zeichen der Ewigkeit stand, mag es als nicht allzu seltsam erscheinen, wenn ich einen Brief an Sie richte. (Borges, es ist schon zehn Jahre her!) Wenn je ein Zeitgenosse für literarische Unsterblichkeit bestimmt schien, dann waren es Sie. Sie waren in großem Maße das Produkt Ihrer Zeit, Ihrer Kultur, und doch verstanden Sie sich darauf, Ihre Zeit, Ihre Kultur auf eine Weise zu transzendieren, die ganz zauberisch anmutet. Das hatte etwas mit der Offenheit und Großzügigkeit Ihrer Hinwendung zu tun. Sie waren der am wenigsten egozentrische, transparenteste aller Schriftsteller, wie auch zugleich der kunstreichste. Es hatte auch etwas mit einer natürlichen Reinheit des Geistes zu tun. Obwohl Sie recht lange Zeit unter uns gelebt haben, haben Sie Gepflogenheiten der Sorgfalt und der Unvoreingenommenheit vervollkommnet, die Sie auch zu einem kundigen Reisenden des Geistes in andere Epochen machten. Sie hatten einen Zeitsinn, der sich von dem anderer Menschen unterschied. Die normalen Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schienen unter Ihrem Blick banal. Sie sagten gern, daß jeder Moment der Zeit die Vergangenheit und die Zukunft beinhalte, indem Sie (wie ich mich erinnere) den Dichter Browning zitierten, der ungefähr geschrieben hat: »Die Gegenwart ist der Augenblick, in dem die Zukunft zur Vergangenheit zerfällt.« Das war natürlich Teil Ihrer Bescheidenheit: daß Sie gern Ihre Gedanken in den Gedanken anderer Schriftsteller wiederfanden. Ihre Bescheidenheit war Teil der Gewißheit Ihrer Gegenwart. Sie waren ein Entdecker neuer Freuden. Ein so profunder, so gelassener Pessimismus wie der Ihre konnte von Empörung absehen. Er mußte eher erfinderisch sein – und Sie waren vor allem erfinderisch. Die Gelassenheit und die Selbsttranszendenz, zu denen Sie gefunden haben, sind für mich beispielhaft. Sie haben gezeigt, daß man nicht unglücklich sein muß, selbst wenn man einen klaren Blick und keine Illusionen hinsichtlich dessen hat, wie schrecklich alles ist. Irgendwo haben Sie gesagt, daß ein Schriftsteller – taktvoll haben Sie hinzugefügt: alle Menschen – denken muß, daß alles was einem zustoßen kann, eine Ressource ist. (Sie haben dabei an Ihre Erblindung gedacht.) Sie sind für andere Schriftsteller eine große Ressource gewesen. 1982 – also vier Jahre vor Ihrem Tod – habe ich in einem Interview gesagt: »Es gibt keinen heute lebenden Schriftsteller, der mehr für andere Schriftsteller bedeutet als Borges. Viele würden sagen, daß er der größte lebende Schriftsteller ist[...] Nur sehr wenige Schriftsteller unserer Zeit haben nicht von ihm gelernt oder ihn nachgeahmt.« Das gilt immer noch. Wir lernen immer noch von Ihnen. Wir ahmen Sie immer noch nach. Sie haben den Menschen neue Weisen des Imaginierens gegeben, während Sie wieder und wieder erklärten, wieviel wir der Vergangenheit verdanken, vor allem der Literatur. Sie haben gesagt, daß wir der Literatur fast alles schulden, was wir sind und was wir gewesen sind. Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls verschwinden. Ich bin sicher, daß Sie recht haben. Bücher sind nicht nur die beliebige Summe unserer Träume und unser Gedächtnis. Sie bieten uns auch das Vorbild für Selbsttranszendenz. Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art von Flucht: eine Flucht aus der »wirklichen« Welt des Alltags in eine imaginäre Welt, die Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Bücher jetzt als eine gefährdete Gattung gelten. Mit Büchern meine ich auch die Bedingungen des Lesens, die Literatur und ihre Wirkung auf die Seele ermöglichen. Bald, so sagt man uns, werden wir uns jeden »Text« auf einen »Bücherschirm« abrufen, und wir werden in der Lage sein, sein Erscheinungsbild zu verändern, Fragen an ihn zu stellen, mit ihm in »Interaktion« zu treten. Wenn Bücher zu »Texten« werden, mit denen wir gemäß Nützlichkeitskriterien in »Interaktion« treten, wird das geschriebene Wort schlicht zu einem weiteren Aspekt unserer von der Werbung gesteuerten televisuellen Realität. Das ist die glorreiche Zukunft, die geschaffen wird und uns verheißen wird als etwas »Demokratischeres«. Es bedeutet natürlich nichts Geringeres als den Tod der Innerlichkeit – und des Buches. Dann wird es nicht mehr nötig sein, eine große Feuersbrunst zu entfachen. Die Barbaren brauchen die Bücher nicht zu verbrennen. Der Tiger ist in der Bibliothek. Lieber Borges, bitte verstehen Sie, daß es mir keine Befriedigung bereitet zu klagen. Doch an wen wären solche Klagen über das Geschick von Büchern – des Lesens selbst – zu richten, wenn nicht an Sie? (Borges, es ist schon zehn Jahre her!) Ich will ja bloß sagen, daß Sie uns fehlen. Mir fehlen Sie. Sie sind immer noch von großer Bedeutung. Die Epoche, in die wir jetzt eintreten, dieses  einundzwanzigste Jahrhundert, wird die Seele in ganz neuer Weise auf die Probe stellen. Doch Sie dürfen versichert sein, daß einige von uns die Große Bibliothek nicht im Stich lassen werden. Und Sie werden weiterhin unser Patron und unser Held sein. Susan

 

 

 

 

Susan Sontag Worauf es ankommt Essays Übersetzt aus dem Englischen von Jörg Trobitius  ISBN-13: 978-3-446-16019-4 Hanser Verlag

 

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Lieblingsbuch No. 10: Was ist ein menschlicher Raum?

 

Gaston Bachelard. Poetik des Raumes

Fischer Taschenbuch 1987, 978-3-596-27396-6, 12,99 €

 

Gaston Bachelard (1884-1962) war ein französischer Philosoph, der sich mit Wissenschaftstheorie und Dichtung gleichermaßen beschäftigte. In Wissenschaft wie künstlerischer Imagination sah Bachelard zwei unterschiedliche, aber gleichwertige Möglichkeiten, sich der Differenz des Neuen zu öffnen, als Mensch zu wachsen

 

 

Bachelards Interesse gilt den einfachen poetischen Bildern, die den Leser eines Gedichts oder eines Romans beunruhigen, ihn nicht mehr loslassen, »in ihm Wurzeln schlagen«. Woher rührt diese Macht des Bildes? Die Psychoanalyse hat - z. B. mittels der Traumdeutung - versucht, das Bild intellektuell aufzulösen und auf einen verborgenen Wunsch zurückzuführen. »Der Analytiker erklärt die Blume aus dem Dünger«, hält Bachelard dem entgegen; seiner Auffassung nach ist das poetische Bild etwas absolut Ursprüngliches, die Einbildungskraft daher eines der tiefsten menschlichen Vermögen. Um diese These zu untermauern, untersucht Bachelard einfache, zumeist positiv besetzte Bilder des Raumes, die in den Dichtungen aller Sprachen häufig wiederkehren. Zunächst Bilder intimer Räumlichkeit: das Haus, der Schlupfwinkel, die Höhle; sodann die »Häuser der Dinge«: Schubladen, Truhen, Nester und Muscheln; schließlich der Gegensatz von Drinnen und Draußen und das Bild der Rundheit. In unakademischer, selbst wiederum bildhafter Sprache begründet damit Bachelard ein Verfahren vergleichender Literaturwissenschaft, das prinzipiell von jedem Leser nachvollziehbar ist: eine Theorie des »Widerhalls« von Literatur im Geiste des Lesers.

 

In Bezug auf die Räume eines Hauses wies Bachelard darauf hin, dass „das Hausbild zur Topographie unseres intimen Wesens geworden zu sein scheint“. Darüber hinaus ist ein äußerer Raum ein Spiegelbild einer inneren Welt. Gaston Bachelard weist darauf hin, dass Häuser Schutz bieten. Die Räume eines Hauses sind gelebte Räume. Sie haben daher wenig mit Geometrie oder Architektur zu tun. Jeder Ort und jedes Objekt hat Erinnerungen und Bedeutungen aufgrund der Dinge, die sie gesehen haben.

 

 

9. Lieblingsbuch: Die Geschichte eines leidenschaftlichen Säufers, warum mir das so nahe geht, keine Ahnung, das weiß man beim Lesen ja nie...

 

THOMAS WOLFE. SCHAU HEIMWÄRTS ENGEL

 

Manesse Verlag, München 2009
ISBN 9783717521822
Gebunden, 781 Seiten, 29,90 EUR

Neuübersetzung

 

„Schau heimwärts, Engel“, erschienen 1929, ist ein episodischer scheinbar autobiographischer Roman. Mit seinem Protagonisten Eugene bohrt sich Wolfe hinein in die eigene Geschichte – inklusive der Vorgeschichte der Eltern, deren kinderreiche Ehe einer Kollision von Naturgewalten ähnelt. Eugene wird geboren im Jahr 1900, als jüngster Sohn des pennsylvania-deutschen Steinmetzes Oliver Gant, zuständig für Grabsteine, Marmorengel und Friedhofsschmuck und ein schwerer Quartalssäufer. Nach Jahren des Umherwanderns und einer tragisch geendeten ersten Ehe hat er sich niedergelassen in Altamont am Fuß der Appalachen. Aus seiner Heimatstadt Asheville formte Wolfe diesen Luftkurort – und die Bürger waren über seine Beschreibungen des Kleinstadtlebens nicht weniger verstimmt als die Lübecker, die sich in den „Buddenbrooks“ karikiert sahen.

 

Thomas Wolfe: ein zwei Meter großer Melancholiker aus den Appalachen North Carolinas, dem nachgesagt wurde, er besitze ein nahezu unfehlbares Erinnerungsvermögen, schreibe stehend mit einem riesigen Kühlschrank als Schreibpult, trinke täglich eine Gallone Kaffee und verschlinge riesige Steaks, als seien es Kartoffelchips. Und die ganze Weltliteratur von Homer über die Bibel bis zu Melville, Joyce und DosPassos habe er auswendig gekannt (oder erahnt) als ausgesprochen linker und fortschrittlicher Kulturkonservativer. Und seine Manuskripte, wenn sie an den Verlag gingen, seien von Möbelpackern weggetragen worden, so umfangreich seien sie gewesen, und nachdem die Lektoren die Manuskripte um neunzig Prozent gekürzt hätten, habe man für den Transport immer noch ein Taxi gebraucht.

 

"In den heißen versiegelten Verliesen ihrer Behausungen lernte er die wilde, auf Betten räkelnde Anmut ihrer Körper kennen, ihr volltönendes Lachen, ihren Geruch nach tropischen Dschungeln, vermischt mit dem Duft brutzelnden Essens und kochender Wäsche S. 158f

 

Manesse Verlag, München 2009
ISBN 9783717521822
Gebunden, 781 Seiten, 29,90 EUR

 

 

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8. Lieblingsbuch: ein schräger Vogel aus dem Hause Oulipo:

 

Georges Perec. Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung

 

Diaphanes-Verlag 978-3035800449, 2017, 25.- €

 

 

Dreh- und Angelpunkt von Georges Perecs Kult­klassiker ist ein Pariser Mietshaus, das in 99 Kapiteln ebenso viele Zimmer vorstellt, und deren exakt 1467 Figuren zählendes Personal (Bewohner und Besucher, Vorgänger und Liebhaber, Verwandte und Verflossene…) an einem Roman sondergleichen weben, an Romanen im Plural. Unwiderstehlich hineingezogen in ergreifende, tragische, witzige, unwahrscheinliche, verrückte Erzählungen lesen wir von Einsamkeit und Verstrickung, Scheitern und Glück und dabei stets große Literatur. Das Leben. Gebrauchsanweisung entwirft ein kaleidoskopisches Panorama, ein kunstvoll gestaltetes Puzzle der menschlichen Existenz.

 

Georges Perec war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.

 

«Mir träumte, Georges Perec sei drei Jahre alt und komme mich besuchen. Ich umarmte ihn, ich küsste ihn, und während er mit der Achterbahn von Astroland fuhr, sprach ich zu mir selbst: Ich bin zwar ein Taugenichts, aber um auf dich aufzupassen, dazu reicht es noch, niemand wird dir etwas antun, niemand wird versuchen, dich zu töten. Dann begann es zu regnen, und wir gingen still nach Hause. Aber wo war unser Zuhause?» Roberto Bolaño

 

In der Literatur gibt es immer wieder solche Aufstiege ins Absolute, von Homers Irrfahrten durch die Fremde ins Eigene über Dantes Höllensturz, aus den Kerkern des Marquis de Sade, von Rimbauds Schweigen bis hin zu diesem Roman, der auf dem komplexesten mathematischen Regelwerk gründet, das je für ein literarisches Werk geschaffen wurde.

 

Man sollte nicht aufhören, Perec zu lesen. Anfangen könnte man mit EIN MANN DER SCHLÄFT

 

Diaphanes Verlag, Zürich 2012
ISBN 9783037342411
Kartoniert, 110 Seiten, 10,00 EUR,

 

auch einem persönlichen Lieblingsbuch (Die selbstgestellte Aufgabe ist es aber, einen Autor nicht mehrmals zu nennen, so ist das ein gewaltiger Beschiss, aber in diesem Fall muss es sein): ALSO UNBEDINGT LESEN:

 

In der winzigen Pariser Mansarde klingelt wie jeden Morgen der Wecker. Heute gälte es, das Examen anzutreten doch der junge Mann steht nicht auf. Er beschließt, an diesem Leben, das ihm nichts mehr zu geben hat, keinen Anteil mehr zu nehmen. Während über den Dächern von Paris die Sommerhitze brütet, überlässt er sich einem gefährlichen Selbstexperiment. Georges Perecs drittes Buch ist die Geschichte einer radikalen Verweigerung. Noch vor der Oulipo-Zeit entstanden, ist dieser ganz in der Du-Perspektive geschriebene Roman eine Meditation über den Stillstand, eine Etüde über die Leere. Die brüchige Schönheit, die Perec der Selbstisolation verleiht, und die außergewöhnliche literarische Qualität machen "Ein Mann der schläft" (1967) zu einem modernen Urtext der Melancholie, der eine ganze Schriftstellergeneration inspirierte.

 

 

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7. Lieblingsbuch: jetzt wird’s leidenschaftlich aber düster

Emily Brontë. Sturmhöhe

Lesebändchen, Leinen, geprägt und bedruckt, Dünndruckpapier, farbiges Vorsatzpapier, herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Schlüter, Büchergilde Gutenberg Umschlaggestaltung von Marion Blomeyer, 640 Seiten, 32.-€

Sturmhöhe (Originaltitel: Wuthering Heights) ist der einzige Roman der englischen Schriftstellerin Emily Brontë (1818–1848). Der 1847 unter dem Pseudonym Ellis Bell veröffentlichte Roman wurde vom viktorianischen Publikum weitgehend abgelehnt, heute gilt er als ein Klassiker der britischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts.

Wie ein Sturm, der über das Moor zieht, rüttelt Emily Brontës einziger Roman bis heute an der romantischen Vorstellung von Liebe. Denn er zeigt auch deren Zerstörungskraft. Auf einer Anhöhe im Hochmoor von Yorkshire liegt Wuthering Heights, der Gutshof der Earnshaws. Hier wachsen Catherine und ihr Stiefbruder Heathcliff auf – ihre innige Beziehung wild und ungezähmt wie die Natur um sie herum.

Die Neuübersetzung von Wolfgang Schlüter macht Brontës ursprüngliche Sprache spürbar: grob und aggressiv, leidenschaftlich und poetisch – durchtränkt vom harten Dialekt ihrer Heimat West Yorkshire.

Den Stoff zu diesem außerordentlichen Roman gewann sie während ihrer täglichen stundenlangen Spaziergänge durch die Moor- und Heidelandschaft. Jeden Morgen ihre ängstliche Frage: „Wird’s ein heller Tag oder ein trüber?“ In Gedichten hatte sie eine erste Antwort versucht:

„Hoch wogende Heide in Böen sich beugend/ Mitternacht Mondlicht und Sternenflitter; Glanz und Finsternis sich vereinend / Die Erde steigend der Himmel sich neigend / Die Seele aus dumpfem Kerker treibend / Die Bande zerreißend, zerbrechend die Gitter.“

Die Schwester Charlotte hat die Besonderheit Emilys früh erkannt:

„In ihrer Natur schienen sich äußerste Kraft und Einfachheit zu begegnen … Doch … zwischen ihr und der Welt hätte immer ein Vermittler stehen müssen. Ihr Naturell war großmütig, doch auch jäh und hitzig; und ihr Geist völlig unbeugsam.“

Arno Schmidt nannte die Brontës „die taubengrauen Schwestern“

 

 

 

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Lieblingsbuch No. 6: Eine Autorin, die ich ganz besonders schätze, diesmal mit Essays zur Literatur und zum Schreiben-am 22.10.2020 kommt sie, so Corona will, im Rahmen der Veranstaltungsreihe Böll & Hofstätter wieder zu einer Lesung nach Saarbrücken

MARION POSCHMANN. Mondbetrachtung in mondloser Nacht.
Über Dichtung.

suhrkamp taschenbuch 4666, Klappenbroschur, 218 Seiten
ISBN: 978-3-518-46666-7, 2016 erschienen

Die Literatur lässt uns den Mond sehen, auch wenn er nicht scheint. Sie ist die immateriellste aller Künste, die ganze Welten aus dem Nichts erschafft. Erstaunlich. Wie gelingt ihr das eigentlich? Sie ist die Kunstgattung, die die Einbildungskraft am deutlichsten herausfordert. Sie lässt Abwesendes zur Anwesenheit werden, und sie stellt damit das in Frage, was wir gemeinhin für die Wirklichkeit halten.
Dieser Band versammelt eine Reihe von Betrachtungen: Texte, die im Wortsinn etwas bedenken, etwas erwägen – etwa das Wesen der Schönheit. Jede einzelne dieser Betrachtungen ist eine Schule des Sehens, die uns das Unbekannte, das Geheimnis am vermeintlich Bekannten erschließt. Und die uns Einblick gibt in die Denk- und literarischen Verfahrensweisen einer der virtuosesten Lyrikerinnen und aufregendsten Prosaistinnen der Gegenwart.

„Dichtung vollbringt das Unmögliche: Sie evoziert Bilder im Raum, hält die flüchtige Welt für Momente fest, läßt das Unsichtbare sichtbar werden. Aber das erstaunlichste dabei ist, sie stellt Bilder in einen Raum, den es vorher nicht gab. Und sie läßt uns umgekehrt fragen, in welchem Raum eigent- lich das stattfindet, was wir für unsere Alltagswelt halten.“

In ihrem Lyrikband GELIEHENE LANDSCHAFTEN aus dem gleichen Jahr heißt es:

„Dunkel bemooste Wolken wandern
über nur flüchtig vorhandene Berge
und treiben weiter
in etwas hinein,
was gut und gerne das Nichts
sein könnte,
wäre es nicht bereits
etwas, Verhangenheit, Teil eines Parkplatzes,
vollkommen leer, bis auf ungezählte,
mit weißer Markierungsfarbe umrissene
Buchten.“

 

 

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5. Lieblingsbuch, ein moderner Klassiker...

 

Antoni Tabucchi. Erklärt Pereira

 

Originalausgabe: Sostiene Pereira. Una testimonianza, 1994 Übersetzung: Karin Fleischanderl Carl Hanser Verlag, München 1995 Taschenbuch: dtv, München 1997 ISBN: 3-423-12424-5, 212 Seiten

 

Lissabon in der Zeit der faschistischen Diktatur Ende der dreißiger Jahre: Das Leben des politisch desillusionierten, zurückgezogen lebenden Kulturredakteurs Pereira ändert sich, als er den jungen Widerstandskämpfer Monteiro Rossi trifft. In ihm erkennt Pereira das Abbild der eigenen verschütteten jugendlichen Ideale. Ein langsamer Entwicklungsprozeß setzt ein, der ihn aus der Lethargie führt und zur Handlung veranlaßt. Der Roman wurde in Italien mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt. guter Film, aber lesen Sie lieber das Buch, es ist subtiler... Sicher ist es eines der wichtigsten Bücher, in dem Zivilcourage die entscheidende Rolle spielt. Antonio Tabucchi war ein engagierter Intellektueller, der oft im europäischen und internationalen Kontext Stellung bezog und sich für die Menschenrechte einsetzte.

 

Antonio Tabucchi (1943-2012), eine der bedeutendsten Stimmen der europäischen Literatur, war Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Essays und Bühnenstücken und Herausgeber der italienischen Ausgabe der Werke Fernando Pessoas. Er lehrte Portugiesische Sprache und Literatur und schrieb für zahlreiche italienische und ausländische Zeitungen. Sein Werk wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt und mit vielen wichtigen Preisen ausgezeichnet, darunter der Premio Campiello, der Prix Médicis Etranger, der Prix Européen de Littérature und der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur.

 

In einem anderen Buch Tabucchis ("Es wird immer später", lesen Sie auch dieses Buch Tabucchis sowie seine zahlreichen anderen, es lohnt sich, man wird von diesem Autor sehr selten oder nie enttäuscht):

 

Der Sinn eines Lebens kann jedoch auch darin bestehen, unsinnigerweise verschwundene Stimmen zu sammeln und vielleicht eines Tages zu glauben, sie gefunden zu haben, eines Tages, wenn man schon gar nicht mehr damit gerechnet hat, eines Abends, wenn man bereits müde und alt ist und im Mondschein spielt und alle die Stimmen einsammelt, die aus dem Sand kommen. Und man denkt, es sei kein Wunder, denn wir brauchen keine Wunder, die überlassen wir gerne den anderen. Und dann, denkt man, war es vielleicht nur eine Illusion, eine erbärmliche Illusion, die dennoch einen Augenblick lang wahr war, solange man gespielt hat. Und nur deshalb hat man gelebt, und man glaubt, dass die Sinnlosigkeit dadurch einen Sinn bekommt, meinst Du nicht auch?

 

 

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4. Liegsbuch, Lyrik, oh Gott...

 

Wislawa Szymborska
Der Augenblick/Chwila - Gedichte

Bibliothek Suhrkamp 1396, Gebunden, 111 Seiten
ISBN: 978-3-518-22396-3 - 14.- €

 

 

Es ist neun Uhr dreißig Ortszeit.
Alles an seinem Platz und in manierlicher Eintracht.
Im Tal ein kleiner Bach als kleiner Bach.
Ein Pfad in Gestalt eines Pfades von immer nach immer.
Der Wald scheinbar ein Wald von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen,
und oben die Vögel im Flug in der Rolle fliegender Vögel.

So weit das Auge reicht, herrscht hier der Augenblick.
Einer der irdischen Augenblicke,
die man zu verweilen bittet.

 

Mit diesen beiden Strophen endet das Gedicht „Der Augenblick“, das diesem Buch der polnischen Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska den Titel gegeben hat, und das ein eindrückliches Beispiel für die täuschend unaufwendige Einfachheit bietet, mit der diese Lyrikerin ihre Zweifel an der bloßen Wahrnehmung sät.

 

Wisława Szymborska wurde am 2. Juli 1923 in Bnin (heute Kórnik, Polen) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten polnischen Autorinnen ihrer Generation und wurde 1996 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. In den 1980er Jahren engagierte sich Szymborska im oppositionellen Untergrund der Solidarność und arbeitete für verschiedene Zeitschriften, darunter die in Paris erscheinende Exilzeitschrift »Kultura«. In Deutschland sind ihre Werke zumeist in der Übersetzung von Karl Dedecius erschienen. Szymborska verstarb am 1. Februar 2012 in Krakau.

 

Sie sagte: Czesław Miłosz sagte mir einmal, er beginne beim Schreiben mit dem ersten Satz. Und ich fange oft mit dem letzten an. Und dann ist es sehr schwer, sich zum Anfang des Gedichts hochzuarbeiten.

 

Für mich ist sie eine der bedeutendsten Schriftsteller(innen) des 20. Jahrhunderts. Jede Zeile gelesen-versprochen-und keine bereut.

 

 

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3. Lieblingsbuch, endlich, ein Klassiker, ein Russe und was für einer:

 

Iwan A. Gontscharow
Oblomow. Ein Roman in vier Teilen

EUR 16,90 € [DE], EUR 17,40 € [A]
dtv Literatur
Neu übersetzt von Vera Bischitzky
848 Seiten, ISBN 978-3-423-14279-3

1859 erstmals erschienen

"In der Gorochowaja, in einem jener großen Häuser, deren Bewohner für eine ganze Kreisstadt langen würden, lag eines Morgens Ilja Iljitsch Oblomow im Kabinett seiner Wohnung im Bett."

 

Ilja I. Oblomow, 32 Jahre alt und gut aussehend, liegt in einem weiten, abgetragenen Schlafrock auf dem Sofa seiner St. Petersburger Wohnung. Obwohl es schon zehn Uhr ist, hat er sich noch nicht einmal gewaschen. Sein Diener Sachar liegt im Nebenzimmer auf der Ofenbank und döst vor sich hin. Gelegentlich fegt er die Böden, doch die Ecken lässt er aus. Manchmal wischt er auch die Tische ab – aber nur diejenigen, auf denen nichts steht.

 

 

Iwan Aleksandrowitsch Gontscharow wurde am 18. 6. 1812 in Simbirsk als Sohn eines Kaufmanns geboren. Nach dem Studium der Literatur war er einige Jahre im Staatsdienst tätig. Seine Karriere als Zensor und Spießbürger und gefeierter Romancier des russischen Realismus begann 1847 mit dem ersten Roman »Eine alltägliche Geschichte« und erreichte ihren Höhepunkt mit »Oblomow« (1859). Gontscharow starb am 27. 9. 1891 in St. Petersburg.

 

[…] Die Sonne verschwindet hinter dem Wald. Sie wirft noch einige laue Strahlen, die als feurige Bänder den ganzen Wald durchschneiden und die Wipfel der Föhren mit leuchtendem Gold überfluten. Dann verlöschen die Strahlen einer nach dem anderen; nur der letzte verharrt noch lange; er drängt wie eine feine Nadel durch das Dickicht der Zweige; nun ist auch dieser erloschen.

Die Gegenstände verlieren ihre Form: alles verschwimmt zuerst zu einer grauen, dann zu einer dunklen Masse. Der Gesang der Vögel läßt allmählich nach, jetzt verstummen sie alle – bis auf einen besonders hartnäckigen Sänger, der wie zum Trotz inmitten der allgemeinen Stille allein sein monotones Lied weiterzwitschert, es aber auch schon immer häufiger unterbricht, schließlich noch ein letztes Mal schwach und falsch pfeift, sich aufplustert, daß die Blätter rings um ihn leicht erzittern – und einschläft. […]

 

Er ist kein Faulpelz, dieser Oblomow, neinnein, er ist der große Verweigerer in der russischen Literatur...

 

 

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2. Lieblingsbuch: Die Nummerierung entspricht übrigens keiner inneren Reihenfolge:

GEORGES PERROS. KLEBEBILDER

Georges Perros notiert, ebenso frenetisch wie faul, ebenso verwegen wie verzweifelt. Alles kann zum Anlass werden: Gelesenes nicht weniger als das gewöhnliche Leben, der ganz normale Wahnsinn. Er notiert voller Witz, er kalauert, er gaukelt nicht weniger als er moralisiert. Nie schreibt er, was er will, aber immer nach Lust und Laune. Vor allem: Er erspart sich nichts, geht immer aufs Ganze. Vielleicht hat nie jemand das Leben mehr geliebt, »das Gedicht des Menschen ohne Gedicht, aber strotzend vor Poesie«.

„Leben heißt, um das eigene Sterben wissen. Aber nicht so, dass man gänzlich davon überzeugt wäre“

900 Seiten, Gebunden Matthes & Seitz Verlag
Originaltitel: Papiers collés, Tome I, II et III (Französisch)
Übersetzung: Anne Weber
Erschienen: 2020
ISBN: 978-3-95757-691-0
Preis: 58,00 €

Georges Perros (1923–1978) wurde unter dem Namen Georges Poulot in einem Arbeiterviertel im Norden von Paris geboren. Früh ging er von der Schule ab, wurde Schauspieler und 1948 Mitglied des Ensembles der Comédie française. 1959 ließ er sich in der kleinen bretonischen Hafenstadt Douarnenez nieder. Seit 1953 erschienen seine Texte unter dem bretonischen Pseudonym Georges Perros in der Nouvelle Revue Française. Sein dichtes, nur Kennern bekanntes, singuläres Werk umfasst drei Bände mit Notizen, einen Gedichtband und den Gedichtroman Luftschnappen war sein Beruf. 1978 starb er nach langer Krankheit in Paris.

Seine Notizen sind Randerscheinungen, sagt er. Sie sind an den Rand eines großen Buchs geschrieben. Das große Buch ist seinem Wesen nach das Fehlende, wenn die erdachte Bibliothek endlich einen Sinn bekommen soll.

 

 

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Ich bin ein großer Anhänger von Listen. Also hier der Anfang meiner 100 Lieblingsbücher:

ja, war doch klar:

Robert Walser

„Es gibt Bücher, ... die sinken allmählich in uns hinein und hören und hören nicht auf, in uns hineinzusinken, und wir hören nicht auf, uns darüber zu wundern, dass Bücher ein so unendliches und sanftes Gewicht haben können und dass in uns solche Tiefen zu wecken sind. Was man dabei empfindet, grenzt an Glück.“

1. Robert Walser . Der Spaziergang
Mit 16 Holzschnitten von Christian Thanhäuser. Nachwort von Michail Schischkin , Suhrkamp-Verlag, 2018
Insel-Bücherei 1449, Gebunden, 117 Seiten
ISBN: 978-3-458-19449-1 - 14.- €

»Ich teile mit, daß ich eines schönen Vormittags, ich weiß nicht mehr genau um wieviel Uhr, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, den Hut auf den Kopf setzte, das Schreib- oder Geisterzimmer verließ, die Treppe hinunterlief, um auf die Straße zu eilen.« 1917 erschien Robert Walsers klassische Erzählung "Der Spaziergang"

„Wenn ich reich wäre, würde ich keineswegs um die Welt reisen. […] Mich würde eher die Tiefe, die Seele, als die Ferne und Weite locken. Das Naheliegende zu untersuchen würde mich reizen. Ich kaufte auch gar nichts. […] Nie im Leben würde es mir einfallen, in eine Droschke zu steigen. Das tun Leute, die es entweder eilig haben oder nobel tun wollen. Ich aber würde weiter gar nicht nobel tun wollen, und eilig hätte ich es schon ganz und gar nicht.“